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Künstler aller Art, Literaten mehr noch als alle andern, neigen dazu, ihre persönlichen Angelegenheiten, besonders aber ihre Ärgernisse und die Streitereien untereinander, für Begebenheiten von äußerster öffentlicher Wichtigkeit zu halten. Ein Krach, manchmal auch schon eine in spitzigen Formen ausgetragene Meinungsverschiedenheit zwischen zwei der Literatur mit Erfolg beflissenen Persönlichkeiten – ihre Bezeichnung als »Prominente« ist, glaube ich, Nachkriegsmode, früher hießen sie »Arrivierte« – trieb im »Café Stefanie« und in der »Torggelstube«, auf Kegelbahnen und überall, wo München-Schwabinger Kultur gedieh, gewaltige Aufregung hoch. Um die Beteiligten scharten sich ihre Cliquen, und war der Lärm innerhalb einer Clique entbrannt, so gab es neue Cliquen, geeint in Weltanschauung, Kunstehre und Todfeindschaft wider den abtrünnigen Teil. Es muß mit Bedauern gesagt werden, daß solche Mißhelligkeiten häufig genug vor eine Instanz getragen wurden, die eigentlich von kulturbestrebten Menschen nicht zur Entscheidung ihrer – doch irgendwo vom Geiste ausgehenden – Streitigkeiten in Anspruch genommen werden sollte: vor das Schöffengericht. Aber gab es einmal in der Au, wo das Amtsgerichtsgebäude steht, einen Beleidigungsprozeß mit literarischen Hintergründen, so lag Premierenstimmung über den Münchener Künstlerstammtischen. Die Aussichten der Parteien wurden mit Leidenschaft abgewogen, war einer der Prozeßgegner anwesend, so wurde ihm recht gegeben, und die Anwälte, die in solchen Fällen fast immer bemüht wurden, Dr. Wilhelm Rosenthal, Dr. Goldschmidt I oder Dr. Strauß III, lauter Herren, die ohnehin Stammgäste an unserm Torggelstubentisch und regelmäßige Premierenbesucher in allen Theatern waren, plädierten im engeren Kreise schon wochenlang vor dem Ereignis für ihren Klienten.
Wie alles, was sich in den Kunst- und Kulturbezirken Münchens zutrug, so waren auch die Literaturprozesse trotz aller feindseligen Temperamentswallungen im Grunde Familienereignisse. Das öffentliche Interesse nämlich, das die Literaten ihren Persönlichkeiten beizumessen pflegen, besteht genau in dem Umfange der in sich abgeschlossenen Welt ihrer Beziehungen zueinander. Der literarische und künstlerische Produzent lebt gewöhnlich in dem Irrtum, sein Konsument, der Leser seiner Novellen oder Parkettgenießer seiner Dramen, nehme nicht nur an einem Werk, sondern auch an seinem Schicksal Anteil; da sich weitere Kreise von seiner Arbeit innerlich bewegen lassen, nachzufühlen, was er im Kunstschaffen gefühlt hat, so müßten sie auch von seinen Privaterlebnissen bewegt sein, mit seinen Freuden jubeln, mit seinen Leiden weinen und in seinem Ärger mit ihm schimpfen. Er täuscht sich. Wenn sich ein Lyriker und ein Dramatiker bei einer Tasse Kaffee gegenseitig Kitscher und Plagiator nennen, dann ist das – und mir scheint das so vollkommen in der Ordnung – ihren Lesern, auch wenn sie sogar ihre bewundernden Verehrer sind, genauso gleichgültig, wie es dem Schriftsteller egal ist, ob die Schneiderin und die Hutmacherin seiner Frau, deren Werke er aufrichtig bewundert, sich miteinander vertragen oder nicht. Innerhalb der Zunft hat auch deren Zwist seine weltwichtige Bedeutung. Die Zunft der Münchener Geistigkeit umfaßte aber den ganzen Familienkreis Schwabings und der zugehörigen Kultursprengel, und dazu gehörten alle, die sich aus Berufsgründen oder aus Sympathie von Schwabinger Luft umwehen ließen. Kein Zweifel: Außer den Rechtsanwälten, welche in den literarischen Beleidigungsprozessen in der Au die Ehre des Beleidigten oder das pflichtbewußte Wahrheitsgewissen des Beleidigers (nebst der Gegenklage) zu vertreten hatten, gehörte auch der Gerichtsvorsitzende in allen diesen Verhandlungen mit zur Familie, der Oberlandesgerichtsrat Wilhelm Mayer, der sich in weiten Kreisen den Namen »der gute Richter« erwarb und den man allgemein den Vergleichs-Mayer nannte.
Weit über München hinaus ist dieser ungewöhnliche Richter, der so ganz und gar ins Bild des geistig bewegten Vorkriegs-Münchens hineinpaßt, bekannt geworden durch die Führung des berühmten Prozesses, den der Afrikaforscher Carl Peters gegen einen sozialdemokratischen Redakteur anstrengte und in dem des Klägers Methoden der Negerkolonisation ausführlich erörtert wurden, und durch den von Mayer geleiteten Beleidigungsprozeß Maximilian Hardens gegen einen Zentrumsredakteur, in dem der Fürst Philipp Eulenburg sich die Verdrießlichkeit zuzog, des Meineides beschuldigt zu werden. Zur Zeit dieser großen politischen Prozesse war ich nicht in München; ich sah den Vergleichs-Mayer in minder weltgeschichtlichen Erörterungen, milde lächelnd, klug und nach besten Kräften ausgleichend, dabei sehr bedacht auf wirkungsvolle Einzelheiten, die Streitfälle wutgeblähter Unsterblicher im tiefen Gefühl seiner eigenen Dazugehörigkeit schlichten. Erst in der zweiten Hälfte des Krieges sah ich den Richter auch einen politisch höchst belangvollen Prozeß lenken, in dem der früher ganz umgängliche, durch die Ereignisse in patriotische Raserei versetzte Professor Cossmann dem pazifistischen Historiker Veit Valentin gegenüberstand. Es war das letztemal, daß ich den Vergleichs-Mayer am Werke beobachtete; es war das erstemal, daß ich ihn seiner Aufgabe nicht gewachsen fand. Der Vergleich, den er zustande brachte, kam auf eine Verurteilung Valentins hinaus. Der leidtragende Teil in dieser Prozeßverhandlung war die historische Wahrheit, obwohl, wie ich aus Mayers eigenem Munde wußte, die Stimmung des Richters keineswegs so kriegerisch war wie die des Herausgebers der Süddeutschen Monatshefte.
Der Ort der Handlung war in allen Prozessen, die Herr Oberlandesgerichtsrat Mayer leitete, der Sitzungssaal fünf im oberen Stockwerk, ein Saal, eigens für die Theateraufführungen gebaut, die das liebe literarische Publikum in jeder Gerichtsverhandlung erblickte, in der zwei Kollegen ihren Groll gegeneinander ausspritzten. Mayer aber genoß seine großen literarischen Beleidigungsprozesse auch kaum anders, als ein Regisseur sein Werk genießt. Es muß recht schrecklich gewesen sein, als der Saal fünf noch nicht da war und alle die schönen Verhandlungen noch in armseligen kleinen Amtsgerichtsräumen in Szene gehen mußten. Dr. Rosenthal erzählte uns, wie der Vergleichs-Mayer einmal in seiner Verlegenheit vor dem Termin die beteiligten Anwälte einlud und mit ihnen eine regelrechte Regiesitzung abhielt. Er jammerte bitter, daß er keinen Raum habe, um alle Wünsche von Presse und Publikum, die ihn schon um Karten ersucht hatten, zu erfüllen. »Weiß denn keiner von den Herren Rat, was man da machen kann?« fragte er. Da erhielt er von dem witzigen Anwalt die Antwort, die das Wesen aller Mayerschen Prozesse mit einem Wort erschöpfend kennzeichnete. »Ja«, sagte Rosenthal, »ich wüßte vielleicht einen Rat!« Mayer strahlte: »Da wäre ich Ihnen wirklich sehr dankbar, Herr Doktor; was meinen Sie?« Und Dr. Rosenthal erteilte den Ratschlag: »Wiederholen!«
Ich selber habe Mayer nur in seinem großen Saal wirken sehen, der, soviel ich weiß, mit dem Prozeß Max Halbe gegen Friedrich Freksa eingeweiht wurde. Es handelte sich um eine Broschüre »Josef Ruederer und das Wolkenkuckucksheim«, in der sich der noch recht jugendliche Freksa zum Herold der Rivalität des kraftbayerischen Ruederer gegen Halbe machte und dabei den Dichter der Jugend nicht nur literaturkritisch fürchterlich lästerte, sondern noch obendrein als Menschen durch den Kakao zog. Der Prozeß gab lange Zeit ausreichenden Gesprächsstoff, wobei Freksa die am meisten belachte Figur abgab. Der hatte sich erst vor seine Streitschrift gestellt wie eine Gluckhenne vor ihre Küken und pathetisch ausgerufen: »Ich bin eine Michael-Kohlhaas-Natur!« Und nachher brachte Mayer doch den erstrebten Vergleich zustande, bei dem Kohlhaas alles mit Bedauern zurück- und die Kosten auf sich nehmen mußte. Zwischen der Halbeschen und der Ruedererschen Kegelbahn aber gab es nie wieder die geringste Verbindung.
Gewöhnlich fingen die literarischen Beleidigungsprozesse nicht mit einer Broschüre an, sondern endeten mit verschiedenen. Da hatte sich einmal Roda Roda gründlichst mit einem reichen Herrn verkracht, der einen großen Verlag finanziert, viel Geld in ein Theater gesteckt und mit dem Humoristen weitere Pläne erwogen hatte. Wegen eines gemeinsam verfaßten Operettentextes war es dann zum Bruch gekommen, und Roda Roda verlor angesichts dieser persönlichen Enttäuschung allen Witz, der ihn, wenn andre sich ärgern, nie verläßt. »Ich fresse Zorn!« rief er eines Abends über den Tisch der »Torggelstube« und bekräftigte seinen Grimm noch durch den Bericht einer besonderen Übeltat seines Widersachers. »Nicht möglich!« meinte Karl Ettlinger erschrocken. Doch mit einem »Mein Ehrenwort!« brachte der Ankläger jeden Zweifel zum Schweigen. Doch dieses nicht eben sehr wichtige Gespräch in der »Torggelstube« führte uns alle nicht lange darauf im Sitzungssaal fünf in der Au zusammen. Roda Roda hatte in seiner Wut über den reichen Herrn einen Artikel veröffentlicht, in dem er alle diejenigen seiner Kollegen, die für dessen Theaterverlag als Lektoren tätig waren und außerdem Theaterkritiken schrieben, der Korruption beschuldigte. Dazu gehörte in erster Reihe Karl Ettlinger, aber auch ich war in diesem Zusammenhang genannt. Ich begnügte mich im Bewußtsein der vollständigen Unangreifbarkeit meines Verhaltens mit einer kurzen, aber hinlänglich saftigen Abfuhr, die ich Roda Roda in meinem Blatt zuteil werden ließ. Ettlinger aber ging jener Szene in der »Torggelstube« nach, stellte irgendeine kleine Unrichtigkeit in der Darstellung der Sache fest, die Rodas Ehrenwort heraufbeschworen hatte, und wurde nun seinerseits weit über die Wichtigkeit des Anlasses hinaus aggressiv. Roda und ich grüßten uns nicht mehr – das war klar; als aber Ettlinger zu mir kam und mich als Zeugen gewinnen wollte, um zu bestätigen, daß das Ehrenwort in der Brust unter der roten Weste falsch gewesen sei, da weigerte ich mich entschieden, auf solche Weise Rache zu nehmen. Aber dann mußte ich doch schwören. Ich war nämlich, im Vertrauen darauf, daß keiner der Prozeßbeteiligten Wert darauf legen werde, mich zu befragen, als Zuhörer zur Verhandlung gekommen, und da fiel in irgendeinem Zusammenhang mein Name als eines der Gesprächszeugen in der »Torggelstube«. »Oh«, sagte der Richter, »dann können wir Herrn Mühsam ja gleich mal hören. Darf ich Sie bitten vorzutreten?« Ich versicherte also unter Eid, daß ich Rodas Ehrenwort nicht so feierlich aufgefaßt hätte wie Ettlinger und nicht entrüstet sei. Hierauf stritten Kläger und Beklagter, wer von ihnen der bedeutendere Dichter sei, und Mayer vermittelte: »Aber wir wissen doch alle, daß Sie beide außerordentlich bedeutend sind!« Und nachdem dann noch einige Zärtlichkeiten gewechselt waren, wobei sogar der Götz von Berlichingen zitiert wurde, konnte Mayer den Vergleich auf Kosten Ettlingers zuwege bringen. Roda Roda aber reichte mir zur Versöhnung die Hand und gestand mir: »Du hast geschworen wie eine Nachtigall.« Sollte mich bei der Darstellung dieses weltgeschichtlichen Vorgangs mein Gedächtnis irgendwie irre führen, so mögen künftige Historiker die Broschüre zur Hand nehmen, die Roda Roda der Nachwelt über den denkwürdigen Prozeß vermacht hat.
Im Frühjahr 1914 spielte sich unter dem Vorsitz Mayers ein Beleidigungsprozeß ab, der allerdings erheblich größere Wichtigkeit hatte als die vergnüglichen forensischen Auseinandersetzungen rivalisierender Unsterblichkeitsanwärter. Ein Theaterdirektor mußte sich durch einen Strafantrag gegen den Schriftleiter des Neuen Weges, des Organs der deutschen Bühnengenossenschaft, von außerordentlich schweren Vorwürfen zu reinigen versuchen. Die Genossenschaft hatte ihm ungeheuerliche Verfehlungen durch den Mißbrauch seiner Arbeitgebergewalt gegen das Schauspielerpersonal vorgeworfen. Der gute Richter zog den Prozeß im größten Maßstab auf, und vier Tage gelang es ihm, in der denkbar wirkungsvollsten Weise die Einheit von Szene und Tribunal herzustellen. Der als Sachverständiger zugezogene Hoftheater-Generalintendant Ernst Possart verstand es, an verschiedenen Höhepunkten der Verhandlung Schillersche Verse zu deklamieren; doch hielt sich im übrigen der Verlauf der von erregenden Ausbrüchen gequälter Menschen erschütterten Zeugenvernehmung in völlig sachlichen und sehr würdigen Formen. Mayer zeigte sich hier als ein von sozialem Gefühl getragener, von starker sittlicher Kraft erfüllter Mensch. Er versuchte nicht, einen Vergleich herbeizuführen, sondern sprach das Urteil, indem er den beklagten Redakteur freisprach, dem Kläger aber mit starken Ausdrücken der Empörung jedes soziale Empfinden bestritt und ihn unwürdig erklärte, eine Bühne zu leiten und Vorgesetzter von Angestellten zu sein. Ich hatte, wie alle, die dem Prozeß beiwohnten, einen großen Eindruck von der Persönlichkeit Mayers, wie sie hier zutage trat, und in einem sehr ausführlichen Artikel meiner Zeitschrift Kain stellte ich ihm ein Zeugnis aus: »In seiner Auffassung der Dinge war so viel menschliches Verstehen, so viel Wissen um das wirkliche Leben, so viel guter Wille, die Anwendung der Gesetze mit den Empfindungen des Herzens in Einklang zu bringen, wie es an deutschen Richtertischen nur ganz selten ist.« Und in weiteren Ausführungen nannte ich den Gerichtsvorsitzenden einen »charaktervollen und bedeutenden Mann«. Dennoch: Mayer war viel zu eng verbunden mit der ganzen Münchener Art kultureller Lebendigkeit, als daß er nicht auch hier jede handelnde Figur und sich selbst als Dirigenten ins Licht der bestmöglichen Wirkung gerückt hätte. Die feierliche Aufmachung und die auf Zitierung in der Presse bedachten, in bayerischem Dialekt vorgetragenen Geistreicheleien in Fragestellung und Zwischenbemerkungen des Richters gehörten in den Sitzungssaal fünf wie der alte Gerichtsdiener, das Faktotum des Oberlandesgerichtsrats, der alle Münchener Künstler persönlich kannte, weil er sie alle schon mal als Zeugen aufgerufen hatte. Der Krieg war noch nicht lange entbrannt, da schrieb mir eines Tages eine Kabarettkollegin, die ich noch von der Scharfrichterzeit kannte, sie sei in einen Beleidigungsprozeß hineingezogen, der in der Au verhandelt würde, und ich möchte doch hinkommen, damit sie in dieser ihr ganz fremden Umgebung einen Freund in der Nähe hätte. Es handelte sich um eine ganz üble Familienstänkerei eines alten Adelsgeschlechts, dessen Mitglieder sich gegenseitig der Erbschleicherei und der größten Niederträchtigkeiten beschuldigten. Das arme Mädel war als Freundin eines der beteiligten Herren da hineingeraten. Als ich den Saal betrat, in dem Mayer die Geschichte ausgleichen sollte, sprang mir die Künstlerin entgegen, und wir küßten uns zur Begrüßung, was zwischen uns ganz harmlose und selbstverständliche Umgangsform war. In einer Verhandlungspause aber kam der Gerichtsdiener an mich heran und meinte: Sagen S', Herr Mühsam, war des Freilein net bei die ›Elf Scharfrichter?‹ I moan do, i kenn's von einem Prozeß mit derer Delvard.« Als aber die Verhandlung geschlossen war und ich das Gerichtsgebäude verließ, lief mir auf der Treppe der Richter selber nach und stellte die gleiche Frage an mich. »Ich sah doch«, sagte er, »wie Sie sich begrüßt haben. Da fiel mir's ein, daß sie ja damals bei den Elf Scharfrichtern aufgetreten ist.« Dann aber – wir hatten uns seit dem Prozeß des Theaterdirektors nicht mehr gesehen – wechselte er plötzlich das Thema: »Richtig, Herr Mühsam, ich hab mich noch gar nicht bei Ihnen bedankt. Sie haben jüngst so freundlich über mich geschrieben.« Der Richter, der sich bei einem radikalen Schriftsteller für eine gute Kritik bedankt – das war das alte München.
Im Kampfjahr 1919 mußte der gute Richter seine Wirkungsstätte dem Standgericht überlassen, und ich war zum letzten Male im Sitzungssaal fünf, als ich selber dort zu fünfzehn Jahren Festung verurteilt wurde. Mayers Faktotum waltete noch seines Amtes. Er sah mich kopfschüttelnd an – wie einer so tief sinken konnte!