Friedrich Wilhelm Nietzsche
Der Wanderer und sein Schatten
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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Die Tugenden der Einbuße. – Als Mitglieder von Gesellschaften glauben wir gewisse Tugenden nicht ausüben zu dürfen, die uns als Privaten die größte Ehre und einiges Vergnügen machen, zum Beispiel Gnade und Nachsicht gegen Verfehlende aller Art – überhaupt jede Handlungsweise, bei welcher der Vorteil der Gesellschaft durch unsere Tugend leiden würde. Kein Richter-Kollegium darf sich vor seinem Gewissen erlauben, gnädig zu sein dem König als einem einzelnen hat man dies Vorrecht aufbehalten; man freut sich, wenn er Gebrauch davon macht, zum Beweise, daß man gern gnädig sein möchte, aber durchaus nicht als Gesellschaft. Diese erkennt somit nur die ihr vorteilhaften oder mindestens unschädlichen Tugenden an (die ohne Einbuße oder gar mit Zinsen geübt werden, zum Beispiel Gerechtigkeit). Jene Tugenden der Einbuße können demnach in der Gesellschaft nicht entstanden sein, da noch jetzt, innerhalb jeder kleinsten sich bildenden Gesellschaft der Widerspruch gegen sie sich erhebt. Es sind also Tugenden unter Nicht-Gleichgestellten, erfunden von dem Überlegenen, einzelnen, es sind Herrscher-Tugenden, mit dem Hintergedanken: "ich bin mächtig genug, um mir eine ersichtliche Einbuße gefallen zu lassen, dies ist ein Beweis meiner Macht" – also mit Stolz verwandte Tugenden.

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Kasuistik des Vorteils. – Es gäbe keine Kasuistik der Moral, wenn es keine Kasuistik des Vorteils gäbe. Der freieste und feinste Verstand reicht oft nicht aus, zwischen zwei Dingen so zu wählen, daß der größere Vorteil notwendig bei seiner Wahl ist. In solchen Fällen wählt man, weil man wählen muß, und hat hinterdrein eine Art Seekrankheit der Empfindung.

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Zum Heuchler werden. – Jeder Bettler wird zum Heuchler; wie jeder, der aus einem Mangel, aus einem Notstand (sei dies ein persönlicher oder ein öffentlicher) seinen Beruf macht. – Der Bettler empfindet den Mangel lange nicht so, als er ihn empfinden machen muß, wenn er vom Betteln leben will.

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Eine Art Kultus der Leidenschaften. – Ihr Düsterlinge und philosophischen Blindschleichen redet, um den Charakter des ganzen Weltwesens anzuklagen, von dem furchtbaren Charakter der menschlichen Leidenschaften. Als ob überall, wo es Leidenschaft gegeben hat, es auch Furchtbarkeit gegeben hätte! Als ob es immerfort in der Welt diese Art von Furchtbarkeit geben müßte! – Durch eine Vernachlässigung im kleinen, durch Mangel an Selbst-Beobachtung und Beobachtung derer, welche erzogen werden sollen, habt ihr selber erst die Leidenschaften zu solchen Untieren anwachsen lassen, daß euch jetzt schon beim Worte "Leidenschaft" Furcht befällt! Es stand bei euch und steht bei uns, den Leidenschaften ihren furchtbaren Charakter zu nehmen und dermaßen vorzubeugen, daß sie nicht zu verheerenden Wildwassern werden. – Man soll seine Versehen nicht zu ewigen Fatalitäten aufblasen; vielmehr wollen wir redlich mit an der Aufgabe arbeiten, die Leidenschaften der Menschheit allesamt in Freudenschaften umzuwandeln.

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Gewissensbiß. – Der Gewissensbiß ist, wie der Biß des Hundes gegen einen Stein, eine Dummheit.

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Ursprung der Rechte. – Die Rechte gehen zunächst auf Herkommen zurück, das Herkommen auf ein einmaliges Abkommen. Man war irgendwann einmal beiderseitig mit den Folgen des getroffenen Abkommens zufrieden und wiederum zu träge, um es förmlich zu erneuern; so lebte man fort, wie wenn es immer erneuert worden wäre, und allmählich, als die Vergessenheit ihre Nebel über den Ursprung breitete, glaubte man einen heiligen, unverrückbaren Zustand zu haben, auf dem jedes Geschlecht weiterbauen müsse. Das Herkommen war jetzt Zwang, auch wenn es den Nutzen nicht mehr brachte, dessentwegen man ursprünglich das Abkommen gemacht hatte. – Die Schwachen haben hier ihre feste Burg zu allen Zeiten gefunden: sie neigen dahin, das einmalige Abkommen, die Gnadenerweisung zu verewigen.

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Die Bedeutung des Vergessens in der moralischen Empfindung. – Dieselben Handlungen, welche innerhalb der ursprünglichen Gesellschaft zuerst die Absicht auf gemeinsamen Nutzen eingab, sind später von anderen Generationen auf andere Motive hin getan worden: aus Furcht oder Ehrfurcht vor denen, die sie forderten und anempfahlen, oder aus Gewohnheit, weil man sie von Kindheit an um sich hatte tun sehen, oder aus Wohlwollen, weil ihre Ausübung überall Freude und zustimmende Gesichter schuf, oder aus Eitelkeit, weil sie gelobt wurden. Solche Handlungen, an denen das Grundmotiv, das der Nützlichkeit, vergessen worden ist, heißen dann moralische: nicht etwa weil sie aus jenen anderen Motiven, sondern weil sie nicht aus bewußter Nützlichkeit getan werden. – Woher dieser Haß gegen den Nutzen, der hier sichtbar wird, wo sich alles lobenswerte Handeln gegen das Handeln um des Nutzens willen förmlich abschließt? – Offenbar hat die Gesellschaft, der Herd aller Moral und aller Lobsprüche des moralischen Handelns, allzu lange und allzu hart mit dem Eigen-Nutzen und Eigen-Sinne des einzelnen zu kämpfen gehabt, um nicht zuletzt jedes andere Motiv sittlich höher zu taxieren als den Nutzen. So entsteht der Anschein, als ob die Moral nicht aus dem Nutzen herausgewachsen sei; während sie ursprünglich der Gesellschafts-Nutzen ist, der große Mühe hatte, sich gegen alle die Privat-Nützlichkeiten durchzusetzen und in höheres Ansehen zu bringen.
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