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XX.

 

München, 29. Oktober.

Und ich kann es doch nicht fassen. Ich kann nicht fassen, wie ich zu dem Schritt kam. Wenn ich mich ansehe, wenn ich scharf in mich hineinsehe, so ist da immer mehr und mehr Unverständliches.

Krank war ich.

Aber ich war doch klar. Ich zog mit Klarheit Konsequenzen. Ich handelte voll bewußt mit voller Absicht.

Das ist ja das Grauenvolle. Das ist das, was ich niemals verstehen werde. Denn wenn ich nur irgendwie im Affekt gehandelt hätte, in plötzlicher Leidenschaft, so wäre mir alles faßbar. Aber die lange Überlegung, diese endlose, klare, grauenvolle Überlegung, die macht mir Entsetzen.

Ich sitze jetzt oft stundenlang zusammengekauert im Stuhl und suche zu begreifen. Ich suche wie im Fieber nach einer einzigen, nach einer winzigen Entschuldigung. Ich suche mit klopfendem Herzen und voll von dem Gefühl des Ekels für mein Tun.

Und finde nichts.

Manchmal bin ich wie gebrochen. Aber manchmal versuche ich auch mit Energie, mein Tun zu verteidigen. Ich versuche mich als eine Persönlichkeit zu sehen, die das Recht zur Tat hatte. Aber das hält nicht vor. Ich breche dann nur um so kläglicher zusammen, mein kleinlicher Egoismus hatte nicht das Recht zur Tat.

Wenn man etwas ungeschehen machen könnte! Aber die große und furchtbare Gerechtigkeit in dieser Welt macht niemals ein Tun ungeschehen.

 

München, 2. November.

Togenas Name ist mir wie etwas Fremdes, wie etwas, das niemals Bedeutung haben konnte in meinem Leben. Ich versuche oft, ihn mir vorzustellen, dann sehe ich ein blasses Gesicht mit unregelmäßigen Zügen und schlechten Zähnen. Ich sehe blasse Hände.

Aber ich sehe nirgends etwas Reizvolles, nirgends etwas, was mir den Besitz wert machen könnte.

Daß ich ihn einmal liebte – ist das möglich?

Und wenn ich ihn nun wirklich liebte, wie kann die Liebe in ein paar Monaten so ganz verschwinden.

Ich verstehe das nicht.

Nichts verstehe ich mehr.

Jene Phantasien von seinem Talent und jene unerklärliche Idee, seine Retterin werden zu wollen! – Ich grüble darüber nach. Ich möchte um alles in der Welt gern die schönen Phrasen gelten lassen. Aber ich kann es nicht. Ich kann mich nicht mehr selbst belügen. Ich bin ernüchtert.

Die Ernüchterung ist nicht auszudenken, grauenvoll.

Erst jetzt vermag ich dies geliebte Buch, das wie ein Tröster ist, wieder zu schreiben. Wenn ich nicht weiß, wohin mit den Gedanken, nehme ich es vor. Aber sonst hüte ich es wie einen Schatz, schärfer noch, viel schärfer, denn wenn es gefunden würde –

Im Anfang konnte ich es nicht anrühren. Es war wie ein Mitwisser, ich wagte es nicht einmal zu verbrennen, um nicht halb verkohlte Spuren zu hinterlassen. Aber jetzt ist mir in klaren Stunden schon zumute, als würde ich ein wenig sicherer. Es gibt Minuten, wo ich fast zu hoffen wage.

Zu hoffen – was?

 

München, 10. November.

Es gibt Morgen, an denen ich aufwache und denke, alles ist nicht wahr. Es ist so grauenvoll, an sich zu erfahren, daß man vollkommen unberechtigt war, etwas zu tun, zu dem man mit großen Worten sich eine Berechtigung einredete. Grauenvoll, grauenvoll sind die Konsequenzen.

Vielleicht ist es mir selbst ein Rätsel, wie ich nun weiterleben kann. Und doch kommt mir kaum einmal der Gedanke an Selbstmord. Nur im Falle der Entdeckung würde ich zu diesem letzten Mittel greifen.

Nein, im Grunde begreife ich ja doch nichts. Im Grunde lebe ich ein Leben, das nur um alles in der Welt vergessen will. Darum will ich nicht nach Hause, will Togena nicht sehen. Dies aber wiederum macht mich zum gemeinen Verbrecher. Hätte ich die Kraft und den Mut gehabt, nach allem Togena zu heiraten und ihm zum Künstlertum hinaufzuhelfen, so hätte ich vielleicht eine gewisse Berechtigung zur Tat besessen. Mein jetziges Leben nimmt jede Berechtigung.

 

München, 11. November.

Und es verblaßt doch.

Es mußte mit der Zeit verblassen, von diesem ungeheuren Aufwand von Energie vertrieben werden. Es mußte hinter mich in das große Nichts der Vergangenheit sinken.

Es wird mir langsam klar, daß es ein Leben ohne Hoffnung nicht gibt. Vielleicht gibt es das nur für mich nicht, aber ich bin versucht, zu glauben, daß kein Mensch ohne Hoffnung zu leben vermag.

Und während ich dies schreibe, kommt mir plötzlich und scharf wie ein Messer ein anderer Gedanke. Ich möchte hören, wie ein Mensch denkt, der zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wird. Resigniert er? Auch hier glaube ich an ein Leben mit Hoffnung, Hoffnung auf Begnadigung.

Die Gedanken an Entdeckung, Sühne, Strafe kommen selten. Im Anfang war ich ständig in der grauenvollsten Angst, jetzt dünke ich mich fast sicher. Ich fange sogar manchmal leise, zaghaft noch an, mich an diesem und jenem zu freuen. Da sind Sonnentage, die mir ein bißchen Glück geben, schöne Beleuchtungen, Behaglichkeit im Hotel, angenehme Gesichter, die mich umgeben. Alles gewinnt wieder Gestalt in mir und gibt mir eine scheue Freude, die mich auch gleich wieder beschämt macht.

München ist so schön. In diesen wundervollen, blauen Herbstnebeln ist es besonders zauberhaft.

Ich gehe viel spazieren. Ich freue mich daran oder versuche wenigstens, mich daran zu freuen.

Da ist die Theatinerstraße. Ich gehe sie langsam und sehe die Menschen an mir vorüberkommen. Es sind lustige Menschen. Sie freuen sich, daß es einmal nicht regnet, und daß sie nun in der Stadt ihre hübschen Kleider zeigen können. Männer wie Frauen haben einen Zug harmloser Eitelkeit, harmloser Gefallsucht an sich. Sie freuen sich, daß sie so sind, wie sie sind.

Ich gehe über den Odeonsplatz nach der Ludwigstraße. Die Luft ist klar und frisch. Welke Blätter tanzen zum Hofgartentor hinaus, tanzen über den Asphalt. Das Siegestor steht sehr fern in einem Duft von sanften Herbstnebeln. Die kahlen Häuserreihen scheinen in sich zurückgezogen, scheinen hochmütig, ein wenig altväterisch und murrig.

Ich nehme eins der hübschen Autos und fahre ein Stückchen die Leopoldstraße hinab; ich kehre um, wenn mir danach zumute ist. Ich bekomme Sehnsucht nach dem warmen Hotelzimmer. Das Auto hastet vor das schöne Portal des Regina-Palastes, der kleine, adrette Boy springt heran, ich steige aus.

Aber während die Jungfer mir beim Umkleiden hilft, kommt plötzlich die alte, verzweifelte Stimmung über mich. Ich werde heftig. Ich werfe mich im Frisiermantel auf die Chaiselongue, ich weine. Ich bin mit mir selbst in einer Disharmonie, die entsetzlich ist. Ich bin ein Mensch, den ich hasse, den ich nicht verstehe, vor dessen Tun ich mit Abscheu zurückschrecke. Ich werde sentimental, meine Tränen fließen immer reichlicher. Dann plötzlich sind sie versiegt. Ich raffe mich auf und versuche gleichgültig zu erscheinen. Ich versuche, mir selbst etwas vorzuschauspielern. In mir ist krampfhafte Angst. Meine Kehle schnürt sich zu, das Herz klopft wahnsinnig, setzt aus. Wenn draußen Stimmen näher kommen, so stürze ich auf die Tür und halte sie zu.

Oder da steht unten ein Mensch, der in die Höhe sieht, gerade zu meinen Fenstern hinauf. Ich habe das Gefühl, als hätte er all die Tage schon dort gestanden. Plötzlich erinnere ich mich, daß er mir auf der Straße folgte. Ich meine mich ganz genau zu erinnern, daß er unten in der Halle war, als ich dort saß.

Mein Entsetzen erreicht einen Punkt, der unbeschreiblich ist. Ich werfe mich auf den Boden, ich wälze mich, ich unterdrücke das Schreien nur mit äußerster Gewalt.

Eine halbe Stunde darauf sehe ich aus dem Fenster. Der Mensch ist fort, ich weiß, daß ich nur wieder an den grauenhaften Halluzinationen litt.

Ja, wenn ich immer die Gedanken so klar beisammen haben könnte wie jetzt, da ich dies schreibe. Wenn ich immer so bestimmt und sicher wüßte, daß es nur Halluzinationen sind, an denen ich leide. Aber in den dunklen Stunden meines Lebens weiß ich nicht, was Wachen und was Träumen ist. Ich weiß dann nur, daß eine furchtbare Katastrophe mir begegnen kann; kann! Es ist unwahrscheinlich, daß sie mir begegnet.

Vielleicht gehöre ich doch in eine Anstalt. Aber dort hielt ich das Leben nicht mehr aus. Dort war eine Kontrolle, die den mir drohenden Verfolgungswahnsinn begünstigte. Ich weiß anderseits, daß ich am sichersten daheim bin. Ein ruhiges Leben in der Rauchstraße erregt den wenigsten Verdacht.

Aber Verdacht besteht überhaupt nicht.

Das, worüber ich mir jetzt am wenigsten klar bin, und worin ich ein schleichendes Krankheitssymptom wittere, ist meine vollkommene Gleichgültigkeit C. T. gegenüber. Warum kämpfe ich nicht weiter um ihn!

Ich beantwortete nicht einmal seinen letzten Brief. Er steht mir fern, fern wie ein Fremder. Wenn er käme und sich mir anböte, ich glaube, ich würde lachen.

Dies ist so vollkommen unerklärlich, daß ich vor mir selbst erschrecke. Ich frage nur, wann war ich krank. Damals oder jetzt?

 

München, 18. November.

Langsam, langsam kehre ich zur menschlichen Gesellschaft zurück. Ich lerne die Stammgäste des Hotels kennen. Eine liebenswürdige, ältere Amerikanerin, die mit einer Gesellschafterin reist. Ein englisches Ehepaar, nicht mehr jung, elegant. Eine Sängerin, die einen schönen Hund besitzt. Eine nette, deutsche Familie, Graf und Gräfin Gaal, deren älteste Tochter sich mit allerliebster Naivität an mich anschließt.

Es tut mir wohl, fremde Menschen zu sehen und zu sprechen. Sie wissen nichts von mir. Sie nehmen mich einfach hin als das, was ich bin. Sie sind liebenswürdig, weil ich liebenswürdig bin.

Ganz Nebensächliches sprechen wir, wir sind Fremde. Aber ich fühle die Einsamkeit weniger, wenn ich hin und wieder ein Wort wechsle.

 

München, 3. Dezember.

Plötzlich kommt Hasso hierher.

Ich sitze in der Halle. Es ist Abend, die Musik spielt. Ich habe allein gegessen; aber in der Halle kamen Lady Crutt und ihr Gatte zu mir heran.

Da kommt ein Boy und berichtet mir, daß Herr von Beer soeben hier abgestiegen sei.

Ich sehe auch schon seine Gestalt im Vorraum des Hotels. Hastig stehe ich auf, entschuldige mich und gehe zu ihm.

Das war kein angenehmer Abend.

Dieser Mann, der, je älter er ist, um so steinerner und härter wird, dieser verzweifelt engherzige Bürokrat wollte mich »zu meiner Pflicht« zurückrufen. Meine Pflicht wäre in der Rauchstraße. Er brauchte harte Worte, und ich saß da wie aus Stein.

Er ereiferte sich, er kam dazu, mich zu bitten.

Ich sagte ihm: »Hasso, du kannst mich nicht verstehen. Suche einmal in deinem Leben nicht hart zu verurteilen, wenn du nicht verstehst. Du bist der Meinung, daß ich meiner Pflicht gerecht werden soll. Ich bin der Meinung, daß ich auch ein Recht auf mich selbst habe. Ich bin ich und nicht nur Fritz Graniers Frau. Wenn sich in mir ein Abscheu gegen das Leben in Berlin ausgebildet hat, so muß ich für mich leben und für mich in der Einsamkeit meine Zufriedenheit suchen dürfen!«

Er entgegnete, daß ich dies Recht nicht hätte. Außerdem aber sei Granier sogar bereit, um meinetwillen in einer anderen Stadt zu leben. Seine Anwesenheit in den Fabriken sei nicht täglich erforderlich. Hasso sagte weiter wörtlich: »Er liebt dich, Lori. Ich bin erstaunt, wie sehr er dich liebt. Denke daran, daß wir wenig Menschen in der Welt besitzen, die an uns hängen. Die, die uns lieben, müssen wir festhalten, sonst sind wir, wenn wir alt sind, verzweifelt arm.«

Ich sehe alles ein, und doch ist es mir unmöglich, zurückzukehren. Da ist die Wand; da ist dieses Grauenvolle, das mich von meiner Vergangenheit trennt. Ich sehe nur eine Lebensmöglichkeit in vollkommen neuen Umgebungen. Das, was war, darf einfach nicht mehr für mich existieren. Nur so kann ich bestehen.

Ich sagte Hasso das, nicht genau so, aber ähnlich, abgeschwächt. Da trat er auf mich zu und fragte mit einer Miene, die noch mein Herz stocken läßt, wenn ich an sie denke:

»Welchen Grund hast du, Lori, daß du so fühlst?«

Der Schlag kam so unerwartet, daß ich mich um ein Haar verraten hätte. Aber ich behielt doch Besinnung genug, um ihm zu entgegnen, daß ich keinen Grund angeben könnte. Ich sei krank oder überempfindlich.

Unsere Unterhaltung schloß mit einem Mißakkord. Ich weiß, daß wir uns verloren haben. Haben wir uns denn je besessen?

Aber eines frage ich mich zitternd: was weiß er? Er trat auf, als wüßte er alles. Es beunruhigt mich. Ich werde ihn morgen fragen.

 

München, 4. Dezember.

Er weiß nichts. Er hatte sich nur etwas zusammenkombiniert. Wie stark war ich. Ich fragte ihn furchtlos und dreist gerade das, was mir das Grauenvollste zu fragen war. Und da sah ich, wie leicht ein Mann wie er zu düpieren ist. Er ward fast verlegen.

Ich sagte hart und kühn: »Also so weit ist es mit dir gekommen, daß du mir die größten Gemeinheiten unterstellst!«

Er zwang sich zu guten Worten, die nicht aus seinem Herzen kamen. Ich spielte die Empörte. Wir schieden lau.

Als er fort war, mußten sie den Doktor für mich holen.

 

München, 5. Dezember.

Dieser Arzt hier ist der erste, verständige Mann, den ich kennen lernte. Er ist groß und blond; das Gesicht fast kindlich, mit verstehenden Augen und einem herben, klugen Munde.

Jedenfalls ist er das Gegenteil dessen, was ich so sehr verachte und durchschaue, das Gegenteil eines Charlatans. Er nahm mich nicht »in seine Behandlung«, sondern er verordnete kurz das, was er für wünschenswert hielt. Dann erklärte er: »Gnädige Frau, schaffen Sie sich alles vom Leibe, was Sie irgendwie beunruhigen könnte. Sie sind gesund, nur Ihre Nerven haben gelitten; aber wenn Sie sich selbst in große Ruhe begeben, so können Sie alles auslachen, was Ihnen die Ruhe stehlen will. Da ich sehe, daß Sie über Energie verfügen, so rate ich Ihnen nichts anderes, als diese Energie zu gebrauchen. Gut wäre Ihnen außerdem eine geregelte Tätigkeit.«

Eine gute Meinung, die er von mir hat, nicht wahr? Ich bin ihm dankbar dafür.

 

München, Weihnachten.

Ein Brief von Togena!

Ein Brief aus jener Welt, die ich vergessen will.

Das Ungeheure und Unfaßbare ist doch, daß ich alles tat, um nichts und gar nichts zu erreichen. Da, wo ich einsetzen mußte mit der ganzen Kraft meines Ichs, da versagte ich vollkommen; innerlich versagte ich. Und dieser Mensch, nach dem ich schrie, der alles in mir reizte, der ward mir mit dem Augenblick, wo er vielleicht erreichbar wurde, langweilig.

Ich sinne auf eine Erklärung, aber es gibt nur die Erklärung, daß all meine Liebe, die ich für groß und wahr hielt, ein ganz abscheulicher Irrtum war. Ich gönnte einer Frau nicht den Erfolg, ich wollte das Eigentum der anderen für mich haben.

Diese Erklärung kann nicht stichhaltig sein. Ich muß doch tiefer greifen und mich selbst nicht so oberflächlich behandeln. Ich muß an die Grenze gehen, an der des Menschen Überlegung zurückbleibt, um den Instinkt herrschen zu lassen.

Was ich tat, muß instinktiv getan worden sein. Unter einem Zwange, unter dem Zwange einer ungeheuren gierigen Selbstsucht. Hätte ich in guter Leitung gestanden, in eigener oder in fremder, so wäre niemals ein Unrecht geschehen. Aber ich lebte in solch einem Wohlleben, in solch einer Fülle, daß Übersättigung binnen kurzem eintreten mußte. Ich war ganz unbedeutend geworden, nur einem gewissen Triebe folgend, der mehr und mehr in mir Oberhand gewann. Die Lüsternheit unserer Zeit packte mich, Sorgen waren fern, kein Druck und keine Last beschwerte mich, kein ernstes Streben gab mir den festen Halt. Da lag der große Stein des Anstoßes, den ich als unüberwindliches Übel empfand in einem Menschenkinde. Ich räumte den Menschen aus dem Wege.

O, wir törichten Frauen, wir zittern vor jedem bißchen Leid. Wir klagen hysterisch, anmaßend und eingebildet, wenn es uns zu gut geht. Und kommt ein wirkliches Leid, eine Schuld, so nehmen wir das durchaus jämmerlich auf. Wir fürchten die Entdeckung. Wir entsetzen uns davor. Wir berauschen uns dabei in unserer jämmerlich eingebildeten Anschauung vom Interessantsein.

Ich habe ein Leid, und das Grauenvolle stellt sich nach und nach erst ein, das ist das Entsetzen vor dem, was ich tat. Der Gedanke an das kleine blonde Mädchen, das an der Beerdigung des Vaters die schmalen Arme hob und aufschrie, das jetzt ganz einsam in der Welt steht, und dessen ganzes Wesen doch eine Mutter brauchte wie kein anderes.

O, über diesen Gedanken!

Er läßt mich keine Ruhe finden und keine Erlösung. Und wenn ich Zerstreuung suche, so begegne ich mir schon jetzt auf Pfaden, die schlüpfrig sind. Ich suche die Betäubung. Es gibt keine harmlose Zerstreuung, die mich ablenkt. Es gibt nur immer neue Reizmittel, immer Veränderung. Jedes neue Reizmittel muß schärfer sein, um mich zu betäuben.

 

München, 24. Januar.

Wir packen. Ich fahre heute abend noch mit dem Expreß nach Paris. Es ist eine Flucht.

Jawohl, Lori Granier, wenn man bis über den Hals im Sumpf steckt und das Wasser gurgeln hört, wenn der Graf Gaal die Halle verläßt, in die Lori Granier tritt, und zu seiner Frau etwas von »scheußlichem Irrtum« sagt, so flieht man.

Wie habe ich gelitten in dieser letzten Zeit!

Still! still! In Paris bin ich wieder die Dame, die den Kopf hoch trägt, die verächtlich schaut. Dort ist kein Graf Gaal und keine Lady Crutt.

Still! Ich hasse München.


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