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Die Jahre von 1904 bis 1909 kann ich insofern meine Wanderjahre nennen, als es mir völlig unmöglich ist, ihre Erlebnisse und Begegnungen, selbst nur in der Reihenfolge der Reisen und des Wechsels der Wohnorte, chronologisch aufzuzeichnen. Erinnere ich mich dieses oder jenes Vorganges, der sich nur zu einer ganz bestimmten Zeit etwa in München zugetragen haben kann, so muß ich plötzlich feststellen, daß ich doch damals gerade in Wien oder in Zürich oder Ascona war, und ich sehe schon, daß ich endgültig darauf verzichten muß, Widersprüche zu vermeiden oder aufzuklären, die mir am Ende ein strenger Kontrolleur an Hand von Ansichtskarten oder Pumpbriefen im Hinblick auf meinen jeweiligen Verbleib möchte nachweisen wollen. Viel länger als ein halbes Jahr habe ich jedenfalls niemals in diesem Zeitraum hintereinander am gleichen Ort gewohnt, und auch diese Spanne wurde, glaube ich, nur einmal in Zürich erreicht und allenfalls noch in Berlin und München, den beiden Zufluchtstätten, zu denen es mich von überall immer wieder zurückzog.
München hatte ich während des Friedrichshagener Jahres zum erstenmal kennengelernt. Ich war gebeten worden, ein Kind von dort abzuholen und nach Berlin zu bringen. Der Aufenthalt dauerte nur ein paar Tage, Zeit genug freilich, um gleich eine Menge Bekanntschaften zu machen. Schon am Abend meiner Ankunft war ich zu den »Elf Scharfrichtern« mitgenommen worden und erfuhr bei ihnen die aufmerksamste Gastfreundschaft. Die berühmtesten Mitglieder waren damals gerade auf Gastreisen, darunter Marc Henry, Marya Delvard, Hannes Ruch (Richard Weinhöppel) und auch Frank Wedekind. Ihnen allen bin ich erst später begegnet; von ihnen allen wird noch zu erzählen sein. Beim ersten Besuch, 1902, begrüßte mich die in München zurückgebliebene Stallwache, außer Margarete Beutler, der von Berlin her befreundeten Betreuerin meiner Schritte, Ludwig Scharf, der, unversöhnt mit Welt und Schicksal, in pfälzerischer Aussprache seine grollenden Tschandala-Verse vortrug; ferner Paul Schlesinger (heute: Sling), der Ostpreuße Mantels, der Parodist der Geste; die liebenswürdige und hochbegabte Soubrette Olly Bernardy, ferner Hans Strick und Heinrich Lautensack. Ob Leo Greiner und Otto Falckenberg dabei waren oder ob ich auch sie erst bei meinen späteren Besuchen in München kennenlernte, weiß ich nicht mehr. Wohl aber weiß ich noch, wie ich am zweiten Abend aufgefordert wurde vorzutragen und wie am nächsten Tage Lautensack mir den Antrag überbrachte, Mitglied der »Elf Scharfrichter« zu werden. Ich habe es später oft bedauert, diesen Antrag ausgeschlagen zu haben. Hätte ich mich damals schon in München etabliert, wo es viel leichter war, sich durchzusetzen, als in Berlin, so wären mir sicher manche Existenzschwierigkeiten erspart geblieben, wenn auch die »Elf Scharfrichter« selbst ihre Glanzperiode schon hinter sich hatten. Die Verbindung mit München war immerhin hergestellt, auch die literarische. Unter den neuen Bekannten, die mir in jenen Tagen im Kabarett, im »Café Stefanie«, im Wittelsbacher Garten und in der »Dichtelei« vorgestellt wurden, befand sich auch Alexander von Bernus, der mit Adolf Danegger zusammen die Freistatt herausgab und mich zur Mitarbeit heranzog. Auch von dieser Seite her hätten sich mir in München bessere Aussichten geboten als in Friedrichshagen. Aber in Berlin war ein stärkerer Magnet wirksam als alle platonischen Münchener Hoffnungen, und der Gedanke an ein gewisses Mädchen ließ mich die Aussicht auf einen ungewissen Erfolg als Münchener Dichter verwerfen.
Als ich im Frühjahr 1904 Berlin zum erstenmal für längere Zeit verließ, hatte auch dieser Magnet seine Anziehungskraft längst eingebüßt. Die Neugier, andere Gegenden, andere Beziehungen, andere Anregungen kennenzulernen, überwog, und der Umstand, daß Johannes Nohl es irgendwie möglich gemacht hatte, nach Lausanne zu gehen und sich dort immatrikulieren zu lassen, und daß er mich voll Begeisterung ermunterte, auch ich müsse die Gletscher der Westschweiz, den Genfer See, Ouchy und Lausanne sehen, entschied die Frage, wohin der erste Schritt in die weite Welt zu lenken sei. Die Reisekosten ließen sich durch einen Zufall decken. Zu Anfang des Jahres hatte mich Leo von König gemalt. Das ausgezeichnete Vollporträt trug viel zum Ruhme des damals noch jugendlichen Impressionisten bei. Er wollte mir aus Erkenntlichkeit für mein geduldiges Modellstehen eine goldene Uhr schenken, worauf ich ihm vorschlug, mir lieber die Fahrkarte in die Schweiz zu kaufen, ich würde mich zu gegebener Zeit deswegen bei ihm melden. So geschah es. Ich machte erst sozialer Studien halber eine mehrwöchige Fußwanderung durch die Handwerksburschenherbergen beider Mecklenburg und holte mir dann von Leo von König mein Reisegeld ab. Für eine kleine Arbeit – ich hatte ihm für ein wissenschaftliches Werk auf der damals Königlichen Bibliothek Material zusammengesucht – erhielt ich überdies von Dr. Benedikt Friedländer ein Erkenntlichkeitshonorar von hundert Mark und fuhr, in allen Entschlüssen auch noch beschleunigt von einem verdächtigen Rückenwind, der mir aus der Gegend des Alexanderplatzes zu kommen schien, den nächsten materiellen Sorgen enthoben, in die Alpen.
Wollte ich mich darauf einlassen, die ungeheuren Eindrücke zu schildern, die die Landschaftsbilder des Hochgebirges, bald darauf die des Lago Maggiore und Italiens auf mich ausübten, dann käme ich mit dem sachlichen Bericht meiner unpolitischen Erlebnisse in absehbarer Zeit nicht vorwärts. Jeder der Sprache der Natur zugängliche Leser mag sich selbst ausmalen, wie einem nicht ganz phantasielosen Menschen zumute war, der noch keine höherragenden Erhebungen gesehen hatte als die Waldhügel des Teutoburger Waldes und sich fast unvermittelt vor die Felsenriesen der Hochalpen gestellt sieht, deren Gipfel und Hochflächen von ewigem Schnee flimmern, deren Gletscher erregend krachen und deren Lawinen donnernd zu Tal rollen. Nohl und ich liefen in den Weinbergen vor der Stadt umher, befreundeten uns mit den französischen und italienischen Arbeitern in dem von Tabakrauch und Weindunst vernebelten Lokal in einer Nische des Grand Pont, amüsierten uns über die englischen und deutschen Pensionatsfräulein, die in züchtigen Herden spazierengeführt wurden und dabei die niedergeschlagenen Augen den begegnenden Männern zukegelten, strichen ganze Nächte durch von Ouchy den See entlang zu immer neuen Entdeckungen und begaben uns, als nach etwa zwei Monaten einmal eine größere Geldsendung eintraf, auf die Fahrt zum Vierwaldstätter See und endlich auf die Fußwanderung nach Italien.
Diese erste Italienreise führte uns bis Genua, wo wir bereits ohne Geld eintrafen. Es gab arge Ungelegenheiten, denn auf die zahlreichen Briefe, die wir von unterwegs losgelassen hatten, um Freunde und Gönner zu veranlassen, uns postlagernd Mailand oder Genua weiterzuhelfen, hatte keiner reagiert. Von den höchst absonderlichen Abenteuern, die ich auf dieser Tour wie auf allen weiteren Reisen mit Johannes Nohl erlebte, will ich in diesem Zusammenhang kein Aufhebens machen. Es käme ein eigenes dickes Buch heraus, außerdem weiß ich, daß mein Fahrtgenosse dafür sorgt, daß sie der Nachwelt nicht verlorengehen werden. Nohl hat, wie er mir versichert, einen autobiographischen Roman in Arbeit, in dem dieser, im Moment des Geschehens oft sehr peinliche, in der rückschauenden Erinnerung zumeist sehr spaßige Teil meiner Erlebnisse festgehalten werden soll. Allgemein aber möchte ich sagen: Ich bereue heute nichts von allem, was mir dazu gedient hat, Neues zu sehen und das Leben, wie es sich eben darbot, auszuschöpfen. Wir haben manchmal jammervoll Kohldampf geschoben, das ist wahr, wir sind in ganz verteufelten Situationen gewesen, aber immer kam dann der Moment, wo man sich aus allem Übel wieder herausgeholfen hatte, wo man sich wie ein aus dem Wasser gezogener Pudel einmal gehörig schüttelte und dann über die Komik der überstandenen Geschichte unbändig lachte. Hätten wir nicht die unbekümmerte Leichtigkeit der Entschlußkraft gehabt, programmlos immer gerade so weit in die Welt hinaus zu reisen, wie zufällig das Geld für die Fahrkarten reichte, und die Frage des Quartiers und der Ernährung am Reiseziel dem Zufall und unserem guten Genius zu überlassen – wahrhaftig, ich säße jetzt da mit meinen fünfzig Jahren, hätte Florenz nicht gesehen und nicht Paris und müßte einer Jugend nachtrauern, die sich aus der Spießerangst vor einem bißchen Hungern und vor den Wanzen eines italienischen Absteigeasyls um ihre eigene Elastizität betrogen hätte.
Nach drei oder vier Tagen voll banger Sorgen, bitterer Entbehrung und vergeblicher Anstrengung, unsere Findigkeit zu rettenden Taten anzufeuern, kam unverhoffte Hilfe. Unter den Bekannten, die ich von unterwegs anzupumpen versucht hatte, war der damalige Berliner Stadtverordnete Dr. Rafael Friedeberg. Der schickte in eingeschriebenem Brief fünfzig Lire, und zwar nicht von Berlin aus, sondern von Ascona am Lago Maggiore. Dort, schrieb er dazu, habe er ein Häuschen erstanden, und wenn wir in die Nähe kämen, sollten wir doch nicht versäumen, ihn zu besuchen. Wir sahen uns an und lachten. Vor knapp einer Woche waren wir, zu Fuß den Lago Maggiore hinabwandernd, durch Ascona durchgekommen, ohne Ahnung davon, daß wir uns in unmittelbarer Nähe eines guten alten Bekannten aus dem Kreise der Neuen Gemeinschaft und dazu des hilfsfreudigsten Menschen unter der Sonne befanden. Dies Ascona war uns dadurch so gut im Gedächtnis, weil uns dort eine Erscheinung begegnet war, die in ihrer ganzen Zusammensetzung ebenso anachronistisch wie erheiternd wirkte: Eine dicke Staubwolke war aufgestiegen, ein schauerliches Klirren und Knallen wurde vernehmbar, ein scheußlicher Benzingestank wehte uns entgegen, und mit sonorem »Grüß euch Gott!« flog eine menschliche Gestalt vorbei, ein verzeichneter Christus, Bart und Mähne im Winde flatternd, Leinenkittel, Leinenhose bis zu den Knien, die behaarten Beine nackt und die Sandalen auf den Pedalen eines ungefügen, fauchenden Motorrades. Wir hatten uns Betrachtungen darüber hingegeben, wie dieser sonderbare Deutsche dorthin in den Tessin verschlagen sein möge. Jetzt also würden wir uns ja erkundigen können. Wir fanden uns natürlich nach wenigen Tagen in Ascona bei Dr. Friedeberg ein, nicht aber, ohne unsere Odyssee noch mit einer kleinen Schleife verziert zu haben, indem wir den Umweg über Lugano wählten. Ascona liegt etwa vierzig Minuten zu Fuß südlich von Locarno in dem Winkel, den das Maggia Delta an der Mündung in den Lago Maggiore bildet. Es ist nicht leicht, einen schöneren Fleck Erde zu finden, und der erste Aufenthalt dort hatte zur Folge, daß Nohl und ich, bald einzeln, bald gemeinsam, Jahr für Jahr dort ein paar Monate zubrachten. Der originelle Motorradler aber erwies sich als eine dem Charakter des Ortes durchaus zugehörige Figur. Lange vor uns nämlich hatten deutsche Lebensreformer die schöne Stätte entdeckt und dort Hütten gebaut, die sich allmählich sogar zu Häuschen ausgewachsen hatten. Vegetarier mit teils ernsten Lebensauffassungen, teils höchst spleenigen Erlösungsideen hatten sich an den Abhängen des Lago angesiedelt, bauten Obst, lebten von Rohkost, lobten den Herrn oder sich selbst. Ich habe im Jahre 1905 eine Schrift veröffentlicht, die den Titel führte Ascona. Eine Broschüre (Locarno, Verlag von Birger Carlson). Darin habe ich eine ganze Reihe der merkwürdigen Siedler zu porträtieren, die Atmosphäre Asconas und den Zusammenhang von Natur und Menschen aufzuklären versucht. Da habe ich auch erzählt, wie nach und nach aus dem Refugium einiger Individual-Ethiker als Dependance ein ethisches Kollektiv-Etablissement hervorwuchs, die Heil- und Erholungsanstalt »Monte Verità«, für die ich, da man dort mit nichts als rohem Obst und ungekochtem Gemüse gefüttert wurde, den Namen »Salatorium« in Umlauf brachte. Über die Gäste, die man in diesem geschäftlich wohl florierenden Unternehmen antraf, habe ich mich in Ascona. Eine Broschüre recht mißmutig geäußert; ich nannte sie die »ethischen Wegelagerer mit ihren spiritistischen, theosophischen, okkultistischen oder potenziert vegetarischen Sparren«, die »schmachtäugigen Blaßgesichter, die von morgens früh bis abends spät nur beflissen sind, in untadeligem Lebenswandel Leib und Seele im Gleichgewicht zu halten«. Dr. Friedeberg aber fand, nachdem er mich mit dem Stethoskop gründlich untersucht hatte, daß mir eine konsequente Kur auf dem Monte Verità sehr nützlich sein werde, und brachte mich zu dem Direktor der Anstalt, Herrn Oedenkoven, damit er mich in die Kur nähme.
So wurde ich zu den Rohköstlern gesteckt und mir eine »Lufthütte« als Behausung zugewiesen. Von früh bis spät kaute ich nun Äpfel, Pflaumen, Bananen, Feigen, Wal-, Erd- und Kokosnüsse – es war schauderhaft, und ich fühlte meine Kräfte schwinden. Vierzehn Tage hielt ich's aus, dann ging ich zum Direktor und klagte ihm, daß ich dabei zugrunde gehen müsse, »Oh«, sagte der, »das ist nur die Krise, die muß jeder durchmachen.« – »Aber«, meinte ich, »wenn ich nun die Krise nicht überstehe? Wenn ich dabei auf der Strecke bleibe?« Herr Oedenkoven sah mich streng an: »Das kann ja sein; aber dann ist gar nichts an Ihnen verloren!« Da ging ich ins Dorf hinunter, setzte mich in eine solide Osteria, ließ mir ein Beefsteak geben, trank einen halben Liter Wein dazu und rauchte danach eine große, dicke Zigarre. Nie hat mir eine Mahlzeit so geschmeckt, nie mich eine so gekräftigt und dem Leben gewonnen. Friedeberg ergötzte sich sehr, als ich ihm Bericht erstattete, und bezahlte willig die selbstverordnete Salatoriumskur.
Soweit ich den weiteren Verlauf meiner Erlebnisse der Zeit nach kontrollieren kann, kam ich noch im Sommer 1904 nach Zürich, wo so ziemlich mein gesamtes Tun und Lassen auf dem Wirkungsfelde lag, das hier unberücksichtigt bleiben soll. Auch Fritz Brupbacher, mit dem ich dort täglich zusammenkam, erwähnt mich in seinen jüngst erschienenen Erinnerungen eines Revoluzzers (Unionsdruckerei Zürich 1927) nur in solchem Zusammenhang. Im Winter des Jahres muß ich aber schon wieder in Berlin gewesen sein.
1905 war ich mit Nohl in Genf; es folgte unsere zweite italienische Reise, wiederum Ascona, Zürich und wenigstens ein paar Wochen München und Berlin. Im folgenden Jahr war ich zweimal je zwei Monate in Wien als Kabarettist engagiert, hatte zwischendurch in Berlin einen Prozeß zu bestehen und teilte die übrige Zeit zwischen München und Ascona. Das Jahr 1907 beherbergte mich die ersten Monate in München, wo ich nun schon heimischer geworden war. Im Sommer fuhr ich nach Ascona und von da aus nach Frankreich, von wo ich erst im Frühjahr 1908 zurückkam, und zwar nach Berlin. Das war wohl vor meiner ständigen Ansiedlung in München – 1910 – der letzte Berliner Aufenthalt, der sich über mehrere Monate erstreckte. 1909 war ich zum letztenmal am Lago Maggiore und sah Berlin nur wenige Male bei kürzeren Besuchen. Dann beruhigte sich mein Wandertrieb; ich war seßhafter Münchner geworden.
Von kleineren Fahrten, die mich aus beruflichen Gründen innerhalb Deutschlands in verschiedenen Gegenden umhertrugen, wird vielleicht gelegentlich einmal die Rede sein. Sonst aber will ich nicht erzählen, daß ich hier- oder dorthin gereist bin, sondern was ich hier und dort erlebt und erfahren habe. Von einigen Menschen möchte ich noch sprechen, die in den Wanderjahren meinen Weg gekreuzt haben, in Berlin und in Wien, in Paris und in München, von solchen zumal, denen nicht ich allein, denen ihre Zeit Dank schuldet.