Friedrich Wilhelm Nietzsche
Der Wanderer und sein Schatten
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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74

Das Gebet. – Nur unter zwei Voraussetzungen hatte alles Beten – jene noch nicht völlig erloschene Sitte älterer Zeiten – einen Sinn: es müßte möglich sein, die Gottheit zu bestimmen oder umzustimmen, und der Betende müßte selber am besten wissen, was ihm not tue, was für ihn wahrhaft wünschenswert sei. Beide Voraussetzungen, in allen anderen Religionen angenommen und hergebracht, wurden aber gerade vom Christentum geleugnet; wenn es trotzdem das Gebet beibehielt, bei seinem Glauben an eine allweise und allvorsorgliche Vernunft in Gott, durch welche eben dies Gebet im Grunde sinnlos, ja gotteslästerlich wird, – so zeigte es auch darin wieder seine bewunderungswürdige Schlangen-Klugheit; denn ein klares Gebot "du sollst nicht beten" hätte die Christen durch die Langeweile zum Unchristentum geführt. Im christlichen ora et labora vertritt nämlich das ora die Stelle des Vergnügens: und was hätten ohne das ora jene Unglücklichen beginnen sollen, die sich das labora versagten, die Heiligen! – aber mit Gott sich unterhalten, ihm allerlei angenehme Dinge abverlangen, sich selber ein wenig darüber lustig machen, wie man so töricht sein könne, noch Wünsche zu haben, trotz einem so vortrefflichen Vater, – das war für Heilige eine sehr gute Erfindung.

75

Eine heilige Lüge. – Die Lüge, mit der auf den Lippen Arria starb (Paete, non dolet), verdunkelt alle Wahrheiten, die je von Sterbenden gesprochen wurden. Es ist die einzige heilige Lüge, die berühmt geworden ist; während der Geruch der Heiligkeit sonst nur an Irrtümern haften blieb.

76

Der nötigste Apostel. – Unter zwölf Aposteln muß immer einer hart wie Stein sein, damit auf ihm die neue Kirche gebaut werden könne.

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Was ist das Vergänglichere, der Geist oder der Körper? – In den rechtlichen, moralischen und religiösen Dingen hat das Äußerlichste, das Anschauliche, also der Brauch, die Gebärde, die Zeremonie, am meisten Dauer: sie ist der Leib, zu dem immer eine neue Seele hinzukommt. Der Kultus wird wie ein fester Wort-Text immer neu ausgedeutet; die Begriffe und Empfindungen sind das Flüssige, die Sitten das Harte.

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Der Glaube an die Krankheit, als Krankheit. – Erst das Christentum hat den Teufel an die Wand der Welt gemalt; erst das Christentum hat die Sünde in die Welt gebracht. Der Glaube an die Heilmittel, welche es dagegen anbot, ist nun allmählich bis in die tiefsten Wurzeln hinein erschüttert: aber immer noch besteht der Glaube an die Krankheit, welchen es gelehrt und verbreitet hat.

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Rede und Schrift der Religiösen. – Wenn der Stil und Gesamtausdruck des Priesters, des redenden und schreibenden, nicht schon den religiösen Menschen ankündigt, so braucht man seine Meinungen über Religion und zugunsten derselben nicht mehr ernst zu nehmen. Sie sind für ihren Besitzer selber kraftlos gewesen, wenn er, wie sein Stil verrät, Ironie, Anmaßung, Bosheit, Haß und alle Wirbel und Wechsel der Stimmungen besitzt, ganz wie der unreligiöseste Mensch; – um wieviel kraftloser werden sie erst für seine Hörer und Leser sein! Kurz, er wird dienen, dieselben unreligiöser zu machen.

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Gefahr in der Person. – Je mehr Gott als Person für sich galt, um so weniger ist man ihm treu gewesen. Die Menschen sind ihren Gedankenbildern viel anhänglicher als ihren geliebtesten Geliebten: deshalb opfern sie sich für den Staat, die Kirche und auch für Gott – sofern er eben ihr Erzeugnis, ihr Gedanke bleibt und nicht gar zu persönlich genommen wird. Im letzteren Falle hadern sie fast immer mit ihm: selbst dem Frömmsten entfuhr ja die bittere Rede "mein Gott, warum hast du mich verlassen!"

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Die weltliche Gerechtigkeit. – Es ist möglich, die weltliche Gerechtigkeit aus den Angeln zu heben – mit der Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit und Unschuld jedermanns: und es ist schon ein Versuch in gleicher Richtung gemacht worden, gerade auf Grund der entgegengesetzten Lehre von der völligen Verantwortlichkeit und Verschuldung jedermanns. Der Stifter des Christentums war es, der die weltliche Gerechtigkeit aufheben und das Richten und Strafen aus der Welt schaffen wollte. Denn er verstand alle Schuld als "Sünde", das heißt als Frevel an Gott und nicht als Frevel an der Welt; andererseits hielt er jedermann im größten Maßstabe und fast in jeder Hinsicht für einen Sünder. Die Schuldigen sollen aber nicht die Richter ihresgleichen sein: so urteilte seine Billigkeit. Alle Richter der weltlichen Gerechtigkeit waren also in seinen Augen so schuldig wie die von ihnen Verurteilten, und ihre Miene der Schuldlosigkeit schien ihm heuchlerisch und pharisäerhaft. Überdies sah er auf die Motive der Handlungen und nicht auf den Erfolg, und hielt für die Beurteilung der Motive nur einen einzigen für scharfsichtig genug: sich selber (oder wie er sich ausdrückte: Gott).
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