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Habituelle Scham. – Warum empfinden wir Scham, wenn uns etwas Gutes und Auszeichnendes erwiesen wird, das wir, wie man sagt, "nicht verdient haben"? Es scheint uns dabei, daß wir uns in ein Gebiet eingedrängt haben, wo wir nicht hingehören, wo wir ausgeschlossen sein sollten, gleichsam in ein Heiliges oder Allerheiligstes, welches für unsern Fuß unbetretbar ist. Durch den Irrtum anderer sind wir doch hineingelangt: und nun überwältigt uns teils Furcht, teils Ehrfurcht, teils Überraschung, wir wissen nicht, ob wir fliehen, ob wir des gesegneten Augenblickes und seiner Gnaden-Vorteile genießen sollen. Bei aller Scham ist ein Mysterium, welches durch uns entweiht oder in der Gefahr der Entweihung zu sein scheint; alle Gnade erzeugt Scham. – Erwägt man aber, daß wir überhaupt niemals etwas "verdient haben", so wird, im Fall man dieser Ansicht innerhalb einer christlichen Gesamt-Betrachtung der Dinge sich hingibt, das Gefühl der Scham habituell: weil einem Solchen Gott fortwährend zu segnen und Gnade zu üben scheint. Abgesehen von dieser christlichen Auslegung wäre aber auch für den völlig gottlosen Weisen, der an der gründlichen Unverantwortlichkeit und Unverdienstlichkeit alles Wirkens und Wesens festhält, jener Zustand der habituellen Scham möglich: wenn man ihn behandelt, als ob er dies und jenes verdient habe, so scheint er sich in eine höhere Ordnung von Wesen eingedrängt zu haben, welche überhaupt etwas verdienen, welche frei sind und ihres eigenen Wollens und Könnens Verantwortung wirklich zu tragen vermögen. Wer zu ihm sagt "du hast es verdient", scheint ihm zuzurufen "du bist kein Mensch, sondern ein Gott".
Der ungeschickteste Erzieher. – Bei diesem sind auf dem Boden seines Widerspruchsgeistes alle seine wirklichen Tugenden angepflanzt, bei jenem auf seiner Unfähigkeit, nein zu sagen, also auf seinem Zustimmungsgeiste; ein dritter hat alle seine Moralität aus seinem einsamen Stolze, ein vierter die seine aus seinem starken Geselligkeitstriebe aufwachsen lassen. Gesetzt nun, durch ungeschickte Erzieher und Zufälle wären bei diesen vieren die Samenkörner der Tugenden nicht auf den Boden ihrer Natur ausgesäet worden, welcher bei ihnen die meiste und fetteste Erdkrume hat: so wären sie ohne Moralität und schwache unerfreuliche Menschen. Und wer würde gerade der ungeschickteste aller Erzieher und das böse Verhängnis dieser vier Menschen gewesen sein? Der moralische Fanatiker, welcher meint, daß das Gute nur aus dem Guten, auf dem Guten wachsen könne.
Schreibart der Vorsicht. –
A: Aber, wenn alle dies wüßten, so würde es den meisten schädlich sein! Du selber nennst diese Meinungen gefährlich für die Gefährdeten, und doch teilst du sie öffentlich mit?
B: Ich schreibe so, daß weder der Pöbel, noch die populi, noch die Parteien aller Art mich lesen mögen. Folglich werden diese Meinungen nie öffentliche sein. A.: Aber wie schreibst du denn?
B.: Weder nützlich noch angenehm – für die genannten drei.
Göttliche Missionäre. – Auch Sokrates fühlt sich als göttlicher Missionär: aber ich weiß nicht, was für ein Anflug von attischer Ironie und Lust am Spaßen auch selbst hierbei noch zu spüren ist, wodurch jener fatale und anmaßende Begriff gemildert wird. Er redet ohne Salbung davon: seine Bilder, von der Bremse und dem Pferd, sind schlicht und unpriesterlich, und die eigentlich religiöse Aufgabe, wie er sie sich gestellt fühlt, den Gott auf hunderterlei Weise auf die Probe zu stellen, ob er die Wahrheit geredet habe, läßt auf eine kühne und freimütige Gebärde schließen, mit der hier der Missionär seinem Gotte an die Seite tritt. Jenes Auf-die-Probe-Stellen des Gottes ist einer der feinsten Kompromisse zwischen Frömmigkeit und Freiheit des Geistes, welche je erdacht worden sind. – Jetzt haben wir auch diesen Kompromiß nicht mehr nötig.