Friedrich Wilhelm Nietzsche
Der Wanderer und sein Schatten
Friedrich Wilhelm Nietzsche

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

271

Groß und vergänglich. – Was den Betrachtenden zu Tränen rührt, das ist der schwärmerische Glückes- Blick, mit dem eine schöne junge Frau ihren Gatten ansieht. Man empfindet alle Herbst-Wehmut dabei, über die Größe sowohl, als über die Vergänglichkeit des menschlichen Glückes.

272

Opfer-Sinn. – Manche Frau hat den intelletto del sacrifizio und wird ihres Lebens nicht mehr froh, wenn der Gatte sie nicht opfern will: sie weiß dann mit ihrem Verstande nicht mehr wohin? und wird unversehens aus dem Opfertier der Opferpriester selber.

273

Das Unweibliche. – "Dumm wie ein Mann" sagen die Frauen: "feige wie ein Weib" sagen die Männer. Die Dummheit ist am Weibe das Unweibliche.

274

Männliches und weibliches Temperament und die Sterblichkeit. – Daß das männliche Geschlecht ein schlechteres Temperament hat, als das weibliche, ergibt sich auch daraus, daß die männlichen Kinder der Sterblichkeit mehr ausgesetzt sind, als die weiblichen, offenbar weil sie leichter "aus der Haut fahren": ihre Wildheit und Unverträglichkeit verschlimmert alle Übel leicht bis ins Tödliche.

275

Die Zeit der Zyklopen-Bauten. – Die Demokratisierung Europas ist unaufhaltsam: wer sich dagegen stemmt, gebraucht doch eben die Mittel dazu, welche erst der demokratische Gedanke jedermann in die Hand gab, und macht diese Mittel selber handlicher und wirksamer: und die grundsätzlichsten Gegner der Demokratie (ich meine die Umsturzgeister) scheinen nur deshalb da zu sein, um durch die Angst, welche sie erregen, die verschiedenen Parteien immer schneller auf der demokratischen Bahn vorwärts zu treiben. Nun kann es einem angesichts derer, welche jetzt bewußt und ehrlich für diese Zukunft arbeiten, in der Tat bange werden: es liegt etwas Ödes und Einförmiges in ihren Gesichtern, und der graue Staub scheint auch bis in ihre Gehirne hinein geweht zu sein. Trotzdem: es ist möglich, daß die Nachwelt über dieses unser Bangen einmal lacht und an die demokratische Arbeit einer Reihe von Geschlechtern etwa so denkt, wie wir an den Bau von Steindämmen und Schutzmauern – als an eine Tätigkeit, die notwendig viel Staub auf Kleider und Gesichter breitet und unvermeidlich wohl auch die Arbeiter ein wenig blödsinnig macht; aber wer würde deswegen solches Tun ungetan wünschen! Es scheint, daß die Demokratisierung Europas ein Glied in der Kette jener ungeheuren prophylak- tischen Maßregeln ist, welche der Gedanke der neuen Zeit sind und mit denen wir uns gegen das Mittelalter abheben. Jetzt erst ist das Zeitalter der Zyklopenbauten! Endliche Sicherheit der Fundamente, damit alle Zukunft auf ihnen ohne Gefahr bauen kann! Unmöglichkeit fürderhin, daß die Fruchtfelder der Kultur wieder über Nacht von wilden und sinnlosen Bergwässern zerstört werden! Steindämme und Schutzmauern gegen Barbaren, gegen Seuchen, gegen leibliche und geistige Verknechtung! Und dies alles zunächst wörtlich und gröblich, aber allmählich immer höher und geistiger verstanden, so daß alle hier angedeuteten Maßregeln die geistreiche Gesamtvorbereitung des höchsten Künstlers der Gartenkunst zu sein scheinen, der sich dann erst zu seiner eigentlichen Aufgabe wenden kann, wenn jene vollkommen ausgeführt ist! – Freilich: bei den weiten Zeitstrecken, welche hier zwischen Mittel und Zweck liegen, bei der großen, übergroßen, Kraft und Geist von Jahrhunderten anspannenden Mühsal, die schon not tut, um nur jedes einzelne Mittel zu schaffen oder herbeizuschaffen, darf man es den Arbeitern an der Gegenwart nicht zu hart anrechnen, wenn sie laut dekretieren, die Mauer und das Spalier sei schon der Zweck und das letzte Ziel; da ja noch niemand den Gärtner und die Fruchtpflanzen sieht, um derentwillen das Spalier da ist.

276

Das Recht des allgemeinen Stimmrechts. – Das Volk hat sich das allgemeine Stimmrecht nicht gegeben, es hat dasselbe, überall, wo es jetzt in Geltung ist, empfangen und vorläufig angenommen: jedenfalls hat es aber das Recht, es wieder zurückzugeben, wenn es seinen Hoffnungen nicht genug tut. Dies scheint jetzt allerorten der Fall zu sein: denn wenn bei irgend einer Gelegenheit, wo es gebraucht wird, kaum Zweidrittel, ja vielleicht nicht einmal die Majorität aller Stimmberechtigten an die Stimm-Urne kommt, so ist dies ein Votum gegen das ganze Stimmsystem überhaupt. – Man muß hier sogar noch viel strenger urteilen. Ein Gesetz, welches bestimmt, daß die Majorität über das Wohl aller die letzte Entscheidung habe, kann nicht auf derselben Grundlage, welche durch dasselbe erst gegeben wird, aufgebaut werden; es bedarf notwendig einer noch breiteren: und dies ist die Einstimmigkeit aller. Das allgemeine Stimmrecht darf nicht nur der Ausdruck eines Majoritäten-Willens sein: das ganze Land muß es wollen. Deshalb genügt schon der Widerspruch einer sehr kleinen Minorität, dasselbe als untunlich wieder beiseite zu stellen: und die Nichtbeteiligung an einer Abstimmung ist eben ein solcher Widerspruch, der das ganze Stimmsystem zum Falle bringt. Das "absolute Veto" des einzelnen oder, um nicht ins Kleinliche zu verfallen, das Veto weniger Tausende hängt über diesem System, als die Konsequenz der Gerechtigkeit: bei jedem Gebrauche, den man von ihm macht, muß es, laut der Art von Beteiligung, erst beweisen, daß es noch zu Recht besteht.
 << zurück weiter >>