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Das Jahr 1907 war für mich von Anfang an eine ununterbrochene Folge von eindrucksvollen Erlebnissen und konzentriertem Erleben. Von Wien aus hatte ich mich zunächst wieder nach München getrollt, wo ein paar Monate lang Leib und Seele von allerintensivsten, dabei ganz heterogenen Sensationen in Anspruch genommen waren. Diese Sensationen haben nur zum kleineren Teil mit dem Ausschnitt meiner Erinnerungen zu tun, der hier zu behandeln ist. Zum anderen Teil fiel ein politisch heftig bewegter Kampf in diese Zeit und endlich auch das völlig persönliche Ereignis einer Liebesleidenschaft, wie sie ein Leben nie zweimal produzieren kann, von der rückblickend Rechenschaft abzulegen aber eher die Aufgabe lyrischer Gedichte als die eines Memoirenwerkes ist. Als die Partnerin des Erlebnisses im Frühjahr München verlassen hatte, flüchtete ich an den Lago Maggiore.
In Ascona widerfuhr mir diesmal allerlei Widerwärtiges, was mit den Versuchen russischer Freunde zusammenhing, der fast vollzogenen Liquidation der Revolution von 1905/06 doch noch Schwierigkeiten zu machen, und was mir eine ziemlich romantische Fußtour zum Antico Castello in Locarno eintrug, nämlich in Begleitung einer bewaffneten Gendarmerie-Eskorte und mit schweren Eisenfesseln an den Händen. Da mein Aufenthalt in der von außen wundervollen, als Behausung von Menschen aber höchst unsympathischen Ruine – ich vermute, es ist dieselbe, von der Kleist im Bettelweib von Locarno erzählt – nur siebzehn Stunden dauerte, scheint ja von maßgebender Stelle bestätigt, daß die Verhaftung nur sehr wenig durch meine politische Tätigkeit bedingt war; darum glaubte ich sie als nicht eben alltägliches Intermezzo erwähnen zu sollen. Auch half dies Intermezzo den Entschluß reifen zu lassen, bald einen andern Schauplatz der Künste, Taten und Abenteuer zu wählen.
Mein Freund Nohl hatte Paris schon kennengelernt und riet mir dringend, hinzufahren. Der Antrieb der Neugier und der verschwommenen Illusionen war ohnehin längst wirksam. So schrieb ich eines Tages an Gustav Landauer mit der Bitte, mich den gesinnungsmäßig nahestehenden Freunden zu empfehlen, und trat die herrlichste Reise meines Lebens an. Die Fahrt über den See nach Pallanza, die ich schon mehrmals gemacht hatte, ist mir durch ein besonderes Erlebnis unvergeßlich. Auf dem Dampfer wurden geschlachtete Kälber transportiert, die auf dem Verdeck ausgebreitet lagen. Dieser Köder lockte Raubvögel an, und so begleiteten uns nach und nach vier prachtvolle Steinadler, die aus ungeheurer Höhe immer wieder versuchten, an die Beute heranzukommen, und bis dicht über unsere Köpfe hinunterstießen, so daß wir die prachtvollen Tiere mit ihren riesigen Schwingen in fast greifbarer Nähe beobachten konnten. Von der Bewegung der an Deck herumlaufenden Menschen geschreckt, wagte sich keiner der Räuber ganz an die Kälber heran; unmittelbar vor dem Ziel schossen sie wieder hinauf und waren im Bruchteil einer Sekunde nur noch als Pünktchen am Himmel zu sehen. In Pallanza wurden die Schlachttiere ausgeladen, und die Adler verschwanden in den Bergen.
Ich fuhr nach Domodossola und stieg von dort den Simplonpaß hinauf, um zu Fuß die Westschweiz zu erreichen. Die Bahn durch den neuen Tunnel war noch im Bau, wurde aber schon eingleisig benutzt. Das Hospiz in über zweitausend Meter Höhe stand noch jedem Reisenden zur Verfügung. Nach elf Stunden Wandern langte ich bei den Mönchen an, bei denen ich eine mir ganz neue Welt kennenlernte. Es waren sechs oder sieben alte Herren, die mich freundlich aufnahmen und mir ein sehr schönes Nachtquartier einräumten. Ich erfuhr, daß jeder Reisende bis zu drei Tagen oben bleiben dürfe, und ich habe diese drei Tage voll ausgenützt. Inzwischen kamen nur ein paar Wanderer ins Hospiz, von denen nur einer übernachtete; die anderen blieben einige Stunden, erfrischten sich und gingen weiter. Die Mönche freuten sich, in mir einen Gast zu beherbergen, mit dem über vielerlei geistige Dinge gesprochen werden konnte. Sie führten dort oben mit ihren prächtigen Bernhardinerhunden ein recht beschauliches, dabei keineswegs untätiges Leben. Sie konnten so viel und so wenig Deutsch wie ich Italienisch; ein leidliches Französisch auf beiden Seiten mußte die Verständigung ergänzen, und es ging ausgezeichnet. Ich verschwieg durchaus nicht, wie ich über Kirchlichkeit und Staatspolitik dachte, fand aber ebenso kluge wie tolerante Verteidiger des gegnerischen Prinzips. Ihre hübsche Bibliothek enthielt außer religiösen und wissenschaftlichen Werken auch gute belletristische Literatur, und ich war erstaunt, wie bewandert die Herren, die doch ohne alle weiteren Hilfskräfte die Hauswirtschaft besorgten, Handwerksburschen bedienten, ausgezeichnet kochten, aufwuschen und Hunde pflegten und dressierten, auf allen möglichen Gebieten waren, wie verständig und gerecht sie zum Beispiel die soziale Bedeutung Zolas anerkannten. Die Bezeichnung dieser sympathischen Kleriker als Pfaffen wäre mir nie in den Sinn gekommen. Übrigens hatten sie auch vorzüglich gepflegte Weine und zollten mir hohe Anerkennung, als ich ihnen meine Vorliebe für Bordeaux bekannte und begründete. Als ich den Wunsch äußerte, einen Spaziergang über den Schneegipfel zu machen, bekam ich einen Bernhardiner mit, der mir ernst und sachlich stundenlang folgte und mich dann auf kürzestem Wege zum Hospiz zurückführte. Der Abschied von den Mönchen war freundschaftlich und herzlich. Jede Bezahlung wurde abgelehnt; wer etwas geben wolle, könne in der Kapelle Geld in die Büchse werfen, doch auch das sei nur erwünscht, wenn der Geber damit die katholische Kirche fördern wolle. Ich solle es selbstverständlich unterlassen und meinen Gastgebern nur ein gutes Andenken bewahren. Zum Zeichen dessen, daß ich das wirklich tue, habe ich auch bei diesen Aufzeichnungen noch einmal bei meinen liebenswürdigen Benediktinern im Simplon-Hospiz ein wenig haltgemacht.
Den Berg hinunter bis Brig, den Blick immer über dem großartigen Panorama der schneeflimmernden Hochalpen, ging es in knappen fünf Stunden. Dann ein Tag Wiedersehen mit Lausanne und von dort über Lyon, wo ich übernachtete, nach Paris, dem heißen, laut schlagenden Herzen Frankreichs. Am strahlenden Sommermittag kam ich an, überwältigt vom Anblick der breiten Boulevards, der Beschwingtheit des Lebens, des Himmels, der Bäume, der Menschen, überwältigt von allem, wovon ich mich überwältigen lassen wollte. In meiner Tasche aber befanden sich noch acht Franken.
Soviel wußte ich, daß man als Deutscher seinesgleichen im »Café du Dôme« am Boulevard Montparnasse finden würde. Ich fragte mich also durch und ging zu Fuß, immer wieder durch ein Straßenschild, ein Denkmal, eine Hausaufschrift an begeisternde Ereignisse der großen Revolution, des Juli-, des Februaraufstandes oder der Commune erinnert. Als ich am Ziel angekommen war, fragte ich zuerst nach Pascin, mit dem ich von München her schon bekannt war. Er war mit allen deutschen Stammgästen eben beim Mittagessen, und ich wartete. Allmählich füllte sich das Lokal. Ein glatzköpfiger Herr schritt auf mich zu und begrüßte mich, da wir uns im »Café Monopol« in Berlin schon getroffen hätten; das war der Maler Purrmann, der mich nun sofort den übrigen deutschen Künstlern und verwandten Erscheinungen zuführte. So lernte ich gleich in der ersten Stunde meines Pariser Aufenthalts fast die ganze Gesellschaft kennen, mit der ich wenigstens für die ersten beiden Monate täglich viele Stunden beisammen war. Dazu gehörten außer Purrmann und Pascin der Maler Bondy, der Dichter Franz Hessel, an den mir die Gräfin Reventlow Grüße aufgetragen hatte (ebenso an Willy Gretor, der leider während meines ganzen Aufenthalts von Paris abwesend war, so daß ich Wedekinds Freund und Modell nie persönlich kennengelernt habe); ferner der Kunstschriftsteller Wilhelm Uhde, durch den die Bekanntschaft mit etlichen französischen Künstlern vermittelt wurde, so mit Picasso und dessen Freund Herbin, der mich in Paris porträtiert hat. Die französischen Maler kamen indessen nicht ins »Café du Dôme«, man traf sie bei Uhde oder dem Maler Götz in der Wohnung an. Das war ein Mann, der an der Seine eine sehr schöne Wohnung innehatte, mit dem Blick auf Notre-Dame und zu einem wahren kleinen Museum hergerichtet. Jedes Jahr fuhr Götz nach Brügge oder andern belgischen Kleinstädten, suchte die Antiquitätenhandlungen ab und brachte alle möglichen Herrlichkeiten heim, in die er nach dem Urteil seiner Freunde bedeutend größere Werte an Alter und Köstlichkeit hineindichtete, als ihnen innewohnten. Im übrigen steckte Götz, der mir verzeihen möge, daß ich seinen Vornamen vergessen habe, den ganzen Kreis mit einer besonderen Form von Wortwitzen an, die auf Klangähnlichkeit beruhte und zu grauenhaften Gewalttaten an der deutschen Sprache verleitete. Waren wir bei Götz versammelt, dann wurde entsetzlich gekalauert oder Rudolf Levy ließ mit des Basses Grundgewalt seine neuesten obszönen Gedichte hören.
Als ich bei der Einführung in den Caféhauszirkel am Montparnasse bekannte, wie hoch das Betriebskapital sei, mit dem ich meine Existenz in Frankreich zu begründen gedachte, erfuhr ich, daß diese acht Franken wohl als Taschengeld für einige Zeit langen könnten, nicht aber zum Anfangen, da man in Paris nur in Hotels Zimmer bekomme, die pränumerando bezahlt verlangten. Die vermögenderen Mitglieder der Runde schossen zusammen, und ich mietete mich im siebenten Stockwerk eines Hotels am Boulevard Raspail ein. Bald fand ich auch Existenzmöglichkeiten, indem ich Mitarbeiter des gerade von Frau Langen, der resoluten Tochter Björnstjerne Björnsons, begründeten Witzblattes Le Témoin wurde, gelegentlich an einer Sondernummer von L'Assiette au beurre mitwirken durfte und zugleich in Deutschland neue Erwerbsquellen erschloß. Doch bin ich gerade in Paris nie ganz aus materiellen Schwierigkeiten herausgekommen, was den Lebensgenuß einigermaßen beeinträchtigte. Ich muß aber zugeben, daß in dem kleinen Kreise der deutschen Künstlerschaft, der sein Generalquartier im »Café du Dôme« hatte, im allgemeinen ein erfreulicher Geist der Solidarität herrschte. Es gab Leute unter uns, die nie einen Sou hatten, der nicht der Hilfsbereitschaft Hessels, Bondys oder eines der besser Situierten entstammte.
Den zweiten Tag wollte ich natürlich in den Louvre und fragte Pascin, ob er mich dort nicht führen wolle. Er gab mich aber in die Obhut seiner Freundin Hermine-Lionette, einer entzückenden Pariserin, der ich mich sehr gern anvertraute. Das Unglück wollte es jedoch, das Hermine-Lionette die Urenkelin des Revolutionsmalers Jacques-Louis David war und mich daher mit blitzartiger Geschwindigkeit an den herrlichen Werken der Renaissance, an der Mona Lisa und allen übrigen Sehenswürdigkeiten vorbeischleppte, um mich dann stundenlang vor den mächtigen Schinken ihres berühmten Ahnen festzuhalten, deren lobenswerte Tendenz mich mit ihrer theatralischen Aufmachung kaum ganz aussöhnen konnte. Tags darauf und dann noch oft ging ich allein in den Louvre und sah mehr, und als ich später einmal von dem bedeutenden Graphiker Rudolf Großmann darin herumgeführt wurde, sah ich viel.
Das ständige Zusammensein mit Landsleuten konnte ich auf die Dauer vor mir selbst nicht verantworten. Durch die politischen Beziehungen kam ich freilich mit Franzosen in Berührung, so mit Gustave Hervé und durch Vermittlung des Freundes Bakunins, James Guillaume, mit alten Communards und jungen Revolutionären. Doch wollte ich auch das richtige Pariser Bohemeleben kennenlernen. Außer ein paar arrivierten Malern, die mit Uhde verkehrten, sahen wir in unserer Gesellschaft nur hier und da den eben zum »roi des poètes« erkorenen Lyriker Paul Fort. Denn den mir schon von München befreundeten Simplicissimus-Zeichnet Henri Bing, der sehr viel mit uns zusammen war, habe ich, obwohl er waschechter Pariser ist, uns Deutschen immer organisch zugehörig empfunden.
Eines Tages traf Johannes Nohl in Paris ein, und wir beschlossen, die Gesellschaft, die man im Berliner »Café des Westens« oder im Münchener »Café Stefanie« ungefähr ebenso haben konnte wie im »Cafe du Dôme«, durch eine radikale Luftveränderung auszuwechseln. Kurz entschlossen fuhren wir zusammen ans Meer, und zwar nach Camarat sur Mer am Cap Finistère, wo wir etwa zehn Wochen unter den bretonischen Hummerfischern lebten. Nach Paris zurückgekehrt, folgten wir dem Beispiel Pascins und Bings, die ihren Wohnsitz vom Montparnasse zum Montmartre hinaufverlegt hatten. Ich mietete mich in der Rue des Martyrs im »Hôtel des deux Hémisphères« ein, in dem zumeist Artisten wohnten, Zirkusreiterinnen, Neger, eine ganz internationale Schar, mit der ich gute Nachbarschaft hielt. Das »Café du Dôme« war jetzt nicht mehr ständiges Obdach, sondern nur noch Besuchsziel. Sonst spielte sich das Leben ganz am Montmartre ab; Mittag aß ich in einem Lokal, das »A la vache enragée« hieß und dessen Wirt, ein lothringischer Klerikal-Sozialist, sich mit mir befreundete und mit ungeheurem Temperament zu allen politischen Tagesereignissen Stellung nahm. Ich habe von dem braven Mann nicht nur mehr Französisch gelernt als zuvor in der Schule, in der Westschweiz und durch den bisherigen Aufenthalt in Frankreich – ich habe vor allem durch ihn und seine Stammgäste gelernt, wieviel mehr der französische Normalbürger an allen Vorgängen des politischen Lebens Anteil nimmt als der deutsche und mit welch persönlich gefärbter Kritik er seinen Regierern, Abgeordneten und allen öffentlich Beauftragten auf die Finger sieht.
Die Abende verbrachte ich fast regelmäßig im »Lapin agile«, dem kleinen Künstlerkabarett des Père Frédéric hinter dem Moulin de la Galette, wo ich das jetzt wirklich in der Nähe sah, was als Pariser Boheme mit leichtem Gruseln leutselig belächelt zu werden pflegt. Albert Weisgerbers Nachlaß enthält Blätter, die mit großer Lebendigkeit das Leben im »Lapin agile« wiedergeben. Da sieht man einen Dichter neben dem Klavier stehend Verse vortragen, während der Musiker sich auf die Tasten aufstützt und zuhört und die Maler, vor sich den Schoppen Wein und im Arm ein Mädchen, ebenso aufmerksam folgen. In diesem Kabarett gab es keinen Unterschied zwischen Vortragenden und Genießern, da gab es kein Engagement auf Zeit und Kündigung, da gab es einfach den Drang, seine Kunst sehen und hören zu lassen, und den, zu erfahren, was der andere künstlerisch Neues geleistet hat. Ich habe dieselben Menschen, nicht arrivierte, arme, dem Proletariat von Herkunft und von Interesse verbundene Künstler, in ihren Ateliers beisammen gesehen. Sie nahmen ihr Dasein nicht leicht, so sehr sie der Freude zugänglich waren. Bei ihnen und mit ihnen im »Lapin agile« habe ich reiche Stunden erlebt; die reichste war die, als der alte Gründer des ersten Pariser Kabaretts, der Leiter des »Chat Noir«, Bruant, als Gast bei den jungen Künstlern erschienen war und nun seine herrlichen starken Chansons sprach und sang. Es war eine Begeisterung um den alten Mann, die ihn selbst zu Tränen rührte, bis er alle Anwesenden einlud und mit Wein und Essen traktierte und nacheinander alle Mädchen auf den Schoß nahm und unter dem Jubel selbst ihrer Liebhaber glückstrahlend abküßte.
Diese Hingabe an die Situation, das volle Auskosten jedes Geschehens, das war das, was mich Paris und die Pariser inbrünstig lieben ließ. Immer dort leben hätte ich nicht können, aber nur deshalb nicht, weil ich es nicht aushalten kann, lange für alle Verständigung mit den Menschen auf eine fremde Sprache angewiesen zu sein. Selbst wenn mich meine mangelhafte Sprachenbegabung einmal über das Radebrechen im Französischen hinausgelangen ließe, möchte ich nicht dauernd gezwungen sein, in anderen Worten zu sprechen, als ich denke. Wäre diese Hemmung bei mir nicht vorhanden, dann wäre ich bestimmt nicht wieder von Paris fortgegangen, dieser einzigen Stadt voll Schönheit, Rhythmus, Kunst, Kraft, Seele und Anmut, dieser Stadt, in der jede Straße erfüllt ist von dem Geschehen großer Vergangenheit und in der jeder Baum im Bois de Boulogne, in den Tuilerien, im Jardin du Luxembourg und unter der Mauer der Föderierten den Atem künftiger Geschehnisse ausströmt.
Im Frühjahr 1908 war ich wieder in Berlin. Damals formulierte ich den Unterschied: Paris lebt – Berlin funktioniert.