Alexander Moszkowski
Das Geheimnis der Sprache
Alexander Moszkowski

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Arten und Unarten

Es liegt nicht im Plan dieses Buches, die Eigentümlichkeiten des Stils wie die Gegenstände eines Museums in irgendwelcher Vollständigkeit auszulegen und sie mit Lob, Zurechtweisung, Analyse und Satire zu bedenken. Ich widerstehe dieser Versuchung schon deshalb, weil man sich mit solcher Behandlung leicht ins Schulmeisterliche verliert und in Gefahr gerät, Nebendinge für literarisch wichtig zu nehmen. Unsere Betrachtungen galten und gelten den Fernblicken, wenigstens der Absicht nach. Aber auch der Wanderer, der den Aussichtspunkten zustrebt, wird hin und wieder einen Quarzsplitter vom Wege aufnehmen oder einen Halm abzupfen; so nur mag es verstanden werden, wenn wir hier einige Besonderheiten herausgreifen.

Im großen und ganzen kann man sagen: Stilschönheiten fallen nicht auf. Wer sie zu bieten vermag, dem erfließen sie so selbstverständlich als Zeichen der Gedankengüte und Gedankenfülle, daß sie in der Regel als hervorstechende Einzelwesen gar nicht auftreten können. Sie stehen immer dicht bei einander; und wer sie in getrennter Schönheit auf sich wirken läßt, verfährt nicht wesentlich anders als ein Betrachter, der auf flutendem Meer eine einzelne Woge als besonders gelungen empfindet.

Die Häßlichkeit im Stil, die Schrulle, das unbegründete Wagnis, die offenbare Entgleisung fallen auf, können Ärgernis erregen, beanspruchen aber doch noch Vorsicht in der Beurteilung. Ihr vereinzeltes Auftreten ist gleichgültig. Aber selbst dort, wo die Auffälligkeit in gewollte Manier überzuschlagen droht, könnte ihr Urheber selbstherrliche Rechte geltend machen, und oft genug wäre es verfehlt, ihm zuzurufen: das geht nicht, so schreibt man nicht, das darfst du nicht! Als Wagner mit seinem Rheingold-Deutsch herauskam, spritzte es den Ironikern nur so aus den Federn. Sie bewiesen, sie spießten, sie führten glänzende Florettstöße gegen die Schrulle, mit dem Erfolg, daß sich die vermeintliche Unart als bedeutsame Art durchsetzte. Und der glänzende Stil jener Spießer wirkt heute flau wie ihre Beweisgründe, die uns nicht mehr als stahlscharf, sondern als vernunftledern erscheinen.

Heut wird gegen andere Stilsünden scharfgemacht, so gegen die abgehackten Sätze. Für ihre Sonderart hat Konrad Fischer in einer lesenswerten Abhandlung den witzigen Ausdruck »Der asthmatische Stil« aufgestellt. Ich entnehme diesem Aufsatz (in der Zeitschrift des Allg. Deutschen Sprachvereins vom Dez. 1917) einige Beispiele aus Ganghofer, Rudolf Stratz und anderen:

Sie ritten im Nebel vorüber. Und verschwanden im Grau. – Das war nicht lieblich. Aber hilfreich. – Ich erschrecke vor Ratten. Weil mir ekelt.– Gute Vettern sollten sich zuweilen besuchen. Um sich auszusprechen.

Ich habe das Meine getan. Wirklich das Äußerste. – Es sah schlimm aus. Wie ein Schlaganfall. Oder wenigstens wie eine Ohnmacht. – Jetzt bleibt er fest. Ist hart. –

Aber da saß ein Feldgrauer. Am Ostersonntage. In einer Kirche. Auf einer Bank.

Das kann natürlich bei Nachtretern zu Mißbrauch und Lächerlichkeit führen. Der gedankenlose Stilfex hält den Satzstummel für das Wesentliche und stümmelt auf eigne Hand darauf los mit möglichster Konstruktions-Ersparnis. Seine Sprache wird dann merklich asthmatisch, aber nicht deshalb, weil den Sätzen, sondern weil den Gedanken der Atem fehlt.

Der abgerissene Satz an sich zeigt weder Symptome einer Krankheit, noch überhaupt Kennzeichen eines Stiles. Erst durch den Zusammenhang, durch Absicht und Bau des Ganzen wird erkennbar, ob er durch Marotte, durch Unvermögen oder durch künstliche Eingebung entstand. Die gesamte Literatur wimmelt von Abgerissenheiten, und in ihren höchsten Entzückungen neigt sie, um das Wort beizubehalten, zum Asthma: Freudvoll und leidvoll – Gedanken voll sein; – Langen und bangen – in schwebender Pein, – Himmelhoch jauchzend, – Zum Tode betrübt – – ist auch konstruktionslos frei in die Luft hingestellt. Werthers Schluß ist mit der Axt gehauen: Der Alte folgte der Leiche und die Söhne. Albert vermocht's nicht. Man fürchtete für Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet. Goethe hätte das auch stilistisch fein gliedern und in verbundener Konstruktion ausbauen können; aber er wollte nicht mörteln, sondern unbehauene Quadern türmen. Der Dänenprinz ist nach Aussage der Königin »fett und kurz von Atem«; auch seine Rede? Sterben – schlafen – Schlafen! Vielleicht auch träumen! – Ja, da liegt's – – das klingt sehr kurz und abgerissen, ist aber nicht asthmatisch, sondern wuchtig, lapidar. Isoldes letzte Worte: ertrinken – versinken – unbewußt – höchste Lust – – konstruiert das Ohr da noch rückwärts, um eine Verbalverbindung aufzuspüren? nein, hier herrscht Satzverzicht, und das Einzelwort entledigt sich der letzten Fesseln. Bei Friedrich Theodor Vischer: »Hund eingetan: Pudel. Lustig und doch sehr rationell. Gutes Vieh. Rührend.« Ein klassischer Fall von Asthma, der gerade so bedeutungsvoll auftritt, weil er den Einwand hervorlockt: »Aber das ist ja Tagebuchstil!« Nur daß dieser Einwand Grund und Folge vertauscht: Vischer wählte den Rahmen des Tagebuchs, um den asthmatischen Auftakt zu gewinnen. Man lese nur die Stelle weiter, um die hohe künstlerische Wirkung wahrzunehmen, die durch den kurzatmigen Auftakt eingeleitet wird. Da sitzt ein Geheimnis der Stilmeisterschaft und zugleich ein Beweis von der Untrennbarkeit stilistischer und gedanklicher Edelwerte. – –

Bedenklicher als der asthmatische erscheint mir der Taumelstil, zu dessen Kennzeichnung wohl noch ein schärferer Ausdruck zu finden wäre. Ich nenne ihn einstweilen so, um auf den Zustand eines Schreibers hinzudeuten, der zwischen einzelnen Worten keinen Halt zu finden weiß, so daß seine Satzgebilde windschief geraten, wackeln und wie besinnungslos dahintaumeln. Hier einige Beispiele ohne Nennung der Urheber, auf deren Namen es in diesem Zusammenhang nicht ankommt:

»Einen blutigen Zynismus, wie ihn auf dem russischen Thron nur das Scheusal Iwan, dem die Geschichte den Beinamen des Grausamen beigelegt hat, bewies, trägt jetzt wohl wider seinen eigenen Willen in Rußland X. X. zur Schau.«

Die drei verhedderten Zeitworte »hat bewies trägt« bewirken, daß der ursprünglich klar gedachte Satz aus dem Gleichgewicht gerät und vor den Augen des Lesers umkippt.

»Schwachsichtigkeit, die die Folge von Verletzungen, welche die Hornhaut erlitten hat, ist, ist heilbar, wenn es dem Arzt gelingt usw.«

–   –   –

»Das Manöver ging darauf aus, durch geschickt erfundene Kabeldepeschen, die von London aus durch Vermittelung der unter britischem Einfluß stehenden Agenturen nach Amerika befördert wurden, die Handlungen der deutschen Regierung zu verdächtigen . . . Man darf mit Sicherheit behaupten, daß das durch die zielbewußten verleumderischen Machinationen der Engländer genährte und geschürte Mißtrauen, das damals in Washington Wurzel faßte, trotz aller von Berlin aus ergangenen Aufklärungen und freundschaftlichen Beteuerungen seit jener Zeit bis zur Gegenwart unausrottbar fortbestanden hat.«

Im Schachtelsatz ereignet sich ein Unglück selten allein. Wo sich Zeitwörter und Bindewörter ineinander verfilzen, treiben gewöhnlich auch die Präpositionen allerhand Unfug. Ihr Durcheinanderwirbeln verursacht zumeist den Eindruck des Taumeligen; denn eine Präposition soll Richtung geben, und wer in einem Atemzug drei, vier, fünf verschiedene Richtungen einschlägt, der bewegt sich direktionslos. Der gute und hohe Stil verfällt oft in Eigenheiten, die an den Regeln der Gegenwart gemessen auf die schwarze Liste gehören; dann wird die Regel eben unwirksam wie ein Polizeiparagraph vor einem Hoheitsrecht. Aber der wackelnde Schachtelsatz ist und bleibt Sünde, auch in den Schriften der Großen. Mir ist kein Beispiel eines übergeordneten rechtfertigenden Grundes bekannt. Da aber nichts ohne zureichenden Grund geschieht, so halten wir uns an das Horazische: – »quandoque bonus dormitat Homerus.« Der Sprachstümper liefert Schachtelsätze und Taumelsätze, weil er überhaupt nicht im Stande ist, seine Aufmerksamkeit fest einzustellen; der Sprachmeister, weil keines Menschen Aufmerksamkeit für dauerndes Wachestehen ausreicht. – –

Neuerdings wird die Sprache von einem Übel bedroht, das meines Wissens von den Stilwächtern noch gar nicht recht bemerkt worden ist. Es handelt sich um den »Negativ-Stil«, der die Dinge durchaus in einem Umkehrungsspiegel erfassen will, anstatt ihnen gerade ins Angesicht zu blicken. Betrachten wir einige Beispiele, oder um den Sündern ihre eigene Ausdrucksweise vorwegzunehmen: lassen wir uns die Mühe nicht verdrießen, einige nicht unstatthaft gewählte Beispiele nicht mit Stillschweigen zu übergehen:

»Wir haben kein Recht, zu den Beamten dieses Staates kein Vertrauen zu haben und nicht zu glauben, daß sie nicht nach dem Gesetz verfahren.« (Aus einer Ministerrede.)

»Ein Teil der Presse hält es nicht für ausgeschlossen, daß der Beschluß des Polenklubs keine großen Weiterungen zur Folge haben werde.«

(Bericht einer großen Berliner Zeitung von 1917.)

(Oberstaatsanwalt Sch., Berlin 1910): »Ich verkenne nicht, daß in letzter Zeit nicht Dinge zur Sprache kamen, die die Sittlichkeit gefährden konnten.«

(Aus einem Roman): »Hier handelte es sich nicht um zerstörte Illusionen: die Hoffnungen der Nichten wurden mit nichten vernichtet.«

(Abg. Bassermann, 1910): »Es liegt mir fern, an dem guten Willen des neuen Reichskanzlers zu zweifeln, und ich kann allerdings nicht sagen, daß er nicht ein reaktionärer Mann ist, jedoch vieles an ihm ist uns nicht unsympathisch.«

(Eugen Dühring, Geschichte der Philosophie): »Es würde allen Grundsätzen natürlicher Schlußfolgerungen widersprechen, wenn wir nicht annehmen wollten, daß ein Aristoteles seiner Zeit nicht allzufremd geblieben sei.« – –

– »Hätte nach Kants Voraussetzung der menschliche Verstand die Fähigkeit, die Unhaltbarkeit der erwähnten drei Vorstellungen außer Frage zu stellen, so könnten sie auch in der Philosophie nicht mehr positiv in Frage kommen.«

Jedes Kind weiß und empfindet es als logisch, daß zwei Verneinungen einander aufheben, so wie ein erster Spiegel rechts und links vertauscht und ein zweiter diesem entgegengestellter den positiven Bestand wiederherstellt. Aber der zweite Spiegel bringt keineswegs das gleichartige Urbild, sondern dessen verdunkelte Abschwächung, und die Verdunkelung steigert sich mit jedem weiteren Spiegel. Genau dasselbe begibt sich bei den fortgesetzten Verneinungen: der Sinn wird verdunkelt, seine Umrisse verschwinden, seine Farbe verdämmert. Wobei einzurechnen, daß nicht nur die reinen Verneinungsworte (nicht, nie, keinen, un – – usw.), sondern auch zahllose andere: fremd, ausgeschlossen, zweifeln, widersprechen, gefährden, außer Frage stellen usw. negativ wirken oder wirken können. Selbstverständlich sind die wiederholten, sogar die gehäuften Verneinungen nicht zu entbehren, wenn nämlich der Sinn selbst das Negative, Kontradiktorische als Bedingung enthält. Allein das Ergebnis hängt davon ab, ob die Wortfassung diesen Grundsinn klar darstellt oder in eine Rätselaufgabe verwandelt. Wird der Leser und Hörer gezwungen, mühsam aufzuknüpfen, Plus und Minus gegeneinander aufzurechnen, um schließlich sprach-algebraisch herauszukommen, was da wohl gemeint sein könnte, dann war die Sache im Ausdruck verfehlt. Freilich können sich die vielzuvielen Verneinungskünstler von heute auf ein klassisches Muster berufen, auf ein höchst seltsames; denn das Muster beweist, daß die Menschheit selbst dort, wo das Negativrätsel ganz falsch gestellt war, die richtige Auflösung findet. In den älteren Ausgaben von Emilia Galotti, Akt 2, Szene 6, sagt Claudia: . . . »Gott, Gott, wenn dein Vater das wüßte! – Wie wild er schon war, als er nur hörte, daß der Prinz dich jüngst

nicht ohne Mißfallen

gesehen! . . .« So wurde die Stelle von Millionen gelesen, gehört, als Ausdruck der Bezauberung aufgefaßt. Und fast hundert Jahre währte es, ehe die Verfilzung der drei Negative als ein Zufallsschnitzer erkannt wurde. Und hieraus können die Verneinungssportler allerdings die Beruhigung entnehmen, daß es auf ein paar »nein, nicht, un . . ., ohne« mehr oder weniger gar nicht ankomme; der Hörer wird schon raten, was dem Sprecher vorschwebt, selbst dann, wenn im Satze Fassung und Sinn schnurstracks auseinanderlaufen. –

Man soll sich nur niemals einreden, eine Generation wäre der vorigen oder vorvorigen im Sprachgefühl sonderlich überlegen. Genau genommen läßt sich immer nur eine Veränderung des Gefühls, nicht aber ein Fortschritt feststellen, da ja ein Grundpunkt zur Orientierung in aller Sprachempfindung unmöglich vorhanden sein kann. Zu Goethes Zeit und weit darüber hinaus hatte der Satzbruch (das Anakoluth) wie überhaupt der Mangel an Folgerichtigkeit in der Konstruktion nichts auffälliges. Man schrieb ohne Bedenken:

»Die Mittel, die er anwandte, und es auch richtig dahin brachte . . .«

»Der Becher, aus dem sie nippte, und mit vielen Danksagungen hinwegeilte . . .«

»Der Wagen, worin er die Unglücksfahrt unternahm, und ihm die Pferde bei der ersten Biegung der Landstraße durchgingen . . .«

»Marianne schaute mit einem traurigen Blick nach ihr auf, den Wilhelm bemerkte und in seiner Erzählung fortfuhr . . .«

»Ein physisches Mittel, dessen Schädlichkeit Du eine Zeitlang wohl eingesehen, und daß Du, aus Liebe zu mir, auch eine Weile vermieden und Dich wohlbefunden hattest« (aus einem Brief Goethes an Frau v. Stein).

»In dem Göttinger Dichterbund, dem auch Goethe beitrat und mit den Brüdern Stolberg ein Freundschaftsbündnis schloß . . .«

Hatten die Schreiber etwa gar keinen Sinn für grammatische und logische Zusammenhänge? Hielt es einer für richtig, daß jemand aus einem Becher nippt und aus dem nämlichen Becher hinwegeilt? Eher könnte man eine gewisse Sorglosigkeit annehmen, und wenn wir im Laufe der Jahrzehnte darin strenger wurden, so kann, bei abermaligem »Fortschritt« des Sprachgefühls, diese Strenge wiederum als fesselnde Pedanterie erscheinen. Sollte nur ein einziger bedeutender Schriftsteller der Zukunft zur Anakoluthie zurückkehren, so könnte die Eingebung seiner Laune sehr bald wieder Mode werden. Und dann werden auch Ästheten auftauchen, die für die Herrlichkeit derartiger sorglos geformter Sätze mit urwüchsiger Begeisterung eintreten.

Und wie steht es mit unseren eigenen Sorglosigkeiten? Leicht gleiten den Mitlebenden Formen aus der Feder wie: »Die alberne Figur, die er machte . . .« – »Die Gefahr, die er lief . . .« – »Die Flucht, die er ergriff . . .« Soll schon Genauigkeit im Ausdruck herrschen, so sind alle solche Bezugsformen zu verwerfen, sofern nur irgend etwas Sinnbildliches, Uneigentliches in ihnen steckt. Derartige Formen sind den Vorgängen vergleichbar, die man in der Physik als »irreversibel« bezeichnet, und man gerät in Fallstricke, wenn man sie trotzdem als umkehrbar behandelt. Aber auch hier kann sich das Sprachgefühl ändern, und es ist nicht ausgeschlossen, daß die Zukunft alle Formen dieser Gattung freigibt, ohne den logischen Einwand zu beachten. Dann wird man unbedenklich schreiben: »Die Epoche, die er machte . . .« – »Die Lunte, die er roch . . .« – »Der Vogel, den er (z. B. ein Konzertkünstler) abschoß«, und niemand wird danach fragen, ob das Hauptwort gegenständlich oder figürlich gemeint sei.

Auch der Zwang der Einzahl (im Singularetantum) kann einmal aufhören. Schon heute gelten unsern Schöngeistern Bildungen wie »die Dränge«, »die Inhalte«, »die Eigensüchte«, »die Vordergründe«, »die Wollungen«, »die Pietäten«, »die Humore«, als erlaubt und stilschön; und da in diesen Pluralstrebungen kein Ende abzusehen, so müssen sich auch die übrigen Singulare in absehbarer Zeit auf Vervielfältigung gefaßt machen: die Heimaten, die Neide, die Adel, die Prünke, die Schanden, die Raube (oder Räube?), die Reuen, Treuen und Spreuen, dazu eine Unzahl anderer Worte, die sich zurzeit ohne zureichenden Grund auf die Einzahl festgelegt haben. Warum »die Kohlen« und nicht auch »die Marmore«, warum die Quarze und nicht auch die Sande, die Stäube? Was der Luft, der Erde, dem Eisen recht ist, könnte auch dem Stahl, dem Silber und dem Schwefel billig sein; und es ist nicht abzusehen, weshalb sich der Kopfschmerz, das Fieber und der Schnupfen leichter pluralisieren lassen, als die Gicht und das Zahnweh, weshalb der Mangel sich zu Mängel auswachsen kann, die Fülle aber nicht zu Füllen, und warum Liebe wie Haß gemeinsam dem Plural einen merklichen Widerstand entgegensetzen. –

Wie leichtherzig sich das Sprachgefühl bisweilen den Zugriffen der Logik entzieht, das zeigt sich deutlich bei gewissen negativ betonten Eigenschaftswörtern, die einen Höchstgrad bedeuten, aber immer noch weiter gesteigert werden. Wir lesen von einem »unerhörten Vorgang«, und etliche Zeilen darauf wird ein »noch unerhörterer Vorgang« berichtet. Auf den »unvergleichlichen Künstler X« folgt ein Künstler Y, den der begeisterte Kritiker »noch unvergleichlicher« findet. Dieses Überstürzen des Ausdrucks ist nicht von heute und gestern, stammt vielmehr aus den Zeiten, da die höfischen Berichte zu melden wußten: Die allerhöchsten Herrschaften begaben sich in den Dom, um dem Höchsten zu danken. Eduard Hanslick, einer der größten Sprachkünstler unter den deutschen Kunstschreibern, hat in Übereinstimmung mit Felix Mendelssohn die Sängerin Jenny Lind als »noch nie dagewesen« und »niemals wiederkehrend« bezeichnet, zehn Jahre später feierte er die Carlotta Patti als eine »Erscheinung ohne Gleichen«, was ihn nicht hinderte, Désirée Artot »noch beispielloser« als Carlotta, und Adelina Patti »noch unvergleichlicher als alle andern« zu finden. Wir haben uns daran gewöhnt. Das Perpetuum mobile ist unmöglich, und die Quadratur des Kreises ist noch »unmöglicher«. Ein namenloses Entsetzen kann leicht noch namenloser, ein unsagbares Elend noch unsagbarer werden; und man stutzt nicht sonderlich, wenn man liest: »Nur um den Minister zu schleunigem Eingreifen zu veranlassen, haben wir diese unbeschreiblichen Zustände so genau beschrieben.« Die Vorsilbe »un« besitzt eben nur redensartlichen Wert, bezeichnet auf dem Maßstab irgend einen Grad und läßt sich darauf nach Bedarf verschieben.

Genau genommen sollte man sich bei jedem Komparativ fragen, ob nicht im Wort irgend etwas Bildliches, Abgeleitetes steckt, das nicht mitgewandelt werden kann. Von zwei Verleumdern kann der eine nicht »eingefleischter«, von zwei Verbrechern der eine nicht »gewiegter, abgebrühter« sein als der andere. Man dürfte ebensowenig sagen »der ausgemachteste Dummkopf« wie der »gerissenste Schieber«, »die zweideutigere Redensart«, »der gesiebtere Lump«, »der ungeschlachtere Riese«, »das mittelmäßigere Talent«, oder das »lauere Badewasser«.

In der Mathematik gibt es zweifellos wahre, aber unbewiesene Sätze, z. B. den berühmten Primzahlsatz von Goldbach; man dürfte indes, um ganz streng zu bleiben, nicht behaupten, der pythagoreische Satz sei »bewiesener« als der Goldbachsche, eben weil für diesen gerade das fehlt, was wir Beweis nennen. Beide Sätze verkünden Wahrheiten, aber die eine ist nicht wahrer und nicht ewiger als die andere. Hier öffnet sich ein weites Feld für die Betätigung des Sprachgefühls, und es wäre vielleicht lohnender, in diesem Feld die Spuren abzusuchen, als für allerhand sprachlichen Kleinkram schulmeisterliche Verordnungen zu drechseln. –

Drei übelbeleumundete und vielfach vorbestrafte Subjekte werden an die Schranken gerufen: »Derselbe«, »Welcher« und die »Inversion nach Und«. Es kann aber zweifelhaft erscheinen, ob sie überhaupt vor ein Forum der höheren Stilkunst zu laden sind und nicht vielmehr zum kriminellen Kleinkram der Sprache gehören. Mit der Inversion wäre ja nicht viel Federlesen zu machen, sie klingt uns unschön, fehlerhaft und wird allgemein als eine Schwerverbrecherin angesehen. Sie frönt zudem der Gier, sich mit »Derselbe« zu gemeinsamen Straftaten zu verbinden, deren Art am besten in der scherzhaften Parodie erkannt wird, mit der sie ein witziger Zeitgenosse, Gustav Hochstetter, wie in einer Schlinge gefangen hat: »Auf dem Fels saß Lorelei mit ihrem goldenen Haar und goldenen Kamme, – und kämmte dieselbe dasselbe mit demselben.«

Und trotzdem bin ich der Ansicht, daß in den Akten »derselbe, dieselbe, dasselbe« das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Vordem spazierten sie mit recht gutem Leumundszeugnis durch die Welt, und man braucht nur Schillers Briefe, Fichtes Reden, Schopenhauers Schriften zu lesen, um in eine Sprachstimmung zu geraten, die sich mit »demselben« ohne Schwierigkeit abfindet. Es erscheint sonach nicht ausgeschlossen, daß sich das Sprachgefühl der Zukunft auf das der Vergangenheit zurückbesinnen und die ängstliche Unterscheidung zwischen is und iste nicht aufrechterhalten wird. Heute freilich sitzt uns diese Unterscheidung im Blute, und kein wirklicher Schriftsteller könnte sie verleugnen. Aber ein innerer, durchgreifender Stilgrund ist nicht zu entdecken. Wäre er vorhanden, so hätte er doch schon vordem wirken müssen, vor allem in den Reden und Schriften unserer Großmeister, die doch nicht auf dem Aktenschimmel den Parnaß hinaufgeritten sind.

Daß es sich hier um ein Zeitgesetz handelt, läßt sich beweisen. Jenes Fürwort gilt seit Jahrzehnten als Hauptkennzeichen des »papierenen Stils«. An der Unnatur und Steifbeinigkeit unseres ganzen schriftlichen Ausdrucks, – so heißt es z. B. bei Wustmann, trägt dieses Wort die Hälfte aller Schuld. Könnte man unserer Schriftsprache diesen Bleiklumpen abnehmen, schon dadurch allein würde sie Flügel zu bekommen scheinen. – Sehr schön. Der Kampf gegen das steifbeinige Fürwort ist längst mit allem Erfolg durchgeführt, der Bleiklumpen ist verschwunden, und der andere Bleiklotz, die fehlerhafte Inversion, beschwert die Schreiber von heute ebensowenig. Sonach müßte der ersehnte Zustand der beflügelten Sprache tatsächlich eingetreten sein. Das aber gerade wird von den nämlichen Kämpfern geleugnet, die so scharf zwischen Papier-Stil und Flug-Stil zu unterscheiden wissen. Und wenn ich mir ihre eigenen Sprach-Erzeugnisse neben ältere lege, die sich mit dem Bleiklumpen »derselbe« schleppten, so finde ich die älteren beflügelt, die neueren lahm. Ich nannte eben Fichte; hören wir:

Auf das zuerst zum Bewußtsein erwachende Kind dringen alle Eindrücke der dasselbe umgebenden Natur zugleich ein . . .

(Leben der Menschheit): . . . soll eine gänzliche Umbildung mit derselben vorgenommen werden, so muß sie einmal ganz losgerissen werden von sich selber . . .

(Die neue Erziehung): . . . Ihr ist nur die Welt, die durch das Denken erfaßt wird, die wahre und wirklich bestehende Welt; in diese will sie ihren Zögling, sogleich wie sie mit demselben beginnt, einführen.

Die Sprache dieses Volks ist notwendig, so wie sie ist, und nicht eigentlich dieses Volk spricht seine Erkenntnis aus, sondern seine Erkenntnis selbst spricht sich aus demselben.

Das also wäre Papierdeutsch. Dagegen lautet das allererste Wort des Antipapierenen Wustmann, der Auftakt seiner Einleitung:

Seit einigen Jahren sind uns plötzlich die Augen darüber aufgegangen, daß sich unsre Sprache in einem Zustande der Verwilderung befindet.

Diese über mehrere Jahre verteilte Plötzlichkeit gibt zu denken und regt zu Vergleichen an. Den Klassikern waren bezüglich der Verwilderung die Augen noch nicht aufgegangen; sonst hätten sie vielleicht geschrieben: »Was man von der Minute ausgeschlagen, gibt keine Ewigkeit plötzlich zurück«, oder »Es kann die Spur von seinen Erdetagen nicht in Äonen plötzlich untergehen.«

Ich möchte nicht mißverstanden werden: Nach heutigem Sprachgefühl entspricht die Beschränkung des Fürworts »derselbe« einer zurzeit bestehenden und für uns bis auf weiteres gültigen Regel; diese steht nicht in der Verfassungsurkunde der Sprache, aber immerhin in einer vorläufig bindenden Verordnung. Dagegen möchte ich doch für das bezügliche Fürwort »welcher« größere Freiheit verlangen, als ihn die Regel heute zugestehen will.

Zuerst erinnere ich daran, daß der Allerwelts-Ersatz »der, die, das, dem, dessen usw.« mit den anderen Bedeutungen in ein dauerndes und gefährliches Gedränge gerät. »Der« ist der allgemeine bestimmte Artikel, zugleich der demonstrative (dieser) und obendrein der bezügliche. Die einfachste Statistik müßte ergeben, daß unser Deutsch bei unterschiedsloser Anwendung dieser Fürwörter von dem Anfangskonsonanten d geradezu überschwemmt würde. Nun ist d nicht nur Verschluß-, Dental-Laut, sondern wie die Erfahrung ergibt, bei häufiger Wiederholung geradezu ein Stotterlaut; schon aus phonetischen Gründen müßte dafür gesorgt werden, daß das stotternde D-Gewimmel nicht überhand nimmt. Die tatsächlich vorhandenen oder absichtlich konstruierten Beispiele, die wie Scherze klingen, deuten im Ernst auf einen dauernden Zustand und eine beständige Gefahr: »Die Dichterin, die die Dido dithyrambisch verherrlichte . . .« »Die, die die Didaktik Diderots zum Gegenstand ihrer Studien machten . . .« »Der, der den, der den Pfahl, auf dem steht, daß der, der hier Gegenstände ins Wasser wirft, bestraft wird, selbst ins Wasser geworfen hat, anzeigt, erhält eine Belohnung.« – – – Das sind natürlich Äußerstfälle, allein zehnmal täglich gerät auch ins Stottern »der, der das der dauernd durchgehen läßt«, ohne sich des hilfsbereiten »welcher« zu erinnern. Wir haben uns an das ewige d gewöhnt, wie der Franzose an das unaufhörliche kehlkopfige k in qu, das ihre Sprache belastet; sie merken es nicht, aber es ist die unausrottbare Härte ihrer sonst so klangreichen Rede: »Je dis donc, que la souverainité, n'étant que l'exercice de la volonté générale, ne peut jamais s'aliéner, et que le souverain qui n'est qu'un être collectif, ne peut être représenté que par lui-même« (Rousseau); . . . les officiers n'obéiront-ils pas avec plus d'allégresse à un homme de guerre, qui aura comme eux signalé son courage qu'a un homme de cabinet, qui ne peut que deviner tout au plus les opérations d'une campagne, quelque esprit qu'il puisse avoir? (Voltaire). Zu unzählbaren Tausenden wimmeln diese qui, que, ne-que, verhärtet durch quel, quelque, quelconque, bis zum Eindruck des Keuchhustens für den, der drauf achtet. Es ist das gutturale Gegenspiel zu dem dentalen Dadaismus, dem wir entgegengehen, wenn »der, die, das, dem, dessen« wirklich alle Relativstellen besetzen sollten. Der Franzose ist gegen die »qu«-Flut wehrlos, wir aber können uns der »D«-Überschwemmung widersetzen.

Das bezügliche »Welcher« leistet aber nicht bloß klanglich wertvolle Dienste, sondern erscheint meinem Sprachgefühl auch nach seiner inneren Bedeutung ganz unentbehrlich. »Kein Mensch spricht welcher, es wird immer nur geschrieben,« lautet die Formel der antipapierenen Schulmeister; aber sie selbst sind mit dieser Formel auf dem holzpapierensten Holzwege und wissen einfach nicht, wie der gebildete Mensch redet. Ich sage allerdings:

Der Baum, der in meinem Vorgarten steht, verdunkelt mir im Sommer das Arbeitszimmer,

aber ich sage in anderem Zusammenhang:

Der Baum, welcher ein Organismus ist wie das lebendige Tier . . .

Hört ihr den Unterschied? der Fex wird ihn nicht spüren, Baum ist ihm Baum, und ein Bezugsatz wie der andre. Prüfen wir weiter:

Der Lichtstrahl, der durch den Spalt fiel, zeigte dem Gefangenen, daß die Sonne bereits hoch am Himmel stand;

dagegen:

Der Lichtstrahl, welcher den Weltraum mit einer Geschwindigkeit von 300 000 Kilometern durcheilt, kann als eine elektrische Erscheinung aufgefaßt werden.

—   –

Der Mensch, der mir entgegentrat, war mit einem Knotenstock bewaffnet;

dagegen:

Der Mensch, welcher von Sophokles als das allergewaltigste Wesen gefeiert wird, ist das eigentliche Studium der Menschheit.

Das »Welcher« hat eben eine andre Betonungsschwere und unterstreicht das Allgemeine, in Erweiterung Gültige gegenüber dem zufälligen Einzelfall. Schopenhauer begnügt sich noch nicht mit dem gewichtigeren Fürwort, er schreibt zur Verstärkung der Akzentwucht: »als welcher«; klingt's papieren in Schopenhauers Granit?

Zum mindesten möchte ich behaupten, daß die Kriminalakten gegen die drei Verrufenen noch nicht geschlossen sind. Künftige Sprachübung könnte wohl dem heute als Schwerverbrecher behandelten »Welcher« die bürgerlichen Ehrenrechte wiedergeben. Und ich scheue auch vor einer weiteren Ansage nicht zurück: soviel die »Schreibe« auch von der Rede zu lernen hat, soviel, wenn nicht mehr, könnte auch die Rede lernen vom Geschriebenen, mag darin auch bisweilen »gewelchert« werden:

Der Satz, durch welchen alles Ding
Bestand und Form empfangen – – – – –

Also sieht man bei euch den leichten Tanz der Thalia
Neben dem ernsten Tanz, welchen Melpomene geht; – – – – –

Woher nehmt ihr denn aber das große, gigantische Schicksal,
Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt?«

Ist das Papierstil oder Schrift in Felsen? Man braucht den Bescheid der Regelschmiede nicht abzuwarten, denn Schiller selbst hat geantwortet:

So war's immer, mein Freund, und so wird's bleiben: die Ohnmacht
Hat die Regel für sich, aber die Kraft den Erfolg!

 


 


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