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VIII.

Endlich kam der Regen.

Die Luft war immer noch lau, aber es tröpfelte und rieselte sacht. Graue, dichte Wolken verhüllten die Sonne, verhüllten jede Ferne. Der Abend kam. Es tröpfelte immer noch leise, leise, doch schien der Himmel sich im Westen zu klären. Er bekam Farben, sanfte, ein wenig vom grauen Dunst verfahlte Farben. Es glühte nicht wie in den heißen Tagen, es zog nur ein mattes Scheinen zum Zenit herauf, das bald verblaßte.

Granier hatte eine Droschke genommen und fuhr gemächlich auf dem Kurfürstendamm der Kirche zu.

Es war die Zeit des Ladenschlusses. Eilige Füße tappten auf dem Asphalt, eilige frohe oder eilige müde Gestalten huschten an ihm vorüber. Die überfüllten Elektrischen klingelten laut und kreischten an den Kurven. Die Autos hasteten still mit großen, gelben Lichteraugen vorbei, und von der Kirche her kam dumpf und sausend der Glockenschlag.

Granier lehnte sich behaglich zurück. Er dachte an die anmutige Gretchen Fleh, die in ihrem allerliebsten kleinen Heim auf ihn wartete. Wie angenehm würde der Abend wieder sein, denn Gretchen Fleh verstand es meisterhaft, eine gewisse fast biedere und doch lustige Behaglichkeit um sich zu verbreiten. Das war die Kunst, die sie verstand.

Sie und Lori – da war ein Unterschied, ein ungeheurer Unterschied. Aber gerade darum konnten in seinem Herzen die beiden Frauen so gut nebeneinander bestehen.

Jetzt flammten die Laternen auf; es gab ein leises Zwielicht, ein kühles Verdämmern, gemischt mit dem Kämpfen der Glühstrümpfe um Helle. Schön war dieses Licht, und auch der blasse Dunst war schön. Hoch und gerade stiegen die Bäume der Kaiserallee in den samtgrauen Himmel. Der Verkehr ebbte nun plötzlich ab. Nach dem großen, lauten Lärm kam ein stilles Hinüberdämmern in die Nacht. Es dunkelte sehr rasch.

Als die Droschke vor dem großen, neuen Hause in der Barbarossastraße hielt, war es fast finster.

Das hübsche Dienstmädchen öffnete. Fräulein Margarete Fleh erwartete ihn im Boudoir.

Gretchen Fleh hatte eine Vergangenheit, aber sie sah frisch und jung aus. Sie war klein, voll, blond. Sie war in den Bewegungen nicht durchaus natürlich, aber graziös. Sie ging gut und mit einfachem Schick gekleidet. Ihre Hände waren tadellos und ihre Stimme angenehm. Dabei war sie das Kind einer Schneiderin weit draußen aus einer östlichen Provinzstadt und hatte als junges Ding schwere Zeiten erlebt.

Die Mutter starb, als sie fünfzehn Jahre alt war, und sie kam in den Dienst bei einem kleinen Beamten. Die Frau war derb und grob, der Mann ein rechter kleiner Mann mit all den niedrigen Instinkten des Unterdrückten und dennoch Sichdünkenden. Das hübsche dralle, blonde Ding, das so jung war, reizte ihn, und an einem Abend, als die Frau von Hause fort war, drang er in die Kammer zu ihr ein. Sie schrie und wehrte sich, aber da war niemand, der sie hören konnte. Die kleinen Kinder, die in ihrer Obhut standen, schliefen, und sonst war das Haus leer. Was wollte sie gegen ihn tun? Ihre Angst ließ sie willenlos werden.

Aber dann kamen die Folgen, und als sie sich rechtfertigen wollte und sagte, wie alles geschehen war, glaubte ihr niemand. Der Mann tat sehr solide, dem traute so leicht keiner einen Seitensprung zu. Man war empört über ihre Verlogenheit, man schimpfte allgemein auf sie, die Hausfrau schlug sie; sie lief fort.

Da waren in der Nähe Bauern, die nahmen sie auf. Es waren gutmütige Leute, die sich nicht weiter um ihren Zustand kümmerten, so lange sie ihre Arbeit tat und wenig Lohn verlangte. Nur das Kind durfte sie nicht bei ihnen bekommen, um des Himmels willen nicht. Aber wo denn anders? Die Mutter war tot. Wo in aller Welt sollte sie hin? In ihrer Angst sagte sie, sie sei im sechsten Monat, als sie im achten war. Und als die Wehen kamen, lief sie auf den Acker.

Es war am Abend, April, trübe und neblig. Die Büsche grünten üppig, die Saaten rings auf den Feldern standen köstlich dicht, wunderschön in ihrem dunklen Grün. An der Chaussee begannen die Kirschbäume zu blühen. Sie setzte sich an den Wegrain. Es war furchtbar, es war zum Verzweifeln, zum Schreien, Brüllen. Aber sie stöhnte nur, es durfte niemand hören, daß sie hier war.

Und dann – wohin mit dem Kind?

Sie wälzte sich. Sie riß das Gras aus, biß in den Boden, schrie dumpf einmal auf.

Da war das Kind.

Wohin damit, um Gottes willen!

Da war es. Wenn es nur tot wäre. Aber das Ärmchen bewegte sich.

Sie band die Schürze ab. Dann in einem Augenblick, über den sie sich nie klar ward, nie klar ward, ob sie dabei wußte, was sie tat, drückte sie die kleine Kehle zu.

Das Ärmchen blieb steif, jetzt ward das Köpfchen schwerer. Sie drückte immer noch die Kehle zu.

Ein paar Regentropfen fielen sacht herab. Vom Westen her kam leiser Wind, und eine Amsel sang.

Das Kind war tot.

Bei den Bauersleuten sagte sie, sie hätte gekippt. Es sei ein totes Kind gewesen, das sie vergraben hätte. Und die Leute, die die Schererei mit der Polizei nicht haben wollten, glaubten ihr und ließen sie gutmütig ein paar Tage im Bett. Dann tat sie wieder die Arbeit, bekam wenig Lohn und war dabei zufrieden.

Anfangs hatte sie niemals Gewissensbisse, aber plötzlich kamen sie, auch Angst vor der Entdeckung. Sie konnte den Acker, an dem sie geboren hatte, nicht ansehen, ohne daß ihr das Blut zum Kopfe stieg. Das Herz klopfte wild. Sie hielt das nicht mehr aus, kündigte und ging nach der nächsten Stadt wieder in den Dienst. Da war es nicht gut, nicht schlecht. Aber es gab doch wenigstens ein Mädel, an das sie sich anschloß. Ein hübsches, leichtfertiges Ding, das sie mit auf die Tanzböden nahm, das sie lehrte, wie man mit den Männern am besten umspränge.

Eines Tages hatten sie beide genug von der kleinen Stadt, sie hatten von Berlin gehört, sie wollten nach Berlin.

Gretchen Fleh wurde Stubenmädchen bei einer komischen alten Dame in der Winterfeldstraße. Sie hatte besonders darauf zu achten, daß die Kanarienvögel keinen Zug bekamen und die Blumen frisches Wasser hatten. Da sie von Natur sauber war, hielt sie die Zimmer auch rein. Aber das war nur Nebensache, wurde auch weiter nicht beachtet. Indessen lernte sie sich bewegen, lernte Manieren, lernte vergessen, daß es in einer kleinen Stadt einen kleinen Beamten gab, der sie verführte, und auch vergessen, daß ein Wegrain, ein Acker, ihre schwersten Stunden sah.

Sie wurde ein hübsches, üppiges Ding, und die alte Dame hatte einen Sohn. Die alte Geschichte.

Es kam eine lustige Zeit, aber dann ging es plötzlich abwärts. Gretchen war noch eben das »famose Mädel« gewesen, jetzt wurde sie der »unausstehliche Balg«. Dann gab es Szenen. Gretchen heulte, Gretchen empörte sich. Was half es. Sie saß an einem Abend auf der Straße ohne einen Pfennig und wußte nicht wohin.

Und dann kam die Zeit, an die sie sich nicht gern erinnerte. Die Zeit der äußersten Erniedrigung, in der sie in schlechte Hände fiel. Sie war drauf und dran, ins Wasser zu gehen. Und gerade dieser Gedanke gab ihr Mut. Das kann ich immer noch, dachte sie.

Wieder ein plötzlicher Umschwung. Sie traf die lustige Marie, die damals mit ihr nach Berlin kam. Die war gutmütig und schlau, sie hatte ein eigenes Heim, sie hatte einen reichen Freund.

»Ja, Gretchen,« sagte sie, »so hin und her, das ist nichts, da geht die Beste bei zugrunde. Komm man mit mir, ich such' dir wen.«

Sie suchten. Schließlich fand sich ein alter, freundlicher Herr, der Mitleid hatte, dem Gretchen eigentlich gar nicht so recht gefiel, denn er liebte das Imponierende, so eine schöne Erscheinung, voll und groß, nach der sich jeder umdrehte und bei sich Neid fühlte. Aber Gretchen hatte in der schweren Schule gut gelernt. Sie hatte sich auch von der Marie abgeguckt, was abzugucken war. Ganz plötzlich wurde sie das solide Hausmütterchen. Sie machte ihr Heim reizend, sie war freundlich, gleichbleibend, bescheiden. Sie war in ein paar Wochen unentbehrlich geworden. Dann starb ihr Freund und vermachte ihr ein kleines, hübsches Vermögen. Und dann, nach angemessener Zeit, kam sie in Graniers Hände.

Granier trat ganz in die Fußtapfen seines Vorgängers. Er erfreute sich wohl an Gretchen Flehs appetitlicher Erscheinung, es war ihm aber besonders darum zu tun, in einem friedlichen Heim von Zeit zu Zeit ein paar gemütliche Stunden zu verbringen, von dem zu sprechen, was ihn ärgerte oder freute, und dabei eine Zuhörerin zu haben, die alles wie ein Evangelium in sich aufzunehmen schien. Daß dies eine Maske war, wußte er nicht, es hätte ihn vielleicht auch nicht einmal gestört, denn dann hätte er Gretchen Flehs Klugheit bewundert.

So saß er auch jetzt in einem der tiefen Lederstühle bequem mit einer Zigarre in der Hand und erzählte und klagte und ließ sich bemitleiden oder bewundern, je nachdem es paßte.

Zuerst hatte er, wie stets, von seinem Jungen erzählt.

»Bubi wächst so sehr, nein wirklich, Gretchen, er ist ja mager, aber sehr lang. Der gerät meiner Mutter nach, der ist Graniersch.« Und Gretchen Fleh freute sich darüber, daß er Graniersch wurde und nicht nach Lori schlug, von der ja wohl weniger zu halten war.

»O, weißt du,« begann Granier wieder, »man kann sogar sehr viel von Lori halten. Sie ist eben keine bequeme Frau, aber sonst –, ja, ich muß sagen, sonst vorzüglich. So schön wie sie ist, und immer schön, verstehst du. Morgens, abends, mittags, mit offnem Haar, frisiert, angezogen oder im Negligé, immer schön.«

Gretchen Fleh kannte Graniers Stolz; sie drückte ein klein wenig verletzte Eitelkeit, daß er seine Frau in ihrer Gegenwart lobte und von ihr selbst kein Wort erwähnte, nieder und berichtete graziös und nett von einer Begegnung, die sie einmal mit Lori bei Gerson hatte, wo beide zufällig zur gleichen Zeit ihre Hüte kauften. Der Schluß war: »Sie ist wirklich wunderschön und vornehm!«

Fritz Granier nickte befriedigt, aber dann wurde seine Stirn sorgenvoll. »Wenn sie nur vernünftiger wäre, Gretchen.«

»Wieso vernünftiger?« fragte sie, obgleich sie die nun folgende Klage im großen und ganzen genau zu kennen glaubte.

Die Klage begann.

Da war erstens das unsinnige Geldverschwenden. Für notwendige Dinge natürlich, da hatte er immer Geld bereit. Aber jede Woche einen neuen Hut, ein neues Kleid, Wäsche und Negligés, Koffer, Parfüms und hundert andere Sachen. Er rechnete aus, daß Lori gut dreißigtausend Mark allein für ihre Toilette gebrauchte. Ja, wenn sie kinderlos wären, wenn alles auf den Kopf gehauen werden könnte, aber der Bubi war noch da. Bubi sollte einmal ein schönes, rundes Barvermögen haben, nicht nur die Fabrik, die fortgesetzt Geld und Nerven kostete. Bubi sollte – Granier war schon wieder bei Bubi angelangt und erzählte mit heißen Wangen und einer kalt gewordenen Zigarre von Bubis künstlerischem Empfinden. Es galt so gut als sicher, daß Bubi einmal Kunstgeschichte studieren würde. Man fühlte es, ahnte es, wenn man das Kind nur sah. Und vollends dies Aufwachsen mitten in der Ästhetik. Denn das mußte man Lori lassen, keine Frau verstand es, wie sie, ästhetisch zu leben, um sich her Ästhetik zu verbreiten. Sie war schönheitsdurstig. Und das Kind erbte dies.

Wieder pflichtete Gretchen bei, machte dabei eine allerliebste, jugendlich zierliche Bewegung ihrer Hände, denn sie suchte ihm begreiflich zu machen, daß auch sie etwas von Ästhetik verstand. Dann erhob sie sich und schritt rundlich und voll Anmut zum Teetisch und machte sich daran, den Tee zu bereiten.

Sie war eine reizende Wirtin. So wie sie die appetitlichen Schüsseln Granier zuzuschieben, ihm alles mundrecht zu legen verstand, konnte es niemand anders. Und niemals dachte Granier daran, daß das die Frucht mühevoller Arbeit war, denn von Natur hatte Gretchen diese aufmerksame Art nicht. Er aß nur und trank und fühlte sich wohl und erzählte. Es gab so viel zu erzählen.

»Ja, mein Gretchen, jeder hat seine Sorge, jeder. Da bin ich zum Beispiel. Ich bin ein gutsituierter Mann, ich bin zufriedenen Gemüts; aber dann gerate ich auf den Einfall, meine erste Frau, die Maria, zu heiraten. Ach Gott, ach Gott!« Er stärkte sich durch einen Schluck Tee und sog hastig an seiner Zigarre. »Man soll doch nie ein Mädel aus einer kleinen Stadt, aus kleinen Verhältnissen in andere Umgebungen bringen. Ich sah das damals gründlich ein, darum heiratete ich ja auch die Lori!«

»In die du doch aber sehr verliebt warst?« warf Gretchen ein.

»In die ich sehr verliebt war, natürlich. Jeder Mann, Kind, jeder Mann in meiner Lage hätte sich in Lori verliebt. Und ich liebe sie doch auch noch. Gretchen, du denkst doch nicht etwa – aber Kind! –«

Gretchen Fleh beruhigte ihn. Sie wüßte ganz genau, wie lieb er sie hätte, wie unendlich lieb. Manchmal sogar sei sie ein ganz klein bißchen eifersüchtig.

Granier räusperte sich und fühlte sich in einer interessanten Situation. Er nahm Gretchens appetitliche Hand und streichelte sie und versicherte, daß zur Eifersucht gewiß kein Grund sei. Er sagte ihr ein paar Schmeicheleien, und Gretchen, die wenig verwöhnt war, gab sich auch freundlich gleich zufrieden. Sie fragte nur noch: »Und wann will deine Frau denn zurückkommen? Ist es ihr immer noch nicht langweilig auf dem stillen Schloß?«

Schloß sagte sie. Sie sprach gern von einem Schloß, wie sie denn überhaupt mit gewisser Genugtuung in ihren Gedanken Lori mit allerhand unerhört vornehmen und außergewöhnlichen Dingen umgab.

»Siehst du,« sagte Granier, »das ist mir auch rätselhaft. Da schreibt sie mir heut' einen Brief – warte mal, ich habe ihn doch bei mir, er ist sehr interessant – aha, hier ist er – also:

 

»Lieber Fritz, daß ihr alle fortgesetzt fragt, ob ich mich immer noch nicht langweile, ist geradezu lächerlich. Nein, ich langweile mich nicht. Ich sitze im Garten und höre den Kuckuck rufen und lese wundervolle Bücher. Augenblicklich bin ich sehr beschäftigt, denn ich richte das Gartenhaus beim Wasser her. Es wird weiß, mit goldenen Leisten, die Möbel weiß und gold, eine kleine Bibliothek soll hineinkommen, deren Bücher sämtlich in Weiß und Gold gebunden werden. Ich stellte schon eine Liste auf: Stifter, Hölderlin, Eichendorff, ein paar Franzosen wie Balzac, von Modernen höchstens ein paar Dichter.

Mein Leben ist außerordentlich idyllisch. Fräulein von Unruh, die Hübsche, Blonde, weißt Du, kommt hin und wieder und erzählt von den Unannehmlichkeiten der kleinen Landadligen, die gern zu den großen Landadligen gehören möchten. Sie erzählt mir nichts Neues, aber sie hat doch eine persönliche Note und Humor, das ist ziemlich amüsant. Die alte Frau von Bernewitz besucht mich gallig, weltfremd und schimpft auf ihre Verwandten. Ich sage: ›Verwandte, gnädige Frau, sind immer unangenehme Beigaben!‹ Dann schlägt sie sich aufs Knie und lacht.

So also ist mein Leben.

Übrigens, mein Lieber, die Einbände der Bücher sind billig, aber eine nichtskostende Tapete bekam ich nicht. Verzeih'.

Ich grüße Dich und Bubi
Lori.«

 

Er las den Brief von Anfang bis zu Ende, und Gretchen hörte, wie stolz er im Grunde auf die Schreibende war.

Sie wollte auch etwas Kluges und Außergewöhnliches erwidern und sagte deshalb: »Wirklich, ein geistreicher Brief. Man trifft so selten geistreiche Menschen. Wie interessant! Ich danke dir, lieber Fritz, daß du mir das vorgelesen hast.«

Granier zuckte die Achseln. »Geistreich ist der Brief wohl, du hast recht. Du bist wirklich klug, Gretchen, sonst hättest du das nicht gemerkt. Ja, geistreich ist sie. Sie ist überhaupt ungewöhnlich. Und – ja – was ich sagen wollte – übrigens, ich erzählte dir doch wohl mal von einem Flirt, den sie mit diesem Musiker hätte –«

»O, mit Togena!« unterbrach Gretchen ihn interessiert.

»Ja, mit Togena. Also ich habe mich überzeugt, es ist gar nichts dahinter, es ist nur Freundschaft. Man täuscht sich, weißt du. Eine schöne Frau – ein talentvoller junger Mann – das läßt Schlüsse zu. Aber, wie gesagt, man irrt sich.«

Gretchen Fleh war enttäuscht. Sie hatte sich Lori in unerhört interessanten Situationen gedacht. Eigentlich war die schöne Frau für sie eine Romanfigur, um die sie wundervolle Träume spinnen konnte. Und nun kam dieser Mann und setzte die Frau in ein reales Licht. Sie ärgerte sich fast, und dann tröstete sie sich. Es war ja doch gar nicht gesagt, daß die schöne Lori nicht in Beziehungen zu dem Künstler stand. Kluge Frauen weben heimliche Schleier um ihre Liebschaften, um höchst phantastische und sehr sonderbare Liebschaften. Gretchen Fleh lächelte in sich hinein, als wüßte sie etwas, was Granier nicht wußte.

Aber das intuitive Gefühl der kleinen Freundin sprang plötzlich auf Granier über. So kam es, daß er Sehnsucht nach Lori bekam, daß er sie im Schein ihrer wundervollen Schönheit mit begehrenden Augen sah. Sonderbar, in Gretchens Gegenwart war er eigentlich immer verliebt in seine Frau. Ihre kühle, vornehme Art, die prachtvollen Bewegungen, ihre Hoheit, ihr Duft ließen ihn fast den Atem anhalten, zittern nach ihrer Nähe. Ja, Lori, seine Gattin, war die schönste Frau Berlins. Er seufzte wie in Stolz und doch in Sehnsucht.

Und dann plauderten sie noch ein bißchen, angeregt, müde, wie alte Bekannte plaudern. Sie sprachen von der Sommerreise und von Berlins Öde und über einen modernen Klatsch. Sie sprachen auch über Lori, und Granier sagte wieder kluge Worte, die Gretchen bewunderte.

»Das Leben, mein Kind, ja, ja, das ist doch anders, als es in den Büchern steht. Gewaltig ist das Leben, es reißt mit fort, und wir müssen stillhalten. Ich habe nun einmal diese Frau, ich kann sagen, sie ist keine einfache Frau, aber ich schätze sie hoch und bemühe mich täglich, ihr gerecht zu werden. Ich habe auch meine Arbeit. Mein Leben brachte viel Arbeit, viel Gelingen. Vielleicht könnte ich sogar stolz sein, nicht wahr? Aber stolz, Gretchen, nein, stolz läßt uns das Leben doch nicht sein, es duckt uns immer, wenn wir den Kopf zu hoch heben.«

Und dann trank er seine Tasse Tee aus, sah nach der Uhr, lächelte ein wenig und brach auf.

Gretchen Fleh blieb allein. Sie nahm die Lampe und setzte sich auf den Balkon unter die schützende Markise. Es hatte aufgehört zu regnen. Die Luft war rein und frisch, ein wenig feucht, doch angenehm zu atmen. Gretchen nahm ein Buch und ließ es doch wieder sinken.

Sie dachte – das Leben ist nicht wie in den Büchern. Nein, das Leben war anders. Aber zu ihr kam das Leben nicht. Es brauste draußen, weit draußen, wo die vornehmen Menschen in ihren stillen, weißen Häusern wohnen. Es kam nicht in die Barbarossastraße, Ecke Speyerer Straße, ersten Stock, zu Fräulein Fleh.

Allerdings, der Verkehr war recht nett und rege, auch amüsant manchmal. Postassistents in der Motzstraße kamen gern und häufig, und der Blumenhändler an der Ecke hatte solch eine liebe, feine Frau. Auch die Schneiderin drüben in der Güntzelstraße war eine angenehme Dame, und sie hatte Nichten von einer Schönheit, o, einer Schönheit! Gretchen fand, daß dies eine gefährliche Schönheit sei.

Sie dachte daran, daß der Bruder des Postassistenten, der bei der Bank war, einige Anstrengung machte, um sie, Gretchen, zur Frau zu bekommen. Er war ein netter Mensch und hatte sein Auskommen. Aber das wäre doch nichts gewesen, das wäre ein Rückschritt aus größeren Verhältnissen in kleinere. Dazu war noch Zeit. Nein, lieber allein sein und Fritz Granier erwarten, ein wenig Langeweile empfinden und vom großen Leben hören.

Rot und dunstig kam der Mond zum Vorschein. Die nasse Straße mit ihren neuen, sauberen Häusern war still, wie ausgestorben, und nur vom Prager Platz her klang Lärm. Gretchen lehnte sich zurück und atmete tief. – Die Gattin ihres Freundes, die wunderschöne Lori Granier, die lebte das große Leben.

War sie glücklich?

Gretchen Fleh lächelte verträumt.


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