Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Dann kam der Juni.
Er war heiß, heiß, erdrückend. All das schöne, sanfte Grün des Frühlings dunkelte rasch, die Blüte der Akazien war dahin in ein paar einzigen Tagen.
Heiße Nächte kamen.
Es stiegen drohende Wolken auf, und fern rollte der Donner. Näher rollten die Donner. Eine Flut stürzte vom Himmel, die Blitze zuckten unausgesetzt in wilder, greller Helle. Aber der Morgen war wieder heiß und der Mittag unerträglich, und kein Abend brachte Kühle.
Lori saß bei den dicht verhangenen Fenstern. Sie hatte es mit fast verschlagener List durchgesetzt, die Zimmer erträglich kühl zu halten. Granier bewunderte das sehr, er sagte: »Wirklich, Lori, als Hausfrau bist du vorbildlich.«
Sie lächelte. »Deine Mutter sagt, daß ich überhaupt nichts von dem Wesen einer Hausfrau verstände.«
»Ja, aber sie weiß auch nicht, wie verschieden unser Haushalt von dem ihren ist. Sie denkt noch immer, daß diejenige Hausfrau, die am meisten im Haus herumläuft und ihren Dienstboten Standpauken hält, die beste ist. Sie weiß nichts von der Stimmung eines Haushalts wie der deine.«
»Und du weißt etwas davon? Wer hat dich darauf gebracht?«
»O, Lori, so etwas fühlt man doch selbst! Ich weiß ganz genau, daß kein Haus in ganz Berlin so vollendet ästhetisch geführt wird. Ja, mein Kind, man ist auch nicht direkt ungebildet. Man merkt auch dies und jenes. Ich weiß, der Haushalt meiner Mutter riecht nach Seife und ist nicht im geringsten geschmackvoll. Er leidet gewissermaßen an einer Massigkeit in jeder Hinsicht. Das kommt daher, weil meine guten Eltern mit nichts begannen. Nun finden sie kein Maß. Sie lebten am liebsten noch in ihren zwei Zimmern mit ihren alten Möbeln. Die neuen Möbel, Kind, sind für sie im Grunde nur unbequeme Respektspersonen.«
Er sprach noch ein bißchen weiter. Seine Laune war hell und sonnig, denn er hatte aus Lori herausgehört, daß sie beabsichtigte, in den nächsten Tagen auf ihr Landgut zu fahren. Ihr war Berlin zu heiß, oder irgend etwas anderes trieb sie fort. Jedenfalls aber, das empfand er deutlich, wollte sie fort.
Gerade, als wüßte sie seine Gedanken, fing sie plötzlich an, davon zu reden.
»Was meinst du, wenn ich während dieser unnatürlichen Hitze nach Braunshagen gehe?« sagte sie. »Es ist auf dem Lande doch immerhin kühler.«
»O gewiß, dort wird es kühler sein, ich wollte, ich könnte hin,« seufzte er.
Sie lehnte sich zurück. Ihr Augen schauten an ihm vorbei. »Ich habe wirklich Sehnsucht nach Braunshagen.«
»Aber du wirst dich langweilen. Nimm doch wenigstens Bubi mit.«
»Um Gottes willen! Ich werde dir doch das Kind nicht fortnehmen. Ich weiß, daß du dann keine ruhige Stunde hast und fortgesetzt nach Braunshagen telephonierst.«
»Aber Lori, wenn du ganz allein bist, das ist doch nichts für dich!«
Sie sagte kühl: »Ich will allein sein!« Und sie dachte: Ja, ja, ich will allein sein. Ich will nichts mit diesem elenden Menschenvolk zu tun haben. Ich habe dies Leben satt, so satt. Wenn man einem Menschen vertraut, wenn man sich ihm nähert, was hat man davon? Was habe ich davon, daß ich Togena mein Haus öffnete, daß ich zu ihm war, wie eine Mutter zu ihrem Kinde? Was habe ich vom ganzen Leben? Ich bin betrogen, fühle mich betrogen.
Ihre Betrachtungen ließen sie bitter lächeln, er sah es. Er sagte: »Du bist wirklich angegriffen, Kind, geh' nur aufs Land. Erhole dich, du brauchst es. Wirklich, man sieht es dir an.« Und er dachte: Wenn sie geht, bin ich mit Bubi allein. Sie fehlt wohl, ihr Duft fehlt und ihre Schönheit, aber gemütlicher ist es ohne sie. Und man wird alt, man wird bequem, man will seine Gemütlichkeit haben. So ist das Leben! Eine schöne Frau ist recht angenehm, aber bequem ist sie nicht. Eine häßliche wäre vielleicht bequem und würde doch alles durch ihr Wesen verderben. Es gibt nirgends Vollkommenheiten. Auch er lächelte, behaglich, breit. Er lächelte wie jemand, dem etwas Gutes einfällt.
Nach einer Weile sagte er: »Und wann willst du reisen?«
Sie war schon ganz in ihre Pläne vertieft. Sie war schon in Braunshagen. Achselzuckend erwiderte sie: »Nun, dann schon so bald als möglich, dann womöglich schon morgen.«
Es blieb heiß, heiß, heiß!
Man zählte die Tage. Man dachte: jetzt hat es zehn Tage hintereinander diese unnatürliche Temperatur gegeben. Einmal muß es sich doch ändern. Einmal muß der Regen kommen, der singende, unablässige Landregen, der allen Staub und alle Hitze fortnimmt. Aber es ward nur noch heißer.
Lori war nach Braunshagen abgereist. Sie hatte im letzten Augenblick noch wieder zu zögern begonnen. Im letzten Augenblick, als ein Brief von Togena kam, der irgendeine, Granier wußte nicht welche Mitteilung enthielt; da hatte sie gesagt: Vielleicht ist es in Braunshagen auch unerträglich. Sie hatte noch ein paar Vielleichts zur Hand gehabt. Und dann war sie doch gefahren. Sie hatte eine mündliche Entschuldigung an Togena hinterlassen, daß sie ihm leider nicht mehr rechtzeitig Nachricht von ihrer Abreise hätte geben können. Das sollte ihm ausgerichtet werden, wenn er etwa am Nachmittag käme.
Wenn er etwa käme, hatte Lori gesagt.
Granier war sehr erstaunt darüber. Er hatte es nicht für möglich gehalten, daß zwischen seiner Frau und Togena nur ein so loser Konnex bestand. Plötzlich empfand er, unbewußt fast, eine intensive Schadenfreude Togena gegenüber, vermischt mit einem kleinen, gutmütigen Mitleid. Er nahm sich vor, Togena selbst zu empfangen, ihm den Auftrag persönlich zu sagen und zu beobachten, welch ein Gesicht der Künstler machen würde.
Es war doch still im Hause ohne Lori. Es fehlte etwas sehr Kostbares, etwas wie ein strenges, fast gefürchtetes Heiligtum. Bubis kleine, dünne Stimme erklang wohl manchmal, aber sie konnte durchaus nicht durchdringen. Sie blieb immer wie ein leerer Schall. Granier aß mit dem Kinde den Lunch. Das war lebhafter als sonst, denn Vater und Sohn hatten sich viel zu erzählen. Der Vater hatte von seiner Kindheit zu erzählen, wie er den weiten, weiten Weg zur Schule allein zurücklegen mußte, und wie er im Winter fror, weil sein Röckchen zu dünn war, und wie es verboten war, daheim auf dem Sofa zu sitzen. Da saß nur der Vater abends, wenn er recht müde war, die Mutter nie, denn der Überzug sollte ein ganzes Leben lang halten. Der kleine Dreijährige hörte diese Geschichten, die er alle schon kannte, leidenschaftlich gern. Er fand es nicht einmal wunderbar, daß der Vater so arm gewesen war. Das war so, er kannte es nicht anders als so.
Um halb fünf, ziemlich pünktlich, erschien Togena.
Er war blaß, mit müden Augen, er war augenscheinlich abgehetzt.
Granier trat ihm entgegen. Er fühlte plötzlich keine Schadenfreude mehr, nur Mitleid. Liebenswürdig sagte er: »Meine Frau entschloß sich ganz plötzlich, auf unser Landgut zu fahren. Sie hatte leider nicht mehr Zeit, Ihnen irgendwelche Nachricht –«
Togena unterbrach ihn rasch: »O, bitte, Herr Granier, es war auch wirklich durchaus keine Nachricht notwendig. Ich stehe tief in der Schuld Ihrer Frau Gemahlin, indem ich wirklich so außerordentlich häufig unpünktlich war, allerdings nicht immer durch eigene Schuld, denn ich bin ungeheuer beschäftigt. Ich finde kaum Zeit für mich selbst.« Er lächelte, während er sprach, alle Müdigkeit schien plötzlich aus dem Antlitz geschwunden. Er machte eine zufriedene, fast fröhliche Miene.
Wie soll man daraus klug werden – dachte Granier. Er war einsilbig, während Togena munter weiter sprach. Er fragte nach Bubi. Er ließ sich Bubi hereinrufen und machte Spaß mit ihm. Er lachte mit dem Kind und zeigte ihm allerlei Kunststücke, die seine gelenkigen Finger machen konnten. Graniers Herz war vollkommen gewonnen.
»Hören Sie, Togena,« sagte er jovial und lustig, »wir sind uns bisher immer ein bißchen aus dem Weg gegangen. Warum eigentlich? Wir können doch ebensogut Freundschaft halten?«
Togena sah ihn erstaunt an. »Aber ich bin Ihnen doch niemals aus dem Weg gegangen!«
»Sie mir wahrscheinlich nicht, aber ich Ihnen. Wissen Sie, der Mann meiner Frau zu sein, ist außerordentlich schwer. Sie ist eben eine schöne Frau, da traut man keinem Mann. Und dann hat sie eine Art, mir so quasi zu zeigen, daß ich eigentlich überflüssig bin, wenn sie ihre Freunde bei sich hat. Sie sagt ja nichts, eben, sie sagt gar nichts. Man kann sich also nicht einmal dagegen auflehnen. Es ist aber ganz verteufelt schwer.«
Sie lachten beide lustig auf, und Granier klopfte Togena auf die Schulter. »Es freut mich aber doch, daß Sie ein so netter Mensch sind. Nun? Und Sie wollen schon aufbrechen? Können Sie nicht noch eine kleine Flasche ganz, ganz leichten Mosel mit mir trinken? Wissen Sie, ich hab' da einen Jahrgang im Keller, ich sag' Ihnen, das ist was. Der ist leicht und sanft und kühlt bei der Hitze.«
Aber Togena blieb stehen.
»Ich habe nämlich,« sagte er, »Birons versprochen, am Nachmittage herauszukommen. Ich hatte es versprochen. Man muß halten, was man verspricht, nicht wahr? Namentlich einem Manne gegenüber wie Biron!«
»Das ist selbstverständlich.« Granier schien ein wenig enttäuscht. Er schien auch erstaunt über die sonderbar verlegene, unfreie Miene, die Togena wieder zeigte. Aber plötzlich klärte sich Graniers Gesicht. »Wissen Sie was, mein Lieber, ich fahre mit Ihnen zu Birons. Ich habe sowieso an diesem Nachmittag nichts vor und wollte längst einmal hin. Es sind doch zu famose Leute. Und ich störe ja doch nicht. Wenn Sie vorspielen wollen, setze ich mich still in ein Eckchen und höre zu. Kommen Sie, kommen Sie, wir fahren zusammen heraus. Das ist ein guter Gedanke.«
Birons bewohnten draußen in der Hardenbergstraße, ganz nahe am Knie, den dritten Stock in einem älteren, gemütlichen Hause. Im Anfang hatte Josephine gemeint, sie könnte unmöglich all ihre Möbel in die fünf kleinen Zimmer hineinbringen. Sie hatte es überhaupt nicht für möglich gehalten, wie man in dem großen, hastigen Berlin leben konnte. Aber ihre freundliche, immer willige Natur hatte sich bald an alles gewöhnt. Es gab auch Schönheiten hier. Da war der Blick von dem Balkon die breiten Straßen hinab. Die breite, gerade Hardenbergstraße, die sauber und weiß der Kirche zulief. Sie hatte eine eigene, vornehme Stimmung. Sie erhielt durch die Blumeneinfassungen in der Mitte, durch die neuen, eleganten Häuser einen ganz besonderen Reiz. Den kühlen Reiz der Straße in der großen Stadt. Man mußte sich erst an ihn gewöhnen, ihn sehen lernen, aber dann war er da. Es gab so wundervolle Beleuchtungen, morgens, wenn der Kirchturm aus dem Nebel stieg, abends, wenn weit hinter den tausend, tausend Häusern die Sonne schwand und alle Straßen, alle Häuser in sanftes Gold getaucht schienen.
Und zur rechten Hand führte die Berliner Straße zwischen dichten, dichten Bäumen dem Schloß Charlottenburg zu. Diese Straße hatte nicht die Stimmung der anderen, die mitten in dem modernen Berlin zu stehen schienen. Sie träumte noch von alten Gärten, alten Villen, sie träumte von der Zeit, da sie Chaussee war und die schönsten Kutschen auf ihr zum Schloß fuhren oder die Stellwagen Sommergäste nach Charlottenburg brachten, nach einem kleinen, gemütlichen, bäurischen Charlottenburg. Jetzt war sie längst breite Straße der Großstadt, auf der eilig die Elektrischen liefen, die Autos, die Droschken, auf der abends die Ladenmädchen ihren Bummel hatten, und nur die wunderschönen, alten Bäume erinnerten an die entschwundene Zeit.
Die Bironschen Kinder standen auf dem Balkon und begossen ihre Blumen. Rote Geranien und ein paar Fuchsien, die immer einen verzweifelten Kampf gegen Staub und Ungeziefer zu kämpfen hatten. Die Geranien mit ihren haarigen und festen Blättern waren praktischer veranlagt, an die wagten die häßlichen Tiere sich nicht heran. Und den Staub konnte man abwaschen. Trotzdem waren die Fuchsien als selbstgezogene Pflanzen die Lieblinge. Sie wurden sehr gut behandelt, und es war eigentlich undankbar von ihnen, daß sie immer wieder Blattläuse bekamen.
Inge sagte: »Wir müssen Ameisen sammeln und auf sie setzen. Die Ameisen melken sie dann wie Kühe. Das möchte ich sehen.«
»Mach' lieber deine Schürze nicht naß,« antwortete Veronika. »Mütterchen muß sonst wieder schelten. Und das mit den Ameisen ist nichts. Man müßte ein Tier haben, das die Blattläuse frißt.«
Die Kleine jubelte: »Ach, eine Eidechse!«
»Denkst du, die bleibt oben auf unserem Balkon?« sagte Veronika. »Die klettert gleich herunter und läuft um die Ecke zur Kurfürstenallee und immer weiter zum Tiergarten, wenn sie Glück hat und kein böser Junge sie fängt.«
Die kleinen Mädchen stellten ihre Gießkannen fort und setzten sich dann auf die Gartenstühle gegen die warme Sonne. Veronika nahm ein Buch vor, aber Inge legte die kleinen, nackten Arme in den Schoß und sah in die Wolken. Es war ihr im Grunde unbegreiflich an der Schwester, daß sie immer lesen konnte. Lesen, so fühlte Inge, war eine Arbeit. Man mußte stets so viel dazwischen denken, lauter Sachen, die durchaus nicht zu dem Buch gehörten, die aber gleichsam groß und breit in der Luft zu stehen schienen und unrettbar durchdacht werden wollten.
Dagegen war es wundervoll, den weißen Wolken nachzusehen, die so still über den Himmel zogen. Es war wundervoll, sich vorzustellen, was diese Wolken alles sahen und gesehen hatten und noch sehen würden.
Dabei wiederholte sich in ihr immer und immerzu ein Wort, das sie an diesem Morgen in der Schule hörte und dessen Bedeutung so absolut interessant war, daß es nicht vergessen werden konnte.
Triebsand.
O, Triebsand.
Etwas Schreckliches war das. Man ging ganz gemütlich spazieren, auf einmal kam eine Triebsandstelle, und da versank man. Erst bis an die Knie, dann weiter und weiter. O, jetzt ging es schon über den Magen. Es war wie Wasser nur viel schlimmer, denn das Wasser verschluckt den Menschen schnell. Da gab es kein solches Mühen und Strampeln und Entsetzen. Über den Mund ging der Sand schon, über den Kopf hinaus. Jetzt kamen nur noch ein paar verzweifelte Finger zum Vorschein.
Und der arme Mensch sank tiefer, tiefer, tiefer. Er war nun wohl schon tot. Immer tiefer sank er noch. Da unten war es schrecklich heiß, denn in der Erde war das große Feuer. Früher dachte jeder Mensch, da wäre die Hölle. Und warum sollte sie da eigentlich auch nicht sein? »Veronika, warum soll die Hölle nicht gerade in der Erde sein?«
Veronika las und sagte das, was ihr am bequemsten war. »Wir wissen nicht, wo die Hölle ist.«
Inge dachte weiter. Natürlich gab es nur wenig Stellen, wo der Triebsand war. Aber er war sogar irgendwo auch in Deutschland. Sonst kamen die Sachen, die so ganz entsetzlich und interessant waren, niemals in Deutschland vor. Die feuerspeienden Berge und die schrecklich hohen, brausenden Wasserfälle, und die Berge, die man nicht in einer Woche ersteigen konnte, wenn man auch immerzu und immerzu ging.
Aber der Vater kannte das alles. Der Vater kannte überhaupt die ganze Welt! Inge erschauerte vor Ehrfurcht davor, daß der Vater Europa und Asien und Amerika und Afrika und sogar auch das ganz furchtbar weit entfernte Australien kannte.
Wie er so alt war wie sie, kannte er das natürlich noch nicht. Da kannte er nicht einmal Berlin, sondern lebte wunderschön und behaglich mit seinen Eltern auf der Oberförsterei. Er hatte es sehr gut, besser als alle Kinder in Berlin. O ja, er hatte es gut. Hinauslaufen ohne Hut war erlaubt und das Barfußgehen sogar auch, und Fischen und Krebsen und mit der kleinen Flinte böse Vögel schießen.
Und dann kam das Leben immer schöner, weil er auf ein Schiff gehen und Seeoffizier werden durfte. Auf den Fahrten lernte er nun alles kennen. Von Korallen konnte er erzählen, die eigentlich Tiere sind, was aber so ohne weiteres niemand ahnen kann. Und vom Taifun! Was das schon für ein Wort war, so gierig und schrecklich. Die Portiersfrau müßte Taifun heißen.
Sie hatte sich das gerade sehr deutlich und mit Freude ausgedacht, da hörte sie drinnen Togenas und Graniers Stimmen. Beide Kinder standen rasch auf und liefen in das Zimmer.
Inge kam in stürmischer Freundlichkeit auf Togena zu. Sie rief schon von weitem: »Den ganzen Tag habe ich schon gedacht, ob Sie wohl zu Väterchen kommen würden. Ich habe mich so gefreut auf heut', und ich kann meine Etüde. Sie werden hören, es geht schon ganz fix. Aber die linke Hand ist faul, und manchmal geht die rechte schneller, aber nicht oft, wirklich nicht.«
Togena sprach freundlich und lustig mit ihr. Er war, das sah Granier sofort, ganz und gar zu Hause in diesen Räumen. Schon sein Eintreten war anders, als sein Eintreten ins Graniersche Haus. Hier hatten die Bewegungen nichts Gezwungenes, sie waren nicht linkisch und wie unter einer lästigen Kontrolle.
Dieses Haus gab ihm Sicherheit, es ließ ihn empfinden, daß wahre Freundschaft hier sei, die ihn nahm, so wie er war. Und während Granier sich freundlich von Veronika ausfragen ließ, was Bubi täte, und wie es Bubi ginge, kamen ihm noch allerlei Gedanken über den Wert der Menschen und die gegenseitige, recht unvollkommene Kenntnis ihrer Empfindungen. Im Grunde, ja im Grunde kannte man sich doch in keinem Menschen aus. Man tappte im Dunkeln, man konnte nicht einmal ahnen, was die, die man für Freunde hielt, dachten. Ob sie uns wirklich liebten, ob sie wirklich Freunde waren! Man sieht sich so sehr anders, als andere Menschen uns sehen. Ja, wenn man das Glück hatte, wie Biron, eine so treue Gefährtin zu haben! Dies Glück mußte köstlich sein. Es mußte das Dunkel lichten oder wenigstens fern hinausrücken. Köstlich mußte das sein.
Und Granier betrachtete Frau Josephine Biron, die gerade eintrat. Sie war, wie immer, frisch, sonnig, prächtig. Er betrachtete ihre liebe Art, die Gäste zu begrüßen, sanft sich dann über ihren Gatten zu beugen.
Und wie sie die Kinder anrief: »Alle Bücher und Hefte liegen bunt durcheinander auf dem Tisch. Wer hat seine Schularbeiten noch nicht fertig gemacht!« Wie lustig das klang, gar nicht ermahnend, nur frisch und freundlich.
Beide Kinder lachten. »Ich, ich! Wir mußten die Blumen doch erst gießen!«
»Ja, aber nun rasch ins Kinderzimmer, und jede zeigt nachher ihre Arbeit vor. Wer seine Sache gut gemacht hat, darf zuhorchen, wenn Herr Togena spielt.«
»O!« Das war ein Jauchzen. Beide Kinder stürmten wild hinaus. »Wart', wart', wart'!« schrie Inge, denn Veronika war vorausgelaufen.
Jedes Haus hat seine Unterhaltung, sagte einmal Lori. Sie war stolz darauf, daß in ihrem Hause ernste Dinge besprochen wurden, daß Künstler und andere bedeutende Menschen ihre Meinungen austauschten und Probleme erörterten.
Bei Birons war die Unterhaltung frisch; man gab sich, wie man war. Niemand machte Anstrengungen, interessant zu scheinen, und nur der absolute Mangel jeder Trivialität hob die Unterhaltung über das gewöhnliche Maß hinaus. Man sprach über die Hitze, über Loris plötzlichen Entschluß, fortzugehen.
Man lobte das, tadelte auch die Schattenseiten davon, und Josephine sagte frisch, ein bißchen lächelnd: »Aber Lori kann sich alles erlauben. Sie ist ein Mensch, der alles tun kann, wie er will. Immer ist sie prachtvoll und bewundernswert.«
»Wie reizend das klingt, wenn Sie meine Frau loben,« sagte Granier. »Ich liebe, so etwas zu hören. Und Lori hat immer nur harte Urteile über ihr Geschlecht. Früher, da war sie anders, da war sie viel objektiver, in jeder Hinsicht. Sie ließ das Gute gelten und freute sich daran. Jetzt sieht sie überall Rivalinnen.«
»Aber wie können Sie das denken!« rief Josephine. Sie ereiferte sich, ward heiß und rot dabei, und ihre guten, braunen Augen schauten voll Erstaunen auf Granier. »Frauen, die Rivalinnen in allen anderen Frauen sehen, sind ganz anders als Lori. Gehen Sie nur einmal an einem Nachmittag durch Wertheim, da sehen Sie diese Gattung. Aber Lori dürfen Sie nicht dazu rechnen, das wäre ungerecht.«
Togena sagte: »Es ist ganz amüsant am Nachmittag bei Wertheim. Da sieht man die Modernen. Die Frauen sitzen im Teezimmer und denken, sie wären schön, wenn ihr Hut modern ist. Die Herren sind müde und blaß und denken, sie sind sehr interessant. Ich gehe nicht oft durch Wertheim, denn ich habe keine Zeit, aber jedesmal frappiert mich dieser ganz und gar besondere Stil, den unsere modernen Berliner Frauen in Anzug und Auftreten haben. Mir kommt nur immer ein Alpdrücken an, wenn ich dächte, ich hätte mit einer ein Rendezvous. Ich würde ja niemals wissen, mit welcher, denn ich finde, sie sehen sämtlich gleich aus.«
Man lachte. Man sprach weiter von Berlin und den modernen Frauen. Man konstatierte fröhlich und selbstbewußt, daß weder Josephine noch Lori zu den Frauen gehörten, die sich alle ähnelten. Das machte bei Josephine die Einfachheit ihrer Kleidung, die Einfachheit des Wesens, bei Lori die Haltung der großen Dame.
Und dann stieg man lustig über dies Thema weg. Josephine lobte, was an Berlin zu loben war; die Lage ihrer Wohnung war so hübsch, der Blick vom Balkon frei und weit. Und sie nahm Granier, der den Blick noch nicht kannte, mit hinaus, um ihm die Schönheit zu zeigen.
»Man muß doch jede Freude, die man hat, genießen,« sagte sie, während sie zur Balkontür schritt.
Togena blieb mit Biron allein. Beide schauten ihrer Gestalt nach. Der Blinde konnte nur Umrisse erkennen, aber er wußte, wie sie ging, er wußte, wie leicht und kräftig sie schritt. Als die Balkontür sich hinter den beiden schloß, sagte er: »Was ist es für ein Glück für mich, Togena, daß ich diese Frau habe!«
Der andere antwortete nicht, er sah zu Boden. Wie in hilfloser Verzweiflung sah er zu Boden.
Biron lächelte behaglich. Er sah nicht Togenas Ausdruck, ihm war friedlich und wohl zumute. Der Künstler war ihm ein lieber Gast, Granier auch. Es war schön, liebe Menschen um sich zu haben. Vergnügt begann er zu plaudern: »Sie sind doch ein ganz verfluchter Kerl, Togena. Wir denken, Sie werden höchst betrübt über Loris Abreise ankommen und sich nur mühsam von uns trösten lassen, statt dessen kommen Sie fröhlich her und bringen auch noch Loris Ehemann mit. Ja, sind Sie denn ganz und gar unempfindlich gegen schöne Frauen? In Lori, das dachte ich bestimmt, wären Sie ein bißchen verliebt!«
Togena nahm ein paar rasche Züge aus seiner Zigarette, ehe er antwortete. »Wissen Sie, Herr Biron, eine Schönheit, wie die Frau Graniers, könnte mich auf die Länge der Zeit durchaus nicht reizen.«
»Aber im Anfang, da hatten Sie doch eine kleine Schwärmerei?« lachte Biron.
Togena zuckte die Achseln. »Ich hatte sehr viel von Freunden von ihr gehört. Sie interessierte mich eigentlich am meisten, als ich sie noch nicht kannte. Da sah ich sie einmal im Wagen fahren, ich dachte: das ist das interessanteste Gesicht, das ich jemals sah. Und dann ließ ich mich bei ihr einführen. Es ist nicht ganz leicht, denn sie empfängt nur eine ganz geringe Zahl von Künstlern. Nachher wurden wir sehr bald gut befreundet, und dann fand ich sie auch nicht einmal mehr interessant.«
»Sie sind blasiert, mein Lieber. Als ich Lori kennen lernte, damals war sie noch das Fräulein von Beer, und ich konnte noch gut sehen; da sagte ich zu meiner Frau: Donnerwetter, Kind, deine Cousine ist gefährlich schön.«
»Das finden viele,« sagte Togena; »ich kannte auch einen jungen Maler, der sich um ihretwillen sogar das Leben nahm. Näheres weiß ich allerdings nicht. Und sie hat stets einen großen Kreis von Verehrern. Aber so etwas reizt mich nicht. Wissen Sie, Herr Biron, ich liebe die weiblichen Frauen, die, die nicht nur Duft und Schönheit sind, die –« Er sprang plötzlich unruhig auf, er brach ab.
»Die, nun –?« fragte Biron.
Aber da kamen Josephine und Granier wieder herein und erzählten von einem wunderschönen, weißen Flugzeug, das über Berlin hinzöge. Und dann waren auf einmal auch die Kinder im Zimmer, und Josephine bat Togena um ein wenig Musik. Er lächelte, er schaute auf Biron, der ihm freundlich zunickte, dann ging er zu dem Klavier.
Hier zum erstenmal, in diesem kleinen Zimmer, empfand Granier die Schönheit von Togenas Musik. Er war durchaus nicht musikalisch. Im Grunde empfand er das Spiel bei Loris musikalischen Abenden als störend. Man plauderte gemütlich noch beim Kaffee, und dann mußte er plötzlich still sein und zuhören, auch wenn ihm gar nicht nach Zuhören zumute war. Das schien ihm jedesmal gewaltsam, beinahe ärgerlich. Aber mit diesem Raum hier war die Musik verwachsen. Sie gab Größe und Feierlichkeit, sie gab das, was Granier bisher niemals verstand: Harmonie.
Behutsam, als störe jede Bewegung, sah sich Granier im Kreise um. Da war Biron mit dem glücklichen Ausdruck vollen Vergessens in seinen Zügen. Da war Josephine, deren Gesicht im Schatten lag, weil sie den Rücken dem Licht zukehrte. Aber ihre Haltung war sanft, ein wenig zusammengesunken. Diese Haltung war eigentümlich, sie beschäftigte Granier plötzlich lebhaft, sie ließ ihn ganz von der Musik abschweifen. In der Haltung lag etwas Gedrücktes, etwas wie Schuldbewußtsein.
Schuldbewußtsein, dachte Granier, aber er lächelte. Wie käme diese Frau dazu. Wie käme die köstlich frische Frau, die sicher nie ein Unrecht tat, zu Schuldbewußtsein?
Nein, das waren Phantasien, die das ungewohnte Milieu zeitigte. Phantasien waren Torheiten. Und er zwang die Gedanken in andere Richtung.
Da waren die Kinder.
Die beiden Schwestern saßen auf einem kleinen Bänkchen in der Ecke, aneinandergedrückt, die Köpfe gegen die Wand gelehnt. Ihre wunderhübschen schmalen, schlanken Beine hingen herab. Veronika, die schönere, deren Züge gemmenartig zart geschnitten waren, mit Augen, dunkelblau wie feuchte Schieferdächer, war blaß und ernst. Inge, mit fanatischer Begeisterung in dem kleinen Gesicht, hielt die Hände krampfhaft zusammengepreßt. Die langen Wimpern senkten sich über die Augen; lange, goldene, nach aufwärts gebogene Wimpern waren es.
Inge genoß die Musik. Sie empfand allerlei, was sie noch nicht verstand. Sie empfand heißen Enthusiasmus, das war wie warme Wellen. Es kam ganz plötzlich, atemraubend, wild, den kleinen Körper schüttelnd, verrauschte wieder. Es kam wie der Wind, der durch die Bäume fuhr, es kam wie die schönen, hohen Wellen im Meer. Immer hatte Inge, wenn sie Musik hörte, die Empfindung von Wind oder Wasser, in das sie ganz, ganz untertauchte, das sie überflutete.
Und mit dem großen Fanatismus ihrer Natur liebte sie die Musik; ihr Herz hing fest, wie geklammert, daran. Wenn ich groß bin, wenn ich groß bin – dachte sie – dann muß ich spielen können wie Herr Togena. Ich muß so schön spielen können, daß alle Menschen mir mit Begeisterung lauschen. Wenn ich groß bin – die Gedanken verloren sich, gingen unter im vollen Empfinden, das kein Denken mehr zuließ.
Und Togena selbst fühlte, heute spielte er vollendet. Heute spielte er so wie in einsamen Stunden, wenn ihn seine Gedanken erfüllten und sich nach Musik sehnten.
Ich spiele für mich, dachte er, ganz für mich. Ich spiele und lausche. Ich selbst lausche. Allein für mich ist das Spiel.
Aber dann empfand er plötzlich – er dachte nicht –, er empfand, ungewollt, widerwillig: Sie hört mir zu, sie versteht, sie lauscht, sie fühlt wie ich – die Musik kommt, reißt sie mit wie mich –
Und er erschrak.
Aber er wollte die große Ruhe, er wollte wieder zurückkehren zur Feierlichkeit. So zwang er die Gedanken.
Sie gehorchten.
Aber da kam wieder das Ungewollte, stürzte auf ihn ein, vergrub ihn in zitternde, brennende Erkenntnis. Die Finger, die die Tasten berührten, wurden kalt wie Eis. Es gab keine Motive mehr, es gab keine Besinnung. Die Musik stürzte ihn hinab, hinab in einen Abgrund.
Togena endete hart und stand auf. Da sagte nach dem ersten Schweigen, sanft, freundlich die leise Stimme des Blinden: »Sie haben niemals so schön gespielt wie heute. Ich hörte niemals Ähnliches. Es war wundervoll, ach wundervoll.«
Aber während er noch sprach, erhob sich Josephine plötzlich. Sie öffnete die Tür und trat hinaus in den dunklen Korridor. Taumelnd, wie unter dem Eindruck eines ungeheuren Schrecks, blieb sie draußen stehen und preßte beide Hände gegen die Schläfen.
»Was hat denn Mütterchen!« rief Veronika drinnen.