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Paris hat seinen Montmartre; in München dehnt sich von der Theresienstraße nordwärts der Stadtteil Schwabing aus. Das sind Wohnbezirke der Musen, traditionelle Brutherde der Genialität, und der Fremdling, der seinen Fuß in diese Viertel setzt, fühlt Herz und Hirn umwittert von modernen Kulturen, aufgerührter und aufrührerischer Geistigkeit, von freier Gesittung, spielerischem Ernst, Träumerei, Ungeniertheit, Überschwang und wahrer oder posierter Originalität. In Berlin mag eine ähnliche, von Musenküssen gesättigte Atmosphäre zur Zeit Devrients und E.T.A. Hoffmanns um den Gendarmenmarkt herum oder, ausströmend aus den Zirkeln der jungen Rahel, in der Gegend des Monbijou-Platzes spürbar gewesen sein, die neupreußische Residenz, erst recht die Reichshauptstadt, wuchs zu schnell, um der gemächlichen Kultur auf Kosten des Tempos der Zivilisation Heimstätten der Besinnung und des Behagens reservieren zu können. Eine gewisse Konzentration der Malerateliers und Dichtermansarden gab es allenfalls im Umkreis des Savigny-Platzes; doch muß dieser Umkreis schon nach Berliner Dimensionen gemessen werden, er zog sich über ganz Charlottenburg, Schöneberg und Wilmersdorf in gewaltigem Bogen um den Kurfürstendamm zum »Café des Westens«, und niemand wird behaupten, daß außerhalb dieses Etablissements die Straßenzüge des Berliner Hautevolee-Westens jemals vom Ingenium schöpferischen Sturmes und Dranges imprägniert gewesen wären. Montmartre und Schwabing sind nicht so sehr geographische wie kulturelle Begriffe; Berlin W ist wohl auch nicht gerade nur eine geographische Bezeichnung, aber eine kulturelle ...?
Als die Literaturgeneration, die heute zwischen sechzig und siebzig steht, so alt war wie ich in der Zeit des Flüggewerdens meines Pegasus, muß sie das Bedürfnis nach einem örtlichen Zusammenrücken ihrer Berliner Kampffront gegen die den Markt beherrschenden Eklektiker um Geibel und Heyse heftig empfunden haben. Ein Carl August, der ihnen etwa in Potsdam ein Weimar etabliert hätte, war Unter den Linden nicht ansässig. So bewiesen die Brüderpaare Hauptmann und Hart und die Brüderpaare in Apoll Holz und Schlaf, Bölsche und Wille, Strindberg und Przybyszewski und wie die Literaturrevolutionäre des Jüngsten Deutschlands alle hießen, daß es keines fürstlichen Maecenas und keines Hofstaates bedarf, um Genie zu Genie, Kämpfer zu Kämpfer in friedlichem Wettstreit zu gesellen. Am Müggelsee, in Friedrichshagen, wurde die Fahne aufgepflanzt. Ein Teil der jungen Stürmer siedelte sich dort an, die anderen kamen als regelmäßige Gäste, zum Diskutieren, zum Revolutionieren, zum Aufbauen und Schaffen neuer geistiger und sozialer Werte. Die Erinnerung an diese Zeit ist von anderen festgehalten worden. Als ich, 1902, nach Friedrichshagen zog, war sie noch springlebendig, doch aber schon nur als Erinnerung.
Jene Tage des jungen Naturalismus hatten in Friedrichshagen die revolutionär-literarischen und die revolutionär-politischen Tendenzen der Zeit einander bis zum Verschmelzen nahegebracht. Die Brüder Bernhard und Paul Kampffmeyer repräsentierten in dem Freundeskreis das aktive Element der radikal-sozialistischen Bewegung, die Dichter Karl Henckell und John Henry Mackay erweckten mit ihren Gedichtbüchern Trutznachtigall, Sturm usw. die revolutionäre Tendenzlyrik in Deutschland, Bruno Wille stand dichtend, philosophierend und politisch agitierend in beiden Lagern, und diese Mischung von Verträumtheit und Draufgängerei, die von damals her dem Namen Friedrichshagen seinen Programmcharakter gab, lag noch über den Müggelbergen meiner Spaziergänge.
Ich kam nach Friedrichshagen als Mitbegründer, Mitarbeiter und verantwortlicher Redakteur der Wochenschrift Der arme Teufel, als dessen Herausgeber Albert Weidner zeichnete. Weidner war von Hause aus Setzer, die Zeitschrift wurde dadurch materialisiert, daß er sich auf Abzahlung den erforderlichen Schriftsatz kaufte; seine Artikel flossen stets ohne Manuskript aus dem Kopf in den Setzkasten, währenddem ich dabeisaß und mir bei einer Tasse Kaffee und einer Zigarre das aktuell-satirische Gedicht abquälte, das unter dem Pseudonym »Nolo« jede Nummer beleben mußte, oder technische Redaktionsarbeiten erledigte. Doch gehören die Erinnerungen, die unmittelbar mit dem Armen Teufel verbunden sind, nicht in den Zusammenhang dieser unpolitischen Rückschau. Um so mehr gehört das übrige Erleben meines Friedrichshagener Jahres hinein.
Schon die Wohnung. Kurz bevor ich mein Köfferchen packte, um den großen Umzug zur Vorortstation einzuleiten, klagte mir Margarete Beutler ihre Not: Sie war im Begriff, nach München zu ziehen, wo sie bei den »Elf Scharfrichtern« auftreten sollte. In ihrer Schöneberger Wohnung stand ihr ererbtes Mobiliar, das sie aus Pietät nicht verkaufen wollte, dessen Transport nach München aber zu teuer war und das bei einem Spediteur einzustellen ihr ebenso sinnlos wie kostspielig schien. Wir lösten das Problem damit, daß ich in Friedrichshagen statt eines möblierten ein leeres Zimmer mieten sollte, worin ich die Möbel aufzustellen, zu benutzen und zu betreuen hätte. Zum Unglück fand sich in ganz Friedrichshagen kein leeres Wohnzimmer, sondern nur ein höchst primitiver Nebenraum zu einer Waschküche im Hofe eines Hauses in der Ahorn-Allee. Dort mietete ich mich ein. Ein Ofen war nicht vorhanden, auch keine Tapete, dafür aber eine Kalkwand, die früher von weißer Farbe gewesen sein sollte. Die Tür war ein gewaltiges, ungehobeltes Brett, außen wie innen ohne Klinke; sie schnappte beim Zuschlagen ins Schloß und konnte nur mit einem mächtigen Scheunentorschlüssel geöffnet werden. Der unbezahlbare Vorzug der Behausung war aber das Fenster, das, vom Hofe aus nicht erreichbar, in die das ganze Anwesen rückwärts abschließende Mauer eingelassen war und ins dichte Kieferngehölz hinauszeigte. Verließ ich mein Zimmer auf diesem Wege, so brauchte ich bloß einiges Gebüsch und Gestrüpp zur Seite zu kämpfen und befand mich auf der schönen Waldchaussee zwischen Friedrichshagen und Köpenick. So gelang es mir mehrmals, unwillkommenen Besuchern behördlicher Persönlichkeiten auszuweichen, und einmal konnte ich auch ein junges Mädchen aus dem Rheinland, dem es in unserer Friedrichshagener Gesellschaft besser gefiel als zu Hause, durch mein von keiner Straße sichtbares Fenster den Armen der ihr nachjagenden Mutter entreißen.
Unsere Gesellschaft! Eine gewisse Verwandtschaft mit der, die um das Jahr 1890 am Müggelsee gehaust hatte, war durch die enge freundschaftliche Beziehung des Kreises um den Armen Teufel mit den Künstlern und Schriftstellern, die den Ort reichlich belebten, von selbst gegeben. Die Rolle des Mittlers, der in beiden Lagern zu Hause war, fiel mir zu. Von der vorigen Generation hatten nur noch Bruno Wille und Wilhelm Bölsche ihren Wohnsitz in Friedrichshagen. Sie pilgerten Morgen für Morgen zusammen nach Rahnsdorf; einige wenige Male durfte ich sie begleiten und beobachten, daß ihre Gespräche nie um banale Dinge gingen, sondern literarische und zumeist naturwissenschaftliche Gegenstände betrafen, von denen Bölsche mit fröhlicher Forscherfreude, Wille mit der etwas pastoralen Würde sprach, die ihn nie verließ, selbst dann nicht, wenn sich die beiden unzertrennlichen Dioskuren einmal mit uns Jüngeren an den Zechtisch setzten; das geschah nur ausnahmsweise, aber diese Ausnahmen wurden in der »Klause« durch sehr ausgedehnte Sitzungen gefeiert, und an Trinkfestigkeit nahmen es die beiden Ehrensenioren durchaus mit uns auf.
Gleichzeitig mit mir war Fidus nach Friedrichshagen gezogen. Er hatte ein Haus gemietet, in dem es »umgehen« sollte. Fidus glaubte fest an okkulte Vorgänge, und sein Eifer, einen Spuk selbst zu erleben, hatte ihn veranlaßt, gerade dieses Haus zu beziehen. Er wurde auch nicht enttäuscht, denn er konnte uns bald erfreut berichten, daß das Gespenst regelmäßig erscheine, und zwar in Gestalt eines Lichtscheines, der sich trotz völliger Verdunkelung des Schlafzimmers Nacht für Nacht an den Wänden entlang bewegte. Eine Halluzination könne nicht vorliegen, da auch Frau Fidus die Erscheinung bestätigte und sogar der Säugling stets mit großen Augen dem tanzenden Lichtfleck zusehe. Später kündigte Fidus aber die Spukwohnung; er begründete den Verzicht damit, daß dem Gespenst gar nichts Neues einfalle, es käme immer bloß wieder mit dem abgedroschenen, närrischen Licht. Damals begann Fidus mit seinen eigenartigen Entwürfen zu seiner symbolistischen Tempelarchitektur. Ich gestehe, daß ich von den Erklärungen, die er mir von all den kreisenden Sonnen und Gestirnen zu geben versuchte, die in seinen Zeichnungen jetzt die halbreifen Mädchenakte ablösten, wenig begriffen habe. Viel amüsanter als in seinem Atelier war Fidus im geselligen Verkehr; doch war das Merkwürdigste an ihm die Sprunghaftigkeit, mit der er dort wie hier die Feierlichkeit mystischer Versunkenheit mit einem krassen Witz und die ausgelassenste Heiterkeit mit einer todernsten, wie aus dem Jenseitigen geholten Betrachtung durchbrechen konnte. Ein ähnliches Temperament, das sich freilich sowohl im persönlichen Verhalten als auch in der künstlerischen Auslösung völlig anders gab, habe ich später bei Gustav Meyrink wieder angetroffen.
Auf das Friedrichshagener Jahr geht auch meine Freundschaft mit Carl Rößler zurück. Der hieß noch Franz Reßner und war als Schauspieler bei Brahm am Deutschen Theater engagiert. Es hieß, er habe einmal ein wertvolles Revolutionsstück aus dem Jahre 1848 geschrieben; er selbst sprach nicht davon, ließ auch nicht merken, daß er seine Zukunft wieder auf das Schreiben von Theaterstücken stellen wolle. Als Bühnenkünstler sah ich ihn nur einmal wirken, das war, als Dr. Hermann Türck seine Hamlet-Auffassung, wonach der Dänenprinz den Typus des Genies darstelle, durch dramatische Vorführung zu bekräftigen versuchte. Franz Reßner hatte den König im Schauspiel zu spielen. Bevor er sich hinlegte, um sich von seinem Nachfolger das Gift ins Ohr träufeln zu lassen, trat er bedächtig an die Rampe, suchte unbefangen das Parkett entlang und nickte seinen Bekannten im Zuschauerraum freundlich zu. Rößlers Wohnung in Friedrichshagen war längere Zeit hindurch eine große Attraktion. Eines Tages nämlich war dort eine Fuhre mit Wein verschiedener erlesener Sorten abgeladen worden. Ein Reisender hatte sie dem Künstler aufgeschwätzt, und Rößler hatte, ohne noch zu berechnen, wie er den reichen Segen bezahlen sollte, die Bestellung aufgegeben, um den beredten Mann loszuwerden. Über diesem Wein schwebt heute noch ein Geheimnis, denn Rößler hat niemals eine Rechnung dafür bekommen, nicht einmal erfahren, welche Firma das gute Getränk geliefert hatte. Es ist bis zum letzten Tropfen mit der Angst bezahlt worden, die mächtige Kostenforderung würde doch eines Tages ins Haus flattern. An der Vertilgung des Weines habe ich mich redlich beteiligt, meistens in Gesellschaft von Rößlers alten Münchener Freunden Kunold und Julius Schaumberger.
Wo es einen guten Schluck galt, war auch Theodor Etzel zu finden. Durch sein Fabelbuch, das er kurz zuvor mit Hanns Heinz Ewers herausgegeben hatte, war er über Nacht zu einem literarischen Namen gekommen. Die »Überbrettl« von Wolzogen und Zickel erheiterten Abend für Abend ihr Publikum aus der Sammlung, die in teilweise ausgezeichneten Versen in der Form von Tierfabeln die konventionelle Moral mit satirischen Anrempelungen übergoß. Etzel hatte sich mit einer Freundin in Friedrichshagen angesiedelt und sonnte seinen jungen Ruhm an den Ufern des Müggelsees. Dieser Ruhm brachte ihm die Anstellung als Schriftleiter einer Revue ein, die Fröhliche Kunst hieß und eine Art Vorläufer der heutigen Magazine war. Ich führte in diesem Organ den Schüttelreim als poetische Spezialität in die deutsche Literatur ein und erhielt außerdem den Briefkasten der Redaktion für fingierte Antworten zugewiesen. Da erschienen denn Belehrungen wie diese: »Sie täuschen sich: Muskat ist kein Kartenspiel, sondern ein Obst.« Als ich aber einmal den Verleger der Fröhlichen Kunst in einer ruchlosen Anzapfung bei den Lesern denunzierte, weil er dauernd das Honorar schuldig blieb, wurde mir das Amt des Briefkastenonkels schleunigst entzogen. Auch der Chefredakteur Etzel kriegte kein Gehalt, und als der Weihnachtsabend da war, saßen wir zu dritt bei ihm auf der Bude, ohne einen Bissen im Magen und recht kläglich bei Laune. Das Mädel heulte schrecklich, weil nicht einmal ein kleiner Weihnachtsbaum auf dem Tisch stand, und so holten wir denn aus dem nahen Walde einen Föhrenzweig, der in einen Lampenzylinder gepreßt und alsdann in einem Stiefel auf den Tisch gestellt wurde. Da dieser Zynismus die Tränenflut nur noch heftiger entfesselte, beschlossen wir, die Weihe einer Familienfeier zu stören und zu sehen, ob wir nicht wenigstens zu einem Abendbrot kämen.
Um neun Uhr abends drangen wir bei Bölsche ein und erläuterten die Situation. Was uns Frau Bölsche an diesem Heiligen Abend an Braten, Äpfeln, Pfefferkuchen, Bowle und anderen Genüssen eingeflößt hat, läßt sich nicht schildern. Ein goldenes Zwanzigmarkstück setzte uns überdies in die Lage, noch mit der ganzen Friedrichshagener Kolonie beider Fakultäten in der Klause weiterzufeiern, bis wir am Vormittag des ersten Feiertags ins Bett sanken.
Natürlich war Friedrichshagen damals bevorzugtes Ausflugsziel unserer Berliner Freunde. Sehr häufig kam Peter Hille, und unvergeßlich sind mir die Wanderungen mit ihm durch den Wald, die uns oft bis Hoppegarten und noch weiter führten und bei denen er mir seine neuesten Gedichte, Novellen und Aphorismen vorlas, die er quer über Zeitungsblätter, auf Straßenbahnscheine, braune Tüten und irgend erreichbare Papierfetzen geschrieben hatte. Hier will ich auch eines verstorbenen Freundes gedenken, der mich oft in Friedrichshagen besuchte und dessen Dichtername zu unrecht ganz in Vergessenheit geraten ist. Es ist Wilhelm Lentrodt. Seine schönen, stillen Novellen sind vor langen Jahren bei S. Fischer erschienen; niemand liest sie mehr, niemand spricht mehr von ihnen, kaum jemand weiß noch darum. Wenn ich über Nacht in Berlin blieb – und im Winter flüchtete ich oft aus meiner unheizbaren Kalkbude nach Berlin –, gab mir Lentrodt meistens Quartier in seinem Zimmer in der Elsholzstraße. Er war einer der besten Menschen, die ich kannte. Einmal sprach uns spät nachts in der Potsdamer Straße ein Mädchen an; es war durchfroren und schon zu alt und häßlich, um noch viel von ihrem Gewerbe erhoffen zu können. Sie klagte, sie sei versetzt worden, wohne in Lichtenberg und könne nicht mehr nach Hause. Lentrodt lud sie ein, kochte noch einen Tee, räumte dem armen Weib sein Bett ein, verstaute mich trotz meines Protestes auf dem Diwan und schlief selbst, in eine Decke gehüllt, auf dem Fußboden. Am anderen Tage begleiteten wir den Gast noch bis Stralau-Rummelsburg und fuhren nach Friedrichshagen weiter.
Von völlig anderem Schlage war Arthur Moeller-Bruck, ebenfalls Stammgast in unserem Kreise. Er schrieb in unendlich komplizierten Satzgefügen unheimliche Wälzer über die moderne Literatur; den holländischen Adel vor seinem zweiten Namen und die völkische Rassentheorie hatte er noch nicht entdeckt. Persönlich war er ein netter Kerl und unbeschreiblich leichtsinnig. Er ging in sehr origineller Eleganz, Monokel im Auge, langer, grauer Gummimantel, Stöckchen mit silbernem Griff und hellgrauer Zylinder. Dabei hatte er kaum je fünfzig Pfennig in der Tasche, pumpte uns groschenweise an und lud uns, die ganze Schar vom Armen Teufel und von der Fröhlichen Kunst, eines Abends zu einem opulenten Souper in den Friedrichshagener Ratskeller ein. Als es ans Zahlen ging, überreichte er mit vornehmer Geste dem Kellner seine Visitenkarte. Wir haben unter monatelangem Schwitzen den Schaden durch Umlagen und Vergleiche mit dem Wirt ausgleichen müssen.
Im Frühjahr 1903 nahm mir Margarete Beutler Bettlade, Tisch, Stühle und Sekretär wieder ab. Ich räumte den Waschküchenbau und bezog in der Augsburger Straße, ganz dicht beim »Café des Westens«, ein möbliertes Zimmer, das die Stätte reicher Erlebnisse und starker innerer Förderung für mich geworden ist.