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Es ist schwül.
Am Horizont stehen die weißen Gewitterköpfe. Sanfte, weiße Wolken ziehen vom Westen her auf.
Der Wind schweigt.
Manchmal duftet es stark nach den blühenden Rosen oder nach den Levkoyen und den warmen, zitternden Wiesen.
Die großen Linden stehen regungslos, die Pappeln flüstern kaum hörbar.
Es ist schwül.
Die Kinder sind an der Schaukel. Ihre weißen Kleider schimmern durch das grüne Laub. Sie lachen, und die Schaukel knarrt. Sie lachen wieder.
Über den sonnigen Rasen geht die Nurse mit der Milchkanne und den Tassen auf dem Tablett. Sie geht langsam, es ist ihr heiß.
Lori steht am Fenster des Gartenzimmers. Da steht sie seit einer Weile schon regungslos. Als der Diener den Teetisch in das Zimmer schiebt, schrickt sie zusammen.
Dann tritt sie langsam zurück. Sie ist blaß.
Da geht die Tür, Josephine kommt herein. Sie ist rosig und frisch, um ihren Mund liegt das Lächeln einer freundlichen Zufriedenheit. »Wie heiß es heute ist,« sagt sie. »Dich greift die Hitze an, Lori, man sieht es. Hast du dich nach Tisch nicht hingelegt?«
Lori lächelt. Sie sagt, ihr sei den ganzen Tag schon nicht wohl gewesen. »Willst du eine Tasse Tee, Josephine?« fragt sie dann.
»Bitte, ich bin so durstig. Gieß mir ein bißchen kaltes Wasser zu, ja? damit ich ihn dann gleich trinken kann.«
Lori steht am Teetisch. Sie ist jetzt noch um einen Schein blasser geworden. Sie hantiert unruhig am Samovar, auf dem das Wasser nicht kochen will.
»Wo ist denn Fritz?« fragt Josephine.
Lori sagt kurz: »Ich sah ihn vorhin fortreiten.«
»Bei dieser Hitze!« Sie werden sich gestritten haben – denkt Josephine –, darum ist sie so nervös. Es ist nichts Seltenes, daß Graniers sich streiten. Lori ist sehr leicht heftig, und ihm fehlt die nötige Autorität. Wieder lächelt Josephine; ihre Gedanken schweifen ab.
Indessen kocht das Wasser; Loris Hände greifen nach der Teekanne; sie zittern. Sie stellt die Tassen zurecht; die Hände zittern stärker.
Es ist schwül.
Der Duft der Wiesen kommt in das Zimmer. Der Duft ist schwer; er ist wie ein warmer, schwerer Atem.
Jetzt hat Lori den Ring vom Finger gezogen. Sie steht mit dem Rücken zu Josephine; sie steht ganz still, ohne zu zittern. Die Kapsel unter dem Skarabäus öffnet sich – ein feiner, grauer Staub rinnt in die weiße Tasse. Lori greift mit ruhiger Hand zur Teekanne, sie füllt die Tasse halb, gießt kaltes Wasser hinzu. Nichts klirrt, keine Bewegung ist hastig. Ihr ist zumute, als täte sie das alles mechanisch, ihr ist leer zumute, so, als seien im Kopf keine Gedanken mehr. Nur im Hals ist ein lästiges Gefühl, als würgte eine kalte, steife Hand.
Der braune Tee in der Tasse, der sich ein wenig trübte, ist wieder ganz klar. Ohne ein Zittern nimmt Lori die dünne Schale und trägt sie zu Josephine. Sie versucht zu lächeln, aber es mißlingt; rasch wendet sie sich.
»Ich glaube, die Kinder rufen!« sagt sie plötzlich.
Josephine lauscht. »Ich höre nichts. Soll ich zu ihnen gehen?«
»Nein, nein!« Lori fühlt, wie ein plötzlicher Frost sie schüttelt. »Nein, bleibe hier, ich gehe selbst. Ich sehe selbst nach; ich bin gleich wieder hier.«
»Aber Lori, du wirst doch nicht durch die heiße Sonne gehen!« Aber da ist Lori schon draußen. Sie steigt die Stufen hinab, sie fühlt den warmen Sand des Weges unter ihren Füßen. In ihr klingt es immer noch nach: Du wirst doch nicht durch die heiße Sonne gehen. – Sie hört den Fink in der Linde, sie hört das kaum vernehmliche Rauschen der Pappeln. Sie atmet den Duft der Wiesen.
Plötzlich bleibt sie stehen; es überläuft sie eiskalt.
In ihren Ohren saust es. Es kommt ihr vor, als hörte sie die Stimme des alten Mannes, der ihr den Ring verkaufte, deutlich sagen: »Innerhalb fünfzehn Sekunden, Madame, ist alles vorüber. Ein Krampf, nichts sonst. Keine Veränderung. Ein gutes, starkes Gift.«
Mitten in der glühenden Sonne fröstelt sie, ihre Füße sind wie Blei.
Dann hält sie die Hand vor die Augen. »Innerhalb von fünfzehn Sekunden –
Ein anderer Gedanke: Niemand anderes als sie darf Josephine finden.
Und der Tee muß fort.
Daran erst jetzt zu denken.
Der Tee muß fort. Es muß anderer Tee in die Tasse gegossen werden. Man muß die Tasse ausspülen.
Es darf sie niemand anders finden –.
Die Füße sind wie Blei.
Sie kehrt um. Sie schleicht wie eine Kranke den Weg zurück. An der Treppe bleibt sie stehen – – – – –
Da oben im Gartenzimmer sitzt eine regungslose Gestalt.
An der Treppe steht Lori Granier und zittert vor Frost.
Die Gestalt am Fenster regt sich nicht.
Lori Granier steigt eine Stufe hinan.
Wenn die Gestalt sich wendet – –
Noch eine Stufe. Es ist jetzt unerträglich, unerträglich heiß. Übel ist ihr vor Hitze. Das Herz klopft ganz langsam, ganz schwer.
Die Gestalt regt kein Glied –
Lori Granier beißt sich in die Lippen. Sie stöhnt. Sie nimmt jetzt drei Stufen. Kalt ist es jetzt, eiskalt, entsetzlich.
Nicht hinsehen – nein –
Kommen da nicht Stimmen nahe –?
Nicht hinsehen –
Die Tasse nehmen – ausgießen –
Nicht hinsehen –
Lori Granier nimmt die letzten Stufen, sie steht an der Tür.
Im Sessel am Fenster sitzt eine zusammengesunkene Gestalt; sie ist wie schlafend –.
Und dann ist alles wie im Fieber.
Alles wirbelt um sie herum. Das Weiß der Schale blinkt, der braune Tee fließt schwer, wie unwillig auf den Rasen. Das heiße Wasser rinnt ruckweise, strauchelnd fast aus der silbernen Maschine. Die Tasse ist wieder leer.
Haltung, um Gottes willen Haltung!
Die Tasse steht, mit dem frischen Tee gefüllt, wieder vor der regungslosen Gestalt.
Was nun –?
Schreien, schreien!
Und wenn die Gestalt erwacht.
Schreien, schreien.
Die Kehle ist zugeschnürt. Jemand ist da, der sie würgen will.
Ein Alp.
Schreien, schreien können.
Ist das Wachen?
Jemand ist da, der ihr die Hände hält und ihr die Kehle zudrückt.
Und die Gestalt bewegt sich.
Ruhe, Lori Granier, Ruhe. Es kommen Stimmen von draußen, jetzt kommen wirklich Stimmen näher.
Die Glieder werden schwer und schwerer.
Es dunkelt plötzlich.
Lori fühlt, daß sie taumelt, sie schreit laut und entsetzlich auf.