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Es mag um Mitternacht gewesen sein, da überbrachte mir ein Kellner im »Café des Westens« eine Visitenkarte; der Herr stehe draußen und wünsche mich zu sprechen. Ich las den Namen Gustav Meyrink. Das mag Ende 1904 gewesen sein. Meyrinks Geschichten im Simplicissimus, geheimnisvoll, grotesk, gespenstisch, boshaft, witzig und funkelnd, regten zu jener Zeit die Phantasie der geistig bewegten Jugend mächtig an. Man stürzte sich über jede neue Nummer des Münchener Blattes, und stand ein neuer Meyrink drin, so war für etliche Abende Diskussionsstoff vorhanden. »Meyrink!« rief ich, die Visitenkarte in der Hand drehend, und eilte vor die Tür, gefolgt von den überraschten, neidischen und neugierigen Blicken meiner Freunde. Ihre Neugier wurde nicht befriedigt, denn der Dichter sträubte sich, mir ins Café zu folgen. Unsere erste Begegnung und unser erstes Gespräch wurde an der Ecke Kurfürstendamm und Joachimsthaler Straße im fröstelnden Nachtwind Ereignis.
Er komme eben von Prag, erklärte mir Meyrink, und sei im Begriff, in Wien die Redaktion eines Witzblattes zu übernehmen, das er auf literarische und künstlerische Höhe heben solle, des Lieben Augustin. In Berlin wolle er geeignete Mitarbeiter werben, und Hugo Salus habe ihm gesagt, er möge sich nur zum »Café des Westens« bemühen und mich fragen: Ich sei mit allen bekannt. Auf der Straße wurde nun eine Liste der aufzufordernden Dichter und Maler aufgestellt, ich verpflichtete mich, verschiedene Kandidaten des Lieben Augustin aufzusuchen und am nächsten Abend Bericht zu erstatten. So besuchte ich am folgenden Tage Freunde und Bekannte und eröffnete ihnen die erfreulichsten Aussichten auf neue Absatzgebiete ihrer Werke. Nur einen der von mir zu Keilenden lernte ich erst bei dieser Gelegenheit kennen. Das war Heinrich Zille.
Zille war noch gar nicht berühmt, aber wir Modernen liebten und schätzten ihn schon sehr, und Meyrink hatte auf seine Zusage ganz besonderen Wert gelegt. Ich fand ihn in einer Charlottenburger Proletarierwohnung, seine derbe, freundliche Frau mit den Kindern beschäftigt, und sein »Milljöh« strömte eine behagliche Molligkeit aus, in der keine Spur Atelierluft war. Ich mußte eine Tasse Kaffee mittrinken, und Zille, der bis dahin in einem industriellen Betrieb als Lithograph gearbeitet hatte, erzählte, daß er infolge seiner Beteiligung an einem Streik arbeitslos geworden sei und nun sehen müsse, von der Kunst zu leben, was ihm durchaus unangenehm zu sein schien. Wir gingen dann zusammen in eine Kneipe, und am Abend konnte ich Meyrink Zilles Bereitwilligkeit zur Mitarbeit am Lieben Augustin mitteilen. Wenn ich mich recht erinnere, brachte die erste Nummer des von Gustav Meyrink geleiteten Blattes auf der ersten Seite das berühmt gewordene Bild von Heinrich Zille, das das vor ihren Freundinnen renommierende schwindsüchtige kleine Mädchen zeigte: »Ätsch! Ich kann Blut in den Schnee spucken.«
Der liebe Augustin erschien mehrere Jahre, unter Meyrinks ausgezeichneter Redaktion. Einige hervorragende Karikaturisten fanden von dort aus den Weg ans Licht, unter ihnen Pascin. Mir war die Zeitschrift von hohem Nutzen, da sie eine Menge Gedichte von mir veröffentlichte und mir die Honorarsendungen oft genug das Weiterkommen auf meinen Wanderfahrten ermöglichten.
Von irgendwoher mal wieder für ein paar Monate nach Berlin zurückgekehrt, fand ich das »Café des Westens« baulich verändert, modernisiert und seiner früheren Gemütlichkeit einigermaßen beraubt vor. Der alte Künstlerstammtisch beim Eingang war in eine andere Nische gestellt, und seine ständigen Besucher erschienen nur noch sporadisch oder hatten sich verkrümelt. Dafür waren die marmornen Tischplatten, auf denen Ottomar Begas Wirt und Gäste in Pastell festgehalten hatte, unter Glas gesetzt worden, und ein Ölbild von Edmund Edel, auf dem Rossius-Rhyn, Hanns Heinz Ewers, ich und ein junges Mädchen meiner Freundschaft an vergangenen Glanz erinnern sollten, prangte an der Wand. Über der Telephonzelle aber verschönte die Gipsbüste Wilhelms II. das verjüngte Lokal und gab zu vielen, dazumal nicht ganz ungefährlichen Witzen Anlaß. Auch die Gesellschaft hatte sich gewandelt. Man saß nicht mehr im Kreise arrivierter Kulturträger, sondern zwischen zigeunernden Skeptikern und schönheitsdurstigen Lebensstilisten, selbst nicht mehr einer der Allerjüngsten und, in der zweiten Hälfte der Zwanziger, von manchen schon als überholt belächelt. Große Mode war der Ästhetizismus, die Müdigkeit, der Absinth, das Morphium, die Blasiertheit und in Liebesdingen jedwede Anomalie. Das Sinnlose wurde als Sinn des Lebens proklamiert, das Wesenlose als Wesen der Welt. Soziale Empfindungen waren Gegenstand spitzigen Spottes, Mitgefühl mit Leid und Gebresten war zulässig als Würze genießerischer Selbstbespiegelung. Ich galt als hoffnungsloser Rationalist, meine Anteilnahme an den Kämpfen und Sorgen der Arbeiterklasse als Verrücktheit oder Pose. Bleichsucht wurde für Vergeistigung gehalten, und man trug Orchideen als Sinnbild kranker Dekadenz. Wozu hier Namen nennen? Die Mode, die krasse Unnatur als Natur auszugeben, ist längst vorbei, und die damals die Ätherischsten waren, die mit einem Buch von Oscar Wilde unter dem Kopfkissen einschliefen und mit einem von Stefan George unter dem Arm und einer Opiumzigarette im Mund ins Caféhaus kamen – sind längst beim Film untergekommen oder bewahren in ihrem weiblichen Teil in ehelichen Züchten geborene Kinder vor den Versuchungen der bösen Welt.
Mein Bedürfnis, unter Menschen zu sein, verstärkt durch den Umstand, daß die dem Ästhetizismus ergebenen Frauen großenteils über viele Reize verfügten, mit denen sie, schon aus Gründen der Weltanschauung, nicht geizten, trieb mich Abend für Abend zu den Absinthtischen der schwelgenden Unproduktivität. Aber ich brauchte einen Ausgleich, brauchte gerade auch mit künstlerischen Menschen Umgang, deren Ehrgeiz nicht müder Verzicht, sondern lebendige Leistung war. Diesen Umgang fand ich in einem andern Caféhaus, da, wo sich nachmittags die Schauspieler einfanden, die Künstler, die nicht die Wirklichkeit verträumen, sondern aus Dichterträumen Wirklichkeit machen: im »Café Monopol« in der Friedrichstraße. Es war die Zeit der prachtvollsten Tätigkeit Max Reinhardts im Deutschen Theater. Alle seine Mitarbeiter fanden sich, bevor die Aufführung begann, im »Café Monopol« ein und füllten, an vielen Tischen verstreut, mit uns Freunden aus anderen Kunstbezirken und mit Bühnenkünstlern aus anderen Instituten – Max Martersteig, Giampietro, Poldi Deutsch usw. – den ganzen hinteren Raum des Caféhauses. Einzelne Herren der Schumannstraße waren täglich da, so Reinhardts Dramaturgen Arthur Kahane und Felix Hollaender und von den Schauspielern Gottowt, Feldhammer, Sidonie Lorm, gewöhnlich auch Moissi, Wegener, Schildkraut, und die übrigen größeren oder größten Reinhardt-Künstler waren doch wenigstens hin und wieder zu sehen: Gertrud Eysoldt kam und Lucie Hoeflich, Tilla Durieux, Adele Sandrock, Diegelmann, Waßmann, Biensfeldt, Victor Arnold, Kühne, Steinrück und viele andere. Reinhardt selbst habe ich dort, soweit ich mich erinnern kann, nicht getroffen, wohl aber die Direktoren anderer Theater, Victor Barnowsky und die unzertrennlichen Meinhard und Bernauer. Die Dichter kamen, deren Dramen gerade auf dem Spielplan standen, Ossip Dymow, Schalom Asch und in der kurzen Zeit, als Hermann Bahr bei Reinhardt als Regisseur wirkte, auch Arno Holz, dessen Sonnenfinsternis aufgeführt werden sollte, geprobt, monatelang geprobt und endlich vom Spielplan abgesetzt wurde. Angeblich war keine richtige Besetzung der weiblichen Hauptrolle zu erzielen, und die Aufregung über diese Frage und noch allerlei Kulissenkonflikte im Zusammenhange mit der Sonnenfinsternis hielt das ganze »Café Monopol« in Spannung und teilte sich uns allen mit. Eines Tages aber war ein anderer Konflikt an der Tagesordnung. Hermann Bahr verlangte vom Wirt, daß er einen Ecktisch des Cafés, an dem einmal zu aller Erstaunen kunstfremde Reisende vom Bahnhof Friedrichstraße Platz genommen hatten, ständig für uns freihalten solle. Das wurde verweigert. Die Auseinandersetzung nahm spitze Formen an, und so wurde der Boykott beschlossen. Hermann Bahr mit seinem gewaltigen Vollbart an der Spitze, mit ihm Franz Zavrel, ich und ein erheblicher Teil der Beleidigten – so geschah der Exodus in feierlichem Zuge zwei Häuser weiter, zum »Café Savoy«, wo uns willig die beste Ecke als Stammplatz eingeräumt wurde. Ich habe das wichtige Ereignis in einer Nummer der B.B.Z. um Mitternacht, der alljährlichen Faschingszeitschrift zum Bösen-Buben-Ball, für die Nachwelt festgehalten.
Diese Besuche in den verschiedenen Berliner Kulturzentren verteilten sich über Jahre und waren immer wieder von Reisen und kürzeren oder längeren Gastspielen an anderen Orten unterbrochen. So wechselten auch die Gestalten, die ich in den Caféhäusern Berlins antraf, und wie aus dem »Café Monopol« fand eines Tages aus dem »Café des Westens« ein Auszug statt. Teils vertrieben durch die Renovierung des Lokals, teils durch das hysterische Getue der Ästheten, etablierten wir unsere Korona im Café Sezession. Mein Freundeskreis dort war der literarische Zirkel, der sich um René Schickele und Ferdinand Hardekopf gruppierte. Ich denke gern auch an die schönen Nachmittage in der Wohnung Schickeles und seiner famosen Frau, die in Gesellschaft Hardekopfs, des Schauspielers Wlach, des Opernsängers Fleischer und der noch sehr jungen, von Geist und Witz sprühenden Lotte Pritzel oft in ernstem Gespräch, oft in ausgelassener Fröhlichkeit verliefen. Von der Zeit her sind mir einige Freunde bis heute geblieben, so Lotte Pritzel selbst, die beiden Schickele und der Maler Ali Hubert.
Die Untreue gegen das »Café des Westens« war nicht von Dauer, und als ich einmal wieder in Berlin erschien, fand ich die alten Gefährten alle wieder am alten Ort, den manche, wie der ahasverische John Höxter und der von Schnaps und Enthusiasmus immer geladene Dichter Rudolf Johannes Schmied, niemals verleugnet hatten. Der Deutsch-Argentinier Schmied war einer der originellsten Kerle, die ich je gekannt habe. Jeder, der mit ihm in Berührung gekommen ist, weiß Dutzende von Anekdoten von ihm zu erzählen, denn die ungeheure Beweglichkeit seines durchaus bedeutenden Geistes schuf aus jeder Begegnung mit ihm von selbst eine Anekdote. Er hat nur zwei kleine Bücher geschrieben, seine Kindheitserlebnisse, und hinter diesen feinen, klugen, zarten und humorvollen Geschichten von Carlos und Nikolas vermutet niemand als Verfasser einen ewig besoffenen, immer glücklichen und doch stets seinem Glück mißtrauenden, die Realität des Lebens aufs tiefste verachtenden Künstlermenschen. Sein Glück freilich hatte nichts mit materiellen Dingen zu tun. »Bist du mein Freund?« fragte er treuherzig, und hatte man es ihm versichert, so erklärte er: »Dann gib mir eine Mark.« – »Mühsam«, sagte er einmal, »ich weiß nicht, ob du begütert bist. Ich besitze zwei Mark. Hast du Geld, so gib mir die Mark zum Taler, hast du keins, so bekommst du eine von mir.«
Schmied war von seiner Genialität absolut überzeugt, wenn er sich selbst auch gestattete, sie zu ironisieren. »Ich glaube nicht an Genies«, sagte gelegentlich ein Tischgenosse. Rudolf Johannes sprang auf und bohrte ihm den Zeigefinger in die Weste: »Was haben Sie gegen mich?!« fuhr er ihn an. Die großen Werke der Weltliteratur beurteilte er nach ganz eigenen Gesichtspunkten, nie nach dem künstlerischen Wert, stets aus der Einfühlung in die Persönlichkeit des Dichters. Er las Dantes Neues Leben, das ihn tagelang ausschließlich beschäftigte. Plötzlich meinte er: »Angenommen, daß Beatrice eine blöde Gans war, dann ist Dante blamiert, tief blamiert!«
Am amüsantesten war es, Rudolf Johannes Schmied in der Gesellschaft des großen Lebenskünstlers Friedrich von Schennis zu genießen. Schennis betrat das »Café des Westens« verhältnismäßig selten und immer erst in später Nachtstunde. Dieser Mann, eine Mischung von Aristokrat, Zigeuner, Anarchist, Künstler, Menschheitsverächter, großem Liebenden und Leidenden, wirkte in der Erscheinung, im Benehmen und in der Lebensführung anachronistisch und unwirklich. Aus dem zerrissenen und doch ebenmäßigen langen Gesicht mit den grauen Haaren und dem dünnen grauen Schnurrbart leuchteten große tiefe blaue Augen; die Hände waren übermäßig lang und schmal, und man sah die Adern auf den Handrücken hervortreten. Allerdings sah man sie nur selten. In der Regel trug Schennis Zwirnhandschuhe mit Ausschnitten an den Fingerspitzen, so daß die langen, gepflegten Fingernägel herausstaken. Die Handschuhe behielt er gewöhnlich auch beim Trinken an, ebenso behielt er den gelbbraunen runden Hut auf dem Kopf. In der Berliner Nationalgalerie hängt ein Gemälde dieses außerordentlichen Mannes, das der Katalog als Verfallener Park vermerkt. Schennis konnte kein treffenderes Symbol der eigenen Persönlichkeit wählen. Er schien mir das wandelnde Sinnbild einer längst gestorbenen Kultur zu sein, er, der bei aller Freiheit von den Vorurteilen seiner Kaste doch ein wenig stolz darauf war, daß in ihm der letzte Sproß eines Adelsgeschlechtes lebe, das älter sei als die Habsburger. Es wäre wenig ausgesagt von Friedrich von Schennis, wollte ich erzählen, wie ich bald mit ihm im Kreise grölender Kutscher, bald unter den anspruchsvollsten Geistern Berlins gezecht habe und wie er mit seinen kurzen hohnvollen Bemerkungen mit unfehlbarer Zündkraft die Situation glossierte, einen Menschen etikettierte, eine Anzapfung erledigte. Zwischen ihm und Rudolf Johannes Schmied herrschte, da ihre Art des schlagenden bildhaften Ausdrucks ziemlich ähnlich war, eine leichte, aber von großer gegenseitiger Sympathie gemilderte Rivalität. Schmied litt darunter, daß man ihm nachsagte, er kopiere Schennis. Einmal platzte er damit los: »Du kopierst mich, Schennis – nicht umgekehrt!« Der alte Maler machte seine charakteristische knipsende Handbewegung. »Kalb!« sagte er nur. »Ochse!« replizierte Schmied wütend. Da war Schennis beleidigt. »Ochse?! Ochse?! Das mir?!« Er schlug sich mit den flachen Händen an den Kopf und wollte gehen. Da lenkte der andere bescheiden ein: »Bitte sehr, der Ochse ist die Sehnsucht des Kalbes!« Die Versöhnung war hergestellt und wurde gewaltig begossen.
Ich habe mit Schennis nicht nur schrankenlos gekneipt, ich habe unvergeßliche Stunden auch in seiner Wohnung am Lützowplatz verlebt. Da zeigte er mir seine Radierungen und Bilder und die reichen Schätze seiner Sammlungen: Münzen, Gobelins, Miniaturen. In jedem Stück lebte die Zärtlichkeit des Sammlers, und von jedem Stück erzählte er, seine Worte mit den ihm eigenen flatternden und doch starken Gesten begleitend, mit der Liebe, die sonst lebenden Wesen gehört. Später zog Schennis um, und ich kam in sein neues Atelier im Tiergartenviertel, als er noch kaum fertig eingerichtet war. Da traf ich ihn bei einer sonderbaren Beschäftigung. Er übte von einem Stuhl aus, seinen runden Hut auf eine etwa zwei Meter entfernte Ottomane zu werfen, und erklärte mir völlig ernsthaft, er sei es so gewohnt gewesen in der alten Wohnung und müsse sich jetzt auf die neue Entfernung umstellen. Ich kann nicht beurteilen, wie hoch die Gemälde und Radierungen des Künstlers zu bewerten sind. Aber ich weiß, daß Friedrich von Schennis als Mensch ein Künstler von allerhöchsten Graden war und als künstlerische Gestalt die Elemente des Gösta Berling, des Crampton und wohl auch eines wahrheitsliebenden Münchhausen in sich vereinigte, ein Mensch von Geist und Feuer, voll Liebe und Leid und voll verschüttetem Tatendrang.