Erich Mühsam
Unpolitische Erinnerungen
Erich Mühsam

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Rummelplätze des Geistes

Während all der Jahre, in denen ich, mitwirkend und beobachtend, teilhatte an den Angelegenheiten, die Münchens literarisches, künstlerisches und kulturelles Leben bewegten, erinnere ich mich keiner Zeit, in der nicht zu allen bestehenden, teils der Ergänzung, teils der geistigen Erneuerung wegen, neue Zusammenschlüsse, Zirkel, Klüngel, Vereine und Klubs erörtert, geplant, vorbereitet oder geschaffen wurden. Die Notwendigkeit dazu war für manche Leute immer gegeben, die Beteiligung vieler Freunde aus verschiedenen Kreisen stets durch die in München mehr als anderswo zum Lebensstil erhobene Erkenntnis verbürgt, daß Abwechslung Spaß macht.

Es genügte, daß Artur Kutscher eben mit dem Studium der literarischen Gesellschaften Münchens in der Zeit der Blüte des Neuklassizismus mit Emanuel Geibel und Paul Heyse an der Spitze beschäftigt war und hierbei auf die vergnügten Kneipereien ihrer Tafelrunde im »Krokodil« stieß, um das unabweisbare Bedürfnis zu begründen, eine neue Kulturgemeinschaft unter dem Namen »Das junge Krokodil« ins Leben zu rufen. Im Ratskeller wurde für jeden Montag ein Tisch gechartert, und das Glück wollte, daß der Maler Berthold Körting gerade zu einer Afrikareise aufbrach und uns bei der Rückkehr ein selbsterlegtes, sehr niedliches und haltbar präpariertes Alligatorjunges mitbrachte. Das Tierchen wurde montags abends zur Verwunderung der Fremden, welche aus den kitschigen, öden Saufbildern in Familienwitzblattmanier an den Wänden des Ratskellers Münchener Humorigkeit sogen, an einem Beleuchtungskörper aufgehängt, und unter seiner Leiche nahmen wir Platz. Der Kreis unterschied sich von dem der »Torggelstube« hauptsächlich dadurch, daß dieselben Männer, mit denen man sich sonst dort oder auf der Kegelbahn traf, hier mit ihren Frauen einzukehren pflegten. Wedekind und Halbe, seit kurzem zu der zwar immer gefährdeten, aber nicht mehr ernstlich erschütterten Aussöhnung gelangt, die dann bis zu Frank Wedekinds Tode anhielt, waren regelmäßige Gäste im Jungen Krokodil. Bernhard von Jacobi kam mit seiner jungen Frau und Ludwig Scharf mit seiner ungarischen Gräfin. Der Dramatiker Bernhard Rehse und der von ersten Bühnenerfolgen verklärte Lustspieldichter Wilhelm C. Stücklen erschienen und der Graphiker Hubert Wilm. Mein eigener enger Freundeskreis war durch Albert Weisgerber, Walter Ziersch und C. G. von Maaßen vertreten, – und das Haupt der Vereinigung war neben Dr. Kutscher der von Sturm und Drang der Frühzeit zu bürgerlicher Beschaulichkeit abgeklärte Lyriker Karl Henckell. Weniger regelmäßig, aber doch häufig genug, um dem Jungen Krokodil zugehörig gelten zu können, sahen wir Kurt Martens, Hans von Weber, Gustav Meyrink und Roda Roda, und mancher literarische Neuling roch dort zum erstenmal die Ausdünstung angesammelter Berühmtheit, die uns allen einmal als Ozon aus dem Genienparadies erschienen war, bis wir der philiströsen Ranzigkeit auch dieser Atmosphäre gewahr wurden. Der noch sehr jugendliche Alfred Henschke, der damals – es wird 1911–12 gewesen sein – seine ersten Klabund-Verse in Druck gab – ich glaube, ich hatte ihn zum Jungen Krokodil mitgeschleppt –, hat später mal irgendwo solche enttäuschenden Eindrücke beschrieben, wie er sie im Ratskeller zu München unter dem toten Alligator empfangen hatte.

Es gab auch hier gute Abende, ausgezeichnete Meinungsklärungen, wertvolle Bereicherungen des Urteils, witzige Bemerkungen und Bosheiten. Die Durchsetzung der Gesellschaft mit Damen trug aber nicht dazu bei, die geistigen Ansprüche, die man anderwärts an sich selber stellte, zu steigern. Dies bedeutet beileibe nicht, daß ich etwa die lächerliche Anmaßung übernehmen wolle, die die allgemein geistige Überlegenheit des Mannes behauptet. Frauen, die als Persönlichkeiten von eigenem Wert in unsrer Gesellschaft verkehrten, wie die geistvolle schöne Catherina Godwin, konnten es wahrhaftig an Intelligenz und kritischem Blick mit manchem Mann von klingendem Namen aufnehmen. Ich erinnere mich auch eines sehr schönen Abends im Ratskeller, als Yvette Guilbert in München zu Gast war und Frank Wedekind sie uns zuführte. Die meisten Damen des Kreises aber waren ja nur deshalb Damen des Kreises, weil sie Frauen der Männer des Kreises waren. In einer Gesellschaft von geistig erlesenen Frauen drücken deren Männer nicht minder aufs Niveau als umgekehrt. Genies sind weder in einem noch im andern Geschlecht die Regel, und die Frauen, die zwischen bedeutende Männer geraten, wissen sich gewöhnlich leichter, unbefangener und graziöser in ihre Gesellschaft einzufügen und den Gesprächen eine allen zusagende Richtung zu geben als Männer, die sich in eine geistreiche Damengesellschaft verirren, oder Spießbürger, die überhaupt aus ihren Niederungen in höhere Bezirke verschlagen werden. Die Unterhaltungen im Jungen Krokodil bewegten sich gemeinhin auf den Ebenen des vom Dunstkreise des Kunstlebens umwobenen Klatsches und, wie es Maupassant einmal ausdrückt, in den blumigen Anlagen der verfeinerten Zote. Eine Wiederbelebung des »Krokodils« von ehedem ist aus dem Stammtisch im Ratskeller nie geworden. Kein so hübsches Gedicht wie Geibels »Lustiger Musikante« ist von unsrer allwöchentlichen Amphibiengemeinschaft übriggeblieben, und die überlieferten Gesellschaftsspiele unsrer Vorläufer vor sechzig Jahren, die in entzückenden Stegreifreimereien und Wortkunststücken doch irgendeinen Niederschlag fanden, übten wir – einige von uns – außerhalb mondän organisierter Geistesspringbrunnen. (Zum Beispiel: der »Sonettklub Mühsam-Maaßen«. Es wurden nach Platenschen Formregeln sprachlich vollkommene Sonette gedichtet, von denen wir abwechselnd Zeile für Zeile aneinanderfügten und so ohne Abrede über den Inhalt Gedichte entstehen ließen, deren jedes einmal, wie es der Zufall ergab, einen Mädchennamen enthalten mußte. Es müssen mehrere Dutzende dieser meistens etwas lasziven Gedichte vorhanden sein, die von unserem gemeinsamen Freund, dem medizinischen Forscher und Literaturhistoriker Dr. Erich Ebstein-Leipzig, mit andern unserer literarischen Privatvergnügungen gesammelt worden sind.)

Eines Tages entdeckte der Schauspieler August Weigert, daß es in München noch keinen Bühnenklub gab. Seinem Eifer gelang es in erstaunlicher Schnelligkeit, ein hervorragend geeignetes Klubhaus in der Kanalstraße nebst den dazu passenden Möbeln, Spieltischen, Vereinsmitgliedern und Geldgebern aufzutreiben. Die Befürchtungen der »Torggelstuben«-Kassiererinnen, die Stätten ihrer Wirksamkeit – die Domänen der Dämonen nannte sie mein Freund Ferdinand Hardekopf – würden nun aussterben, erwiesen sich zum Glück als unbegründet. Immerhin war ein neuer Rummelplatz des Geistes entstanden, auf dem sich die Grazien Schwabings mit allen Münchener Musen und mit den Teufeln des Alkohols und des Kartenspiels balgten. In München waren die Schranken zwischen den Vertretern der verschiedenen Kunstgattungen niedriger als irgendwo. Daher war auch der Bühnenklub dort viel weniger Schauspielerheim als etwa in Berlin, wo, wenigstens in der Vorkriegszeit – seitdem war ich Unter den Linden nicht mehr zu Gast –, die Bühnenkünstler stets die unbestrittenen und unverkennbaren Hausherren waren, die mit der ihren Beruf auszeichnenden Herzlichkeit dem Besucher aus den benachbarten Gebieten Gastfreundschaft erwiesen. Da sorgte Gustav Rickelt in eigener Person dafür, daß man in angemessener Gesellschaft einen angemessenen Tropfen bekam, und die Gespräche gingen um Engagements, Stücke, Kulissenereignisse oder Liebesangelegenheiten unter der Kollegenschaft. Auch war der Berliner Bühnenklub eine streng abgegrenzte Männervereinigung; Frauen hatten meines Wissens zu den Räumen keinen Zutritt. Das wäre in München nicht durchzusetzen gewesen. Die traditionsbesorgten Theatermitglieder in der Kanalstraße konnten nur erkämpfen, daß einige bestimmte Räume dem Zutritt von Damen entzogen wurden, um in ihnen die Feierlichkeit würdiger Männerunterhaltungen über die Frauen nicht dem Hineinwehen wirklicher erotischer Luft auszusetzen. Die eigentlichen Gastgeber in unserem Klubhause waren aber gar nicht so sehr die Theaterkünstler wie die Theaterstammgäste, als Maler, Bildhauer, Musiker, Dichter und Schriftsteller, dazu die große Menge Rechtsanwälte, die in München das Hauptkontingent der Premierentiger stellten. Sie alle fühlten sich als Herren im Bühnenklub, und kam Gustav Rickelt einmal nach München, dann war der Präsident der Deutschen Bühnengenossenschaft der gefeierte Gast zahlloser erfreuter Klubwirte, deren geringster Teil seine Berufskollegen waren.

Die Aufzählung von Namen der ständigen und gelegentlichen Besucher des Münchener Bühnenklubs, selbst wenn ich mich auf Berühmtheiten beschränken wollte, würde viel Platz in Anspruch nehmen. Die Tischgenossen aus der »Torggelstube« fanden sich wohl alle ein, dazu alle, die zum Theater in etwelcher unmittelbaren oder mittelbaren Beziehung standen, ausgenommen die wenigen, welche sich zu Possart und seinem Einflußkreis enger hingezogen fühlten als zu den Bekennern modernen Geistes. Von manchen meiner Freunde weiß ich kaum mehr zu sagen, ob ich sie öfter im Klub oder am Weintisch gesehen habe, wie den Direktor der Münchener Kammerspiele Erich Ziegel und seine Frau Mirjam Horwitz, die Schauspielerinnen Rosa Valetti, Emilia Unda, Anni Mewes, Helene Ritscher und andre. Viele berühmte Gäste aus Berlin traf man nur im Bühnenklub, so habe ich meine persönlichen Eindrücke von der privaten Wesensart eines Mannes wie Ferdinand Bonn nirgends anders als in der Münchener Kanalstraße schöpfen können, wobei mein Urteil ungefähr zu dem Ergebnis gelangte, daß sich hier die ziemlich heterogenen Eigenschaften eines pathetischen Despoten wie Ernst von Possart, eines naiven Marktschreiers wie Danny Gürtler und eines wirklichen Künstlers zu einer halb spaßigen, halb betrüblichen Mischung vereinigten. Alte Bekanntschaften aus der Berliner Zeit wurden im Bühnenklub aufgefrischt, wenn etwa Herbert Eulenberg durch München kam und sich von dem alten treuen und gemütsweichen Alfred Mayer betreuen ließ. Manche Fremde fühlten sich dort wohler als in öffentlichen Lokalen, und besonders in der Kriegszeit noch gab es im Bühnenklub Auseinandersetzungen, die woanders kaum so ungefährdet hätten geführt werden können. Wedekind, von Berlin zurückgekehrt, erzählte, wie es in der deutschen Gesellschaft von 1914 zugehe, wo die Eingeweihten einander heimlich pessimistische Neuigkeiten zuflüsterten. Oder ich brachte Martin Andersen-Nexö hin, und ungläubige Ohren hörten zum ersten Male einen unbefangenen Ausländer seine Ansichten und Voraussagen äußern. Damals wurden die Klubräume, besonders in der zweiten Hälfte der Kriegszeit, zu einer wahren Zuflucht von Menschen, die sich aus allen abgestempelten Urteilen über das Geschehen in der Welt nach Aussprache, Kritik, Abwägung der Meinungen, vorurteilsloser Aufklärung sehnten. Ich erinnere mich höchst lebendiger und fruchtbarer Erörterungen mit dem Philosophen Scheler, und wenn mich mein Gedächtnis nicht stark trügt, so war es auch hier, wo ich ungefähr 1916 zum erstenmal mit Walter Rathenau zusammenkam, sicherlich nur zu allgemeinen Gesprächen über Kulturfragen, jedenfalls nicht zu so wesentlichen Auslassungen, wie ich sie kurz vor der Errichtung der bayerischen Räterepublik in einem rein politisch zusammengesetzten engen Kreise aus Rathenaus Munde hörte.


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