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Den Abend und die Nacht über war der Schnee in dichten, weichen Flocken gefallen. Berlin lag still, sauber in dem sanften Weißblau seines Leuchtens. Still lag die große Stadt in dem vornehmen Licht ihrer weißen Decke.
Auf den Bäumen lastete der schwere Schnee, daß sich ihre Zweige bogen. Er lag wie spitze Mützen auf den Zäunen, auf den Dächern, auf den Simsen. Die stillen, weißen Straßen liefen in schöne, helle Nebel ein. Sie hatten Wälle an den Bürgersteigen. Sie hatten keine grünen Rasenränder mehr, keinen grauen Asphalt. Alles war weiß, weiß, nur die Wagenspuren zeichneten sich dunkler in dem prächtigen Schnee.
Sehr still war das große Berlin. Das tiefe, dumpfe Brausen verstummte ganz. Es gab kein Wagengerassel mehr; es gab nur helltönendes Klingeln, lustiges Geläut von Schlittenglocken dazwischen. Weiße, friedliche Feiertagsruhe lag über der Stadt.
Lori Granier saß an ihres Gatten Seite im Wagen. Sie war in einen schwarzen, weichen Pelz gehüllt; das rote Haar deckte ein Hut mit einem Trauerschleier, dessen starres Schwarz noch die Weiße und die Blässe ihrer Haut hob.
Langsam kroch der Wagen durch den Schnee.
O, über dies Fahren! dies entsetzliche Schleichen. Gerade heute mußte es unmöglich sein, den Weg zur Beerdigung im Auto zurückzulegen. Sie seufzte und legte den Kopf zurück. »Können wir denn nicht schneller fahren?«
Granier beruhigte: »Es geht nicht, Lorichen, es geht wirklich nicht.«
Wieder schwiegen sie. Lori zog fröstelnd den Pelz noch enger um sich.
»Da sind Hasso und Freya,« sagte Granier und schaute heraus. »Sie haben sich einen Wagen vom Tattersall am Brandenburger Tor geliehen. Sieh doch Lori, ein hübscher Wagen.«
Lori antwortete nicht; sie fröstelte nur wieder. Granier fuhr fort: »Wir haben sie überholt; so kommen wir also keineswegs zu spät. Es wäre mir auch peinlich, Josephines wegen. Wenn du dich nur nicht erkältest, Lori, du bist so blaß.«
Lori wehrte müde mit der Hand ab. Sie schwieg wieder.
Von neuem tröstete Granier: »Jetzt sind wir schon am Spandauer Berg. Die Pferde müssen Schritt gehen, es ist nicht anders möglich. Du frierst gewiß, Lori, nimm die Pelzdecke höher hinauf.«
Mechanisch gehorchte sie. Ihr Kopf war dumpf und schwer, ihre Arme lagen wie tot zur Seite.
Und dann hielt der Wagen vor dem Friedhof. Die Sonne hatte den Nebel durchbrochen. Ihr helles Licht und das des flimmernden Schnees blendete. Weit und kahl lagen die neuen Kirchhöfe vor ihnen, einer neben dem andern, einer gleich dem andern, in der Mitte die Kapellen, zur Seite, im Hintergrund, Grab an Grab. Schnurgerade liefen im Schnee vergrabene Wege. Schnurgerade Baumlinien, schnurgerade Querwege, schnurgerade Mauern, Kreuze, Gitter. Eine furchtbare, furchtbar lähmende Eintönigkeit.
Die Spatzen flatterten und schrien. Neben dem Wege flogen ein paar krächzende Krähen auf, und fern nach Süden dehnte sich in einem schönen, flimmernden Grauweiß der Wald der Jungfernheide.
Lori ging langsam an ihres Gatten Seite den sauber gekehrten Weg zur Kapelle hinab.
Diese Kapelle hat keine Stimmung. Sie ist erhellt von bunten Scheiben, so daß sie im matten Licht liegt. Am Altar stehen Lorbeerbäume und andres totes Grün, ein wenig belebt von kleinen, weißen, frierenden Blumen. Es brennen Kerzen. Der schmucklose Sarg hat schöne Kränze, schöne Girlanden, und doch wirkt alles kalt.
Lori findet sich im ersten Moment kaum zurecht. Nach der blendenden Helle draußen ist es finster in dem kleinen Raum. Und dann ist die Luft sonderbar kalt und dumpfig. Eine Luft, die nach feuchten Kleidern und herbe duftenden Pflanzen riecht. Sie bleibt stehen, sie sieht sich angestrengt um. Aber da reicht Günther ihr den Arm und bringt sie zu seiner Frau, die neben der alten Frau von Beer sitzt. Da ist auch Fräulein von Wernheimb, das Taschentuch in der Hand, mit roten Augen. Jetzt erkennt Lori deutlich, daß sie mitten unter all den Verwandten ist. Gerade das wollte sie vermeiden, aber jetzt ist es zu spät. Sie ist stumpf, willenlos, sie hat das Gefühl, als geschähe dies alles um sie her nur im Traum. Stumm und mechanisch drückt sie den Verwandten die Hand, setzt sich. Sie hört, wie Hildegard flüstert, daß Josephine noch nicht da sei. In ihrer Heimat sei es nicht Sitte, daß die Witwe erst im letzten Augenblick käme. Man ginge doch zur Beerdigung, um ihr die Hand zu drücken. Sonderbar. Die alte Frau von Beer lächelt traurig. Sie denkt an ihres Gatten Beerdigung und an den großen, tiefen Kummer, der immer noch in ihr ist. Einen Gatten verlieren, das ist doch alles verlieren. Denn die Kinder gehen eigene Wege, die sind nicht Wesen, denen man notwendig ist. Arme Josephine, arme Josephine.
Sie wischt mit der Hand über die Augen, ein paar Tränen kommen sacht. Sie weiß nicht, weint sie über ihren Mann oder über den Kummer der Nichte.
Die Kapelle füllt sich plötzlich rasch; jetzt kommen Uniformen herein, vier, fünf Marineoffiziere, mehr noch. Die schwarzen Gestalten verschwinden fast. Hildegard schaut sich neugierig um, sie flüstert: »Da ist Admiral von Bloch! Wie nett von ihm, daß er kommt, obgleich Biron doch schon längst außer Dienst war. Und auch Admiral von Meerscheidt, lauter hohe Tiere; ich glaube, Meerscheidt ist Exzellenz. Man müßte ihn nachher begrüßen. Wie laut die Herren immer sind, hör' doch, Muttchen. O, da kommt Togena. Herr Gott, ist der Mann blaß. Der ist wohl krank?«
Es ist Lori plötzlich unerträglich, Hildegard reden zu hören. Sie sagt kurz, gereizt: »So sei doch endlich still!«
»Ich? Aber weshalb denn? Die Herren reden ja auch. Und Josephine ist immer noch nicht da. Ich weiß nicht, ich finde das merkwürdig. Sie will wohl nach dem Pastor kommen?«
In diesem Augenblick wird es totenstill in dem Raum. Josephine tritt ein.
Sie sieht schlank und schön aus in ihrer langschleppenden Trauerkleidung. Ihr Antlitz ist still und blaß; es ist so still wie jene rührenden Gesichter alter Madonnen. Auch der vollkommen ergebene Zug jener Frauen ist ihr eigen.
An jeder Seite geht eins der Kinder. Sie hält in jeder Hand eine Kinderhand. Die kleinen Mädchen haben geneigte Köpfchen wie welke Blumen. Veronikas Augen sind verweint, sie schluchzt noch immer. Inge, deren Gesicht fast weiß ist, ängstlich weiß, so wie das Weiß der Ohnmächtigen, hat trockene Augen. Nur um den Mund liegt eine Falte, die wie von verborgenem, innerlichem Weinen spricht.
Still gehen die drei auf ihre Stühle in der Nähe des Altars. Sie schauen sich nicht um; sie sind wie allein für sich. Vor dem Sarge bleiben sie stehen, sie beten. Man hört deutlich, wie Veronika schluchzt, sieht ihre schmalen Schultern beben. Dann setzen sie sich.
Gleich darauf erscheint der Prediger, und die Orgel setzt klingend, rauschend ein.
Der Prediger ist noch jung. Er hat ein frisches Gesicht und eine frische Stimme, die voll von soldatischer Straffheit von dem Verstorbenen spricht, von seiner besonderen Befähigung zu dem Beruf des Seemanns, von der Liebe, mit der die Untergebenen wie die Vorgesetzten an ihm hingen. Wie er ein Glückskind war, wie ihm jeder, der ihn sah, gut sein mußte. Und auch das schwere Leid, das Krankheit über ihn brachte, konnte dies Sonnige nicht von ihm nehmen.
Er hält inne, er wendet sich an Josephine mit tröstenden Worten. Er spricht in geschmackvollen, ein bißchen biederen Worten vom Lobe der deutschen Hausfrau, die Freude in das Dasein bringt und Glück auch dem Kranken. Er spricht von den Kindern, und die Frische seiner Worte läßt Tod und Schmerz nur ernst, nicht qualvoll erscheinen.
Das Amen folgt, die Trauergesellschaft erhebt sich, und zu der offenen Tür flutet plötzlich ein Strom wundervoll goldenen Lichtes herein. Wie eine Verheißung ist das Licht, wie etwas, das tröstet, das eindringlich vom Leben spricht. Josephine wendet unwillkürlich den Kopf, sie muß unwillkürlich einen kleinen, dünnen Funken Freude über das Licht empfinden. Fest drückt sie den Arm ihres stattlichen Bruders an sich. Aber da fällt ihr Blick auf Inge. Das Kind sieht ernst, mit fest zusammengepreßten Lippen über die Anwesenden fort starr in eine Richtung. Das Kind hat in den Augen neben dem Schmerz noch einen anderen Ausdruck, und Josephine erschrickt; sie senkt den Kopf. Tiefer, tiefer sinkt der Kopf bis auf die Brust.
Langsam unter den ernsten Klängen eines Kirchenliedes bewegt der lange Zug sich zur Gruft. Zwischen schnurgeraden Wegen geht es, zur Seite schnurgerade in furchtbarer Regelmäßigkeit Grab an Grab. Schnurgerade zieht die dünne Reihe der Bäumchen sich hin. Ein paar schüchterne Büsche sind vergraben im Schnee, ein paar kleine Lebensbäume tragen weiße Kappen.
Hügel an Hügel und Kreuz an Kreuz.
Lori ist zumute, als sei diese Eintönigkeit ein grauenvoller Alp. Ihr ist zumute, als sei sie wie im Traum festgenagelt auf der gleichen Stelle, als müßte sie fliehen und könnte es nicht.
Sie atmet hastig.
Dann kehrt plötzlich mit wildem Herzschlag die Besinnung zurück. Sie nimmt alle Energie zusammen. Den Platz, den Togena im Zuge einnahm, hat sie sich trotz all der lähmenden Angst genau gemerkt. Jetzt ist sie neben ihm.
Sie sagt: »Wir haben uns noch gar nicht gesehen seit jenem Abend.«
Er stottert etwas Undeutliches. Sein blasses Gesicht schaut zu Boden. So gehen sie zusammen den schnurgeraden Weg zwischen der Reihe der schnurgeraden Gräber. Vor ihnen ein Trupp der Trauernden, hinter ihnen eine lange Kette von Uniformen, schwarzen Gestalten.
Lori spricht weiter: »Es ist erschütternd, wie rasch das kam. Während wir noch so lustig –.«
Er macht eine Handbewegung. Er sagt: »Wir hätten an diesem Abend Birons nicht allein lassen dürfen.« Er betont das »dürfen«.
»Aber wie kann man so etwas ahnen.«
»Ich hätte es ahnen müssen!«
Lori dünkt es, als spiele die Musik in weiter, unendlich weiter Ferne, als sei die Luft erstickend.
»Wieso hätten Sie das ahnen müssen?«
Aber da stockt der Zug. Lori muß vortreten; man macht ihr unwillkürlich Platz, weil man sieht, wie Granier und Hasso sich nach ihr umschauen.
Schweigen. Der Schnee fällt leise, leise von den dürftigen, kleinen Bäumen.
Mitten in der schönen, klaren Weiße des Schneefeldes ist ein frischgeschaufeltes Grab.
Lori schwindelt.
Dies frisch geschaufelte Grab in all der feierlichen Weiße ist wie ein greller Mißton. Es ist wie das Grauen selbst. Es ist wie der Tod, der steht und wartet.
Sie hört nur undeutlich die frische Stimme des Predigers. Sie hört sie wie in weiter Ferne. Kleine, frierende Blumen sieht sie, die die Köpfe senken. Schmutzige, lappige Tücher steht sie, die, unter dem dunklen Sarg vorgezogen, fortgeworfen werden, in den Schnee sinken. Sie sieht, wie sie grau und häßlich sich breit machen, wie sie den letzten Rest von Feierlichkeit nehmen, der die Öde verschönte.
Fern, fern, fern klingt das Lied, das die Kapelle spielt. Dumpfe, schwere Töne mischen sich darein, dumpfe, polternde Töne. Die frierenden, kleinen Blumen auf dem Sarge verschwinden unter den fallenden Erdschollen.
Lori will sich wenden. Sie will nichts mehr sehen, sie tritt zurück.
Aber da steht plötzlich Inges kleine, schmale Gestalt am offenen Grabe. Die kleine Gestalt schwankt. Sie greift blitzschnell zuckend mit den dünnen Ärmchen in die Luft. Sie schreit auf. Sie schreit gellend.
An diesem Augenblick fühlt das Kind mit grausamer Deutlichkeit, daß der, der zu ihr sagte: »Du bist mir das Liebste in der Welt –« in der Erde ist.
Langsam zerstreut sich die Menge der schwarzen Gestalten. Der Friedhof wird leer. Da sind keine Uniformen mehr mit blinkendem Gold, da sind keine wehenden Schleier mehr zu sehen.
Die Sonne steht schon tief über dem westlichen Horizont, sie ist rot und glanzlos.
Hasso tritt neben Lori aus der eisernen Pforte. Er hat mit aufmerksamem Blick in ihr Antlitz gesehen; ihre Blässe ist auffallend, die hastigen Bewegungen, die sie nicht unterdrücken kann, beunruhigen ihn. Als die Pforte mit hartem Ton ins Schloß fällt, sagt er: »Du bist auffallend nervös, Lori. Wenn man dich sieht, wahrhaftig, so könnte man dich und nicht Josephine für die Witwe halten.«
»Ist das ein Vorwurf für mich oder ein Vorwurf für sie?«
»Josephine,« sagte er hart, »steht über jedem Vorwurf.«
»Und ich –?«
»Dich verstehe ich nicht.«
Sie reichen sich die Hand in kühlem Druck. Sie sind sich fern, das fühlen sie. Langsam steigt Lori, von Granier gestützt, in den wartenden Wagen.