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Diese Betrachtung steht außerhalb der physiologischen Möglichkeit. Und wörtlich ist es auch nicht gemeint, wenn von einem Organ gesprochen wird, das keiner am Kopfe zu haben wünscht, das aber jeder besitzen sollte. Ein Todfeind der wörtlichen Richtigkeit nahm es für sich in Anspruch, und wohl für sich allein; mit dem Unrecht, das der Einseitigkeit anhaftet, mit dem Recht der Begriffsentdeckung und der Wortprägung für den neuen Begriff:
»Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für den, der das ›dritte Ohr‹ hat! Wie unwillig steht es neben dem langsam sich drehenden Sumpfe von Klängen ohne Klang, von Rhythmen ohne Tanz, welcher bei Deutschen ein ›Buch‹ genannt wird.«
Also sprach Nietzsche, da er das Organ für Sprachmusik bezeichnen wollte. Hatte man nie zuvor davon geredet? Doch wohl, und gar nicht zu selten. Aber man verstand etwas anderes darunter; etwa die Fähigkeit, das Rauschen der Sprache in gebundener und getragener Rede als einen Rausch aufzunehmen. Doch dazu genügt schon das leidlich gebildete Ohr an sich, genügt schon die empfängliche Seele ohne Ohr. Das dritte Ohr verlangt mehr und leistet mehr. Es sitzt innen und ist mit ganz besondern Resonanzfäden bespannt. Es fehlt manchem Dichter, der hochtönende Verse hervorbringt, aber das Volk besitzt es.
Die Bewußtseins-Schwelle des dritten Ohres ist anders gelagert. Es hört das zwischen den Worten Klingende, den Klang, der aus dem Sinn aufsteigt, es nimmt die Rhythmen der Gedanken wahr, nicht nur den Rhythmus des Satzes, der ihm den Gedanken mitteilt; dazu Gefühlsbetonungen, die den anderen Ohren entgehen, weil sie keine Resonanzfäden dafür besitzen. Denn die Allerweltsohren behelfen sich mit den bekannten, von Helmholtz nachgewiesenen Fasern, die sich zu denen des dritten Ohres verhalten, wie ein Tauwerk zu dem pythagoreischen Gespinst, das die Musik der Sphären erlauscht.
Kann man sich das dritte Ohr anschaffen? Schwerlich. Aber man kann vielleicht das erste und zweite schärfen, verfeinern, und sich dadurch die Gnade der Natur verdienen, die in seltenen Fällen ein vortreffliches Duett zu einem Trio weiterbildet.
Auf Schritt und Tritt wird das Ohr von der Natur geprüft. Jede Silbe, die ans Ohr schlägt, birgt einen Vokal, und das Ohr soll entscheiden, ob diese Vokale symphonisch zueinander stimmen. In den allermeisten Fällen merkt das Ohr nicht einmal, daß es gefragt wird, es merkt nichts von den Tücken des Objektes, die in den Vokalfolgen umherspuken.
Nehmen wir zuerst einmal grobe Beispiele von unfreiwilligen Reimansätzen und Assonanzen. Wenn einer schriebe: »das ist eine Mahnung, welche die Kollegen erwägen mögen«, – oder »ob diese prophetische Botschaft wahr war, war nicht festzustellen«, oder »die Ausbeute, die er in jenem Land fand, stand in keinem Verhältnis zu den Anstrengungen«, so würde auch ein ungeübtes Ohr Einspruch erheben. Denn der Reimklang, der dem Vers zur Zierde gereicht, wird in fortlaufender Prosa als störend und musikwidrig empfunden. Aber von solchen Falschklängen wimmelt die Rede und das Schrifttum, und sie auch dort zu erkennen, wo sie nicht volle Register ziehen, ist die erste Probe, der sich das Ohr zu unterziehen hat. Es muß den Klangwert der Vokale, ihr Gleichgewicht, ihre Melodie und den motivischen Gehalt dieser Melodie abschätzen lernen. Klingen muß es ihm, nicht klingeln.
Manchmal bekommt man es mit Beklemmung zu tun, selbst dort, wo ein Bedeutender über Sprachklang redet und mit Sprachklang zu wirken beabsichtigt. Einsicht und Pathos treten auf, es schwingt zwischen den Vokalen, aber der Rhythmus versagt. Die von Nietzsche geforderten Klänge mit Klang sind vorhanden, aber der Rhythmus fehlt, die freie Beweglichkeit des Tanzes. Hatte Hebbel das dritte Ohr? gar nicht daran zu zweifeln, wenn man an seine Dichtungen denkt. Aber er schrieb auch Lehrhaftes, streifte darin das Thema des dritten Ohres und verlor dabei den klangmusikalischen Faden. Er vernimmt von fern die Klänge des großen allgemeinmenschlichen Sprachchorals, möchte sie einfangen und wird gerade bei den entscheidenden Hebungen seiner Stimme vom dritten Ohr im Stich gelassen. Hören wir daraufhin einige Stellen aus Hebbel:
. . . Eine Sprache kann äußerst musikalisch und nichts destoweniger geistlos und unpoetisch sein, ihre Zeichen können dem Ohr durch Vokalfülle schmeicheln und dennoch dem Geist durch Dürftigkeit und Mischungsunfähigkeit trotzen. Darauf aber kommt es an, daß der Geist in der Sprache möglichst vollständig zur Erscheinung gelange, daß er hier an der Grenze der sich bereits verflüchtigenden materiellen Welt den letzten durchsichtigen Leib erhalte; nicht darauf, daß durch unendliches Sichten, Wägen und Messen ein Zwitter-Medium herausgebracht werde, das doch nicht Musik wird, noch bei der zwiefachen Verwendbarkeit des Tons zu werden braucht, das aber der Eitelkeit, sich der Musik um einen Schritt zu nähern, mit dem unschätzbaren Vorzug, den Geist mit jeder seiner Lebensregungen unverkürzt und unverdunkelt in sich aufzunehmen, bezahlen muß. – – –
(Überleitung zu einer vorausgesehenen, höheren Organisation der Sprache:)
. . . Es handelt sich hierbei nicht um die Abfindung eines unberechtigten, nicht aus dem Wesen der Sache selbst hervorgehenden, sondern nur von einer ihr fremden Sphäre aus an sie angeknüpften Gelüstes, etwa nach höherer Gemächlichkeit im äußeren Verkehr, im Handel und Wandel; es handelt sich um die Befriedigung des tief in der Natur des Geistes begründeten Bedürfnisses, in jedem Kreise, und also auch in dem der Sprache, von den niedrigeren Organismen in allmählicher Erhebung zu den höheren und zum höchsten, sie alle in sich aufnehmenden, vorzudringen. Auch soll, um zu diesem Ziel zu gelangen, nicht aus dem Stegreife ein Sprung unternommen, es soll nur einfach fortgeschritten werden, da man, wenn kein Stillstand eintritt, auf demselben Weg, und ungefähr auch mit denselben Opfern in bezug auf das dahinterzulassende gar zu individuelle Beiwerk, von der Nationalsprache zur Universalsprache kommen muß, auf dem und mit denen man von der Individualsprache, um die ersten stammelnden Verständigungs- und Mitteilungsversuche so zu nennen, zur Familien-, Provinzial- und Nationalsprache kam.
Ich habe einzelne Worte unterstrichen, um sie der Aufmerksamkeit des Lesers zu empfehlen, dem ich überdies die mehrfache Lesung des Absatzes anrate. Hebbel berührt hier die höchsten Angelegenheiten der Sprache in Gegenwart und Zukunft, er war nahe daran, einen Denkstein der Literatur aufzurichten, wie auch an anderer Stelle dieses Buches betont wird, allein anstatt ihn frei hinzustellen, läßt er ihn von sprachlichem Gestrüpp umwuchern. Er bildet Sätze ohne Rhythmus, Konstruktionen, in denen es wippt, wackelt, poltert und sich verheddert. Ich werde nie aufhören, ihn als Sprachmeister zu bewundern, aber ich gerate an ein unlösbares Rätsel, wenn ich den dichtenden Hebbel mit dem andern Hebbel vergleiche, der überlegt und Vortrag hält. Wo war sein drittes Ohr, ja wo war sein zweites und erstes, als er schrieb:
. . . Wenn in der heroischen Tragödie die Schwere des Stoffes, das Gewicht der sich unmittelbar daran knüpfenden Reflexionen eher bis auf einen gewissen Grad für die Mängel der tragischen Form entschädigt, so hängt im bürgerlichen Trauerspiel alles davon ab, ob der Ring der tragischen Form geschlossen, d. h. ob der Punkt erreicht wurde, wo uns einesteils nicht mehr die kümmerliche Teilnahme an dem Einzelgeschick einer von dem Dichter willkürlich aufgegriffenen Person zugemutet, sondern dieses in ein allgemein menschliches, wenn auch nur in extremen Fällen so schneidend hervortretendes, aufgelöst wird, und wo uns andernteils neben dem, von der sogenannten Versöhnung unserer Aesthetici, welche sie in einem in der wahren Tragödie – die es mit dem durchaus Unauflöslichen und nur durch ein unfruchtbares Hinwegdenken des von vornherein zuzugebenden Faktums zu Beseitigenden zu tun hat – unmöglichen, in der auf konventionelle Verwirrungen gebauten, aber leicht herbeizuführenden schließlichen Embrassement der Anfangs auf Tod und Leben entzweiten Gegensätze zu erblicken pflegen, aufs Strengste zu unterscheidenden Resultat des Kampfes, zugleich auch die Notwendigkeit, es gerade auf diesem und keinem andern Wege zu erreichen, entgegentritt.
Man könnte zweifeln, ob man es hier mit einem Satz zu tun hat oder mit einem Attentat. Man darf aber nicht daran zweifeln, daß dieses Gebilde tausend gleichwertige Gegenstücke in der Literatur findet, bei Hebbel und anderen Großmeistern. Besäße das Ohr Schutzvorrichtungen, wie das Auge im Lid, so müßte es beim Anschlagen derartiger Klänge dicke Rollvorhänge herunterlassen. Sind solche langgezerrte Mißgeräusche Ausnahmen von den Regeln des Klanges und des Rhythmus? Zeugen sie wohl gar gegen meine Grundbehauptung, daß der eigene Sinn sich den eigenen Stil schafft?
Der Fall liegt schwierig, und um ihn zu klären, wäre ein Lesebuch aus klangwidrigen Stellen hervorragender Könner erforderlich. Keine üble Aufgabe für einen Sammler, dem man zur Ermutigung obendrein einen ansehnlichen Bucherfolg voraussagen könnte. Hauptstücke für diese literarische Schreckenskammer würde Hegel liefern, um einen unter vielen herauszugreifen; Hegel, der in seiner Philosophie der Geschichte Sprachmeisterliches, sogar Klangmeisterliches geliefert hat; der aber trotzdem als abschreckendes Beispiel der Ohrenlosigkeit, ja der vollendeten Sprachtaubheit aufgestellt zu werden verdient; in Proben nämlich, von denen seine Phänomenologie etc. wimmelt:
»Die gereinigte Sichselbstgleichheit«; – »Die Form des einfachen Insichzurückgegangenseins«; – »das Dieses ist also gesetzt als nicht dieses oder als aufgehoben, und damit nicht Nichts, sondern ein bestimmtes Nichts, oder als ein Nichts von einem bestimmten Inhalte, nämlich dem Diesen«; – »Die Individualität, welche sich an und für sich selbst reell ist«; – »Dies bietet sich hier so dar, daß, indem das, was zuerst als der Gegenstand erschien, dem Bewußtsein zu einem Wissen von ihm herabsinkt und das Ansich zu einem Für-das-Bewußtsein-Sein des Ansich wird«; – »ein Moment des Ansich- oder Fürunsseins«; – »Die Elektrizität ist der Zweck der Gestalt, der sich ihr von ihr befreit, die Gestalt, die ihre Gleichgültigkeit aufzugeben anfängt, denn die Elektrizität ist das unmittelbare Hervortreten, oder das nah von der Gestalt hervorkommende noch durch sie bedingte Dasein, oder noch nicht die Auflösung der Gestalt selbst, sondern der oberflächliche Prozeß, worin die Differenzen die Gestalt verlassen, aber sie zu ihrer Bedingung haben und noch nicht an ihnen selbständig geworden sind«; –
und merkwürdig genug: Hegel selbst spricht an anderer Stelle vom Rhythmus und von der Harmonie philosophischer Sätze, er spricht davon in einem schaurigen Holpersatze. Aber wie sich bei ihm Alles und Jedes verwirrt, so fand sein Sinn auch seinen Stil und seinen Klang, den durch keine konstruierte Disharmonie zu überbietenden Mißklang. Wo das Delirium herrscht, ist die Klangvernichtung das Selbstverständliche. Und keinen schärferen Beweis wüßte ich für das Vorhandensein dieses Deliriums als die Art, in der Hegel mit fremden Klängen umgeht, als die völlige Resonanzlosigkeit, mit der er wahres Klanggut wiedergibt und verunstaltet. Er will Töne Goethes beschwören und sagt in der Absicht, getreu zu zitieren:
»Es verachtet Verstand und Wissenschaft
des Menschen allerhöchste Gaben –
es hat dem Teufel sich ergeben
und muß zugrunde geh'n«.
Also wörtlich und buchstäblich in Hegels Kapitel »Die Lust und die Notwendigkeit«. Das Ungeheuerliche, hier wird es Ereignis. Und dieses Ungeheuerliche erhellt uns den ganzen Zusammenhang der Dinge: Sinn, Stil und Klang gehen wirklich auf dieselbe Wurzel zurück, eines prüft sich am anderen. Wo der Sinn vom Unsinn überflutet wird, da geht der Klang zum Teufel, mit ihm die Möglichkeit, fremde Wohlklänge zu erfassen. Der ungeheuerliche, gänzlich formlose, verunstaltete Satz, das stammelnde Wortgebilde, das zermetzelte Zitat zeigen allemal die Geistesverfassung des Schreibers zu einem bestimmten Zeitpunkt. Das Ohr ist und bleibt das ausschlaggebende Organ für die Wertmessung: Sinntaubheit und Klangtaubheit gehören zueinander.
Ich sage ausdrücklich: zu einem bestimmten Zeitpunkt; denn der nämliche Autor befindet sich zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Verfassungen. Das Prinzip der natürlichen Stetigkeit findet bei ihm keine Anwendung. Als Hebbel den zuvor genannten Greuelsatz schrieb, unterlag er einem besonderen Schicksal: nicht zuwenig hatte er zu sagen, sondern zuviel, die ungebändigte Fülle der Gedanken wurde zum Chaos und entlud sich in chaotischem Wirrwarr. Das dritte Ohr, das schon den Sinnklang erlauschen soll, war ausgeschaltet, gab kein Signal, und so rasselten die Gedanken ineinander wie Züge bei falscher Weichenstellung.
Die Wissenschaft hat auf experimentellen Wegen von Ernst Mach und Cyon ermittelt, daß wir im Ohr das einzige Organ für unmittelbare Raumempfindung besitzen. Ich glaube, daß diese Forschung damit noch nicht zu Ende ist. Denn auch bei Gedanken kann man sich eine räumliche Anordnung vorstellen. Sie wohnen nicht so leicht beieinander, wie Wallenstein meint, sondern sie stoßen sich hart im Raume der Schädelhöhle. Und nur einer vollendeten Signalgebung kann es gelingen, die Stoßkatastrophen zu verhindern. Der Signalwächter ist das Ohr.
Die Hellhörigkeit, Feinhörigkeit ist durchaus eine innere Eigenschaft, unabhängig von der anatomischen, grobsinnlich wahrzunehmenden Struktur des Ohres. Sie verhält sich zum äußeren Hören, wie das Einsehen, also das Begreifen, zum Sehen. Ist doch das Wort »Idee«, Idea, nach seiner Herleitung gar nichts anderes als das Gesehene, entsprechend der Sprachwurzel eidõ, die das Sehen bedeutet und ebenso das Wissen. Der blinde Seher sieht mehr als der sehende Guckindiewelt; und so braucht auch der innerlich Feinhörige gar nicht von wirklichen Schallschwingungen erreicht zu werden. Er erfaßt den Sinnklang und Wortklang aus der Schrift, symphonisch oder kakophonisch, so wie den Musiker eine Partitur ohne instrumentale Hilfe anspricht. Beethoven war mit taubem Ohr hellhörig, viele Neutöner sind im Besitz durchaus gesunder Ohren klangtaub.
Das innere Ohr ist von akustischen Regeln weit unabhängiger als das äußere, es kritisiert und entscheidet von Fall zu Fall intuitiv. Stellt es sich auf einen Wohlklang ein, auf den bel canto, dann erscheinen ihm romanische Sprachen schöner als die deutsche. Es befindet sich dann sozusagen in einer Pergolese-Stimmung oder Rossini-Stimmung, es sättigt sich dann an Vokalfiguren, die mit dem Reiz einer natürlichen Singstimme auftreten. Stellt es sich auf eine Bach- oder Brahms-Stimmung ein, so erhöhen sich ihm die Klangwirkungen des Deutschen, und der absolute Wohlklang wird ihm gleichgültiger. Es gewahrt über alle Rauheiten und Reibungen, über Dissonanzen und Querstände hinweg im Deutschen eine übergeordnete melodische Fülle.
Bisweilen aber gerät es an Mittellagen der Stimmung, die sich nicht so einfach beschreiben lassen. Es erfreut sich dann an gewissen Klängen, nimmt Anstoß an anderen, ohne sich gerade am Für und Wider leidenschaftlich aufzuregen. Immerhin kommen diese Mittellagen für uns in Betracht und sollen nicht übergangen werden. Das Ohr findet also, daß unser gutes Deutsch und besonders die deutsche Prosa gewisse phonetische Verbesserungen zuläßt und daß sich diese sehr gut aus einer bestimmten Quelle beziehen lassen.
Wir sind da wieder einmal bei den Weltworten angelangt, deren Bedeutung und Notwendigkeit im Haushalt der Sprache schon genügend erörtert wurden. Nur auf den Klang soll es in diesem Zusammenhange ankommen, und als tugendhafte Klanggebilde erscheinen sie allerdings dem Ohr so unentbehrlich, daß sie erfunden werden müßten, wenn sie nicht schon vorhanden wären.
In pythagoreischem Geist ist verkündet worden, die Musik sei das Vergnügen einer Seele, welche zählt, ohne zu wissen, daß sie zähle. Für die konzertante Musik ist dieser schöne Ausspruch ohne weiteres gültig und richtig. Wo es sich indes um die Musik des Wortklanges handelt, da weiß die Seele in der Regel, daß sie zählt. Sie treibt Statistik mit Vokalen und Konsonanten, sie spürt ihr Vergnügen in offenkundiger Abhängigkeit von der Vokalmenge und wertet sonach das Weltwort als einen sehr erheblichen Klangverbesserer.
Schon das Wort »Vokal« zeigt seine musikalische Überlegenheit. Es enthält selbst zwei Vokale o–a, die wie der Auftakt einer Arie hallen, am schlanken Gerüst von nur drei Konsonanten. Von Vox, die Stimme, leitet es sich her, und Stimme ist es geblieben. Man kann dafür »Selbstlaut«, »Selbstlauter« sagen und drückt sich dann reiner deutsch aus. Aber nicht reiner musikalisch; erstlich weil die Folge e–au keinen Bewerb mit o–a aufnehmen kann, und vor allem wegen des Gerüstes an Konsonanten, das sich um mehr als das doppelte verdickt. Dadurch entsteht eine so starke Dämpfung, daß ein großer Teil der Resonanz verloren geht und von der ursprünglichen Vox nicht mehr sonderlich viel übrigbleibt.
Für das klangreiche »Vokalisation« müßten wir sagen, wenn wir nicht bloß umschreiben, sondern durch ein einziges Wort sinngetreu übersetzen wollen: »Selbstlautergesangsaussprache.« Die zur Statistik aufgelegte Seele zählt wiederum, verzichtet auf den sprachreinen Ersatz und bleibt beim klangreinen Weltwort.
Sie horcht auf das Ausmaß und den melodiösen Gehalt der Vokale im Rahmen ihrer Gerüste, zählt und wertet sie unbewußt oder bewußt in: Idee, Ideal, Genie, Polar, Natur, Religion, Planet, Organ, Pathos, Funktion, Poesie, Prosa, Graziös, Eleganz, Routine, Reform, Zone, Militär, Division, Physik, Fauna, Flora, Phase, und so hundertfach, tausendfach. Nicht um alsdann zu bekennen: So ausschließlich sei unsere Rede, denn in der großen Hauptsache entscheidet Logos und nicht Melos; aber um festzustellen, daß in den Weltworten phonetische Werte stecken, die zu verschleudern kein Anlaß vorliegt. Und wenn das Ohr den Ausdruck »Wert« im Laufe einer Auseinandersetzung zwanzigmal vernommen hat, so wird ihm sogar der Ausdruck »Valeur« willkommen sein, weil es bei gleicher Bedeutung endlich doch anders klingt und gewiß nicht schlechter. Wer den Wert der Weltworte für die klangliche Abwechslung verkennt, der besitzt kein Ohr für phonetische Notwendigkeiten.
Um ein ganz banales Beispiel zu nehmen: glauben unsere Vögte denn wirklich, daß nur ein blöder Welschtrieb die deutsche Menschheit gezwungen hat, das Wort »Telephon« bis zur Ausschließlichkeit zu bevorzugen und den »Fernsprecher« abzulehnen? Nein, der Klangtrieb hat das gemacht; freilich unterstützt von sachlichen Erwägungen, die wir an anderer Stelle dieses Buches behandeln. Aber zu fünf Sechsteln hat in dem Streit Telephon gegen Fernsprecher der freie Vokal o gesiegt, gegen die unfreien e in ihrem Pferch von Konsonanten; es war ein musikalischer Prozeß der schwingenden Vox gegen den Wulst – rnspr –, zu dem sich die nichtschwingenden Buchstaben im Fernsprecher verknoten. Das Volk hat das dritte Ohr.
Verfolgt nach dieser Richtung die Willigkeit und Sprödigkeit des Gehörs, und ihr werdet an zahllosen weiteren Beispielen des täglichen Lebens wie des höheren Schrifttums erkennen, warum sich das Volk wehrt, wenn der Besen gar zu wütig in seinem Sprachinstrument herumfegt. Es spürt, daß ihm damit nicht nur Unreinheiten herausgewischt, sondern auch tönende Saiten entzweigerissen werden.
Und es wird dies in Jahren und Jahrzehnten noch weit deutlicher zu spüren bekommen; wenn erst die Neubildungen in Massigkeit nach Breite und Dicke jenen Umfang erreicht haben werden, den die heut vorliegenden Muster bereits ahnen lassen.
Eine hohe Tugend unserer Sprache steht in Gefahr, durch Mißbrauch in ihr Gegenteil umzuschlagen. Wir meinen ihre unvergleichliche Fähigkeit, jeder Begriffsauslese durch Erweiterungen der Worte beizukommen. Da gab es kein Halt und keine Grenze, weder für das Vermehren der Silben, noch für das Aufhäufen der Konsonanten. Die Verführung, Begriffe durch Worte einzuholen, erwies sich als stärker denn die Warnung der Signale, mit denen das innere Ohr Protest einlegen mochte. Im Hinblick auf Lautschwierigkeit und phonetische Greuel prüfe man etwa folgende Worte:
Zwangssprachverordnung – Sumpfpflanze – Triumphpforte – Großkampfschiffsrumpf – Starkstromkurzschluß – Postprotestfrist – Marschtaktschlag – Hauptmeisterschaftstrophäe – Geschwulstschwund – Holzklotzpflock – Karstschroffe – Wirkstrumpfsknüpfung – Versskandierung – Jauchzzwischenruf – Starrkrampfspezialist – Zwitscherschwingung – Provinzschauspielerproletariat – Nernststromschlußplättchen – Hackfruchtstrunk – Einbruchsdiebstahlversicherungsgesellschaft – bis zu den abenteuerlichen Mammut-Gebilden neuester Prägung: Allerweltsbierbankstrategenkopf – und Kriegsverpflegungsfeldproviantamtinspektorstellvertreter;
und das sind doch nur dürftige Einzelproben aus einem ungeheuren Musterlager, das von jüngstdeutschen Dichtern durch Weitläufigkeiten wie »Schlummerebbungsschleime« bereichert wird. Zur Nachtzeit spukt in diesen Lagerräumen der Geist der seligen Hegelei mit seinen insichzurückgegangenseienden Anundfürsichigkeiten.
Die Berufung auf die exakte Wissenschaft hält nicht Stand. Denn diese gehorcht ausschließlich ökonomischen Gesetzen, in deren Umkreis das Wort nicht mehr tönende Verkündung ist, sondern Zeichen, Symbol, Formel wie der Buchstabe und die Zahlen in der Arithmetik. Der Philosoph soll noch Sprachverkünder sein wie der Dichter, und in seinen besten Erscheinungen von Plato bis über Schopenhauer hinaus ist er es auch wirklich gewesen. Der strenge Naturforscher wird von dieser Verpflichtung freigestellt. Ein Chemiker mag sprechen und schreiben: Dichlorhydratdioxydiamidoarsenobenzol; er hat Chemie zu treiben und nicht Phonetik. Wir andern aber haben dafür zu sorgen, daß die Wortungeheuer nicht Gewalt gewinnen in der Sprache, und daß deren Klang nicht von den Massenleibern der Ungetüme erstickt werde.
Um es offen zu bekennen: wir alle stehen in dieser Gefahr. Jeder Tag schafft uns in Zeitung und Buch, in Rede und Dichtung neue Überworte, neue mißtönende Streckungen, und es ist nicht abzusehen, wo dereinst der Klang ein Asyl finden kann.
Und wiederum sehe ich die einzige Hilfe, – sofern solche noch möglich, – im Weltwort, obschon auch dieses bis zu gewissem Grade der Gefahr unterliegt, durch Packung und Versippung seine Form und Klangfigur zu verlieren. Die Hilfe liegt hier in der Fähigkeit des Weltwortes, weitausgesponnene Begriffe kurz zu ergreifen, und langes Gerassel in ein faßliches Tonbild zu verwandeln; was ja wohl einer Forderung des inneren Ohres entsprechen würde.
Wenn ich dies an einigen Beispielen erläutere, so darf ich mir nicht verhehlen, daß ich damit durchaus keinen Beweis, höchstens einen Hinweis zu liefern vermag; aber in der anzugebenden Richtung mag vielleicht von denkenden Lesern der Beweis gefunden werden.
Wir sprechen von »Gedankenübertragung«; das ist als Worteinheit gefaßt, ein siebensilbiges Wesen von erträglichem Rhythmus. Wir spezialisieren den Begriff, indem wir dem Gedanken einen Willen beigesellen, und dabei verlangen, daß dieser übertragene Wille eine Tat auslöse, damit noch nicht genug: wir wollen ein Mittel bezeichnen, das von einer Ursprungsperson ausgehend auf dem Wege der Gedanken- und Willensübertragung eine Zielperson veranlaßt, im Zustande der Unbewußtheit bestimmte Vorstellungen und Gefühle aufzunehmen und in scheinbar freiwillige, tatsächlich aber erzwungene Handlungen umzusetzen. Der also dargestellte Begriff ist sehr verwickelt, und wenn wir dafür einen einheitlich-substantivischen Ausdruck verlangen, so müßte ein Wort von unübersehbaren Abmessungen erscheinen. Noch existiert es nicht, aber irgend ein Gewaltformer wird es einmal in die Welt setzen als ein Neugebilde, das vom Bandwurm die Figur und vom Kettengerassel den Rhythmus haben wird. Da meldet sich das Weltwort und erklärt: ich mache dasselbe einfach, klingend, eindeutig und unverschachtelt; ich umspanne den Begriff vollständig und brauche dazu weder Abhängigkeitssätze noch im Notbehelf aneinander gekleisterte Einzelworte; und kurz gesagt, ich heiße: »Suggestion«.
Wir begeben uns in einen Garten und gewahren dort eine Bewegungserscheinung; das Wort reicht nicht, wir müssen sagen: »Pflanzenbewegungserscheinung«; damit sind wir bei acht Silben, die wir noch gern in den Kauf nehmen. Jetzt drängt uns aber der Begriff, noch irgendwo die Silbe »Licht« hineinzukeilen und weiterhin den durch das Licht bedingten Wachstumsprozeß, und dazu die Richtung der einfallenden Sonnenstrahlen, und obendrein die Längsachsen der Pflanzenteile. Das alles soll ein Wort leisten, damit es dem einen geschlossenen, aber sehr komplizierten Begriff gerecht werde. Die Zunge macht Schwierigkeiten, aber sie wird auch dieses neuzuschaffende und bestimmt zu erwartende Goliathwort aussprechen lernen. Würde das innere Ohr befragt, so käme die Antwort: Strengt euch nicht an, denn was ihr da sucht und knetet und leimt, ist längst vorhanden; in einem wohlrhythmisierten Klangwort von starkem und erschöpfendem Ausdruck; sprecht, bitte: Heliotropismus!
In demselben Garten finden wir ein eigentümliches Kriechtierchen, das von der Natur mit einer besonderen Anpassungswaffe ausgerüstet ist. Wenn wir sagen: »Verähnlichungsanpassungsschutzwaffe«, so ist das Wort zwar schon sehr unbeholfen und mißklingend geworden, aber dem Begriff sind wir schon nähergerückt. Was noch fehlt, ist der Hinweis darauf, das die Natur dem Tierchen jene Schutzwaffe der Verkleidung zum Zweck der Feindestäuschung verliehen hat. Noch zehn Silben hinein, – man erlasse mir die Ausführung, der ich nicht gewachsen wäre, – und das Problem könnte als gelöst gelten; begrifflich-sprachlich gelöst, wenn man eben solche Wimmelworte als zur Sprache gehörig betrachten will. Das innere Ohr will das Problem anders gelöst wissen, mit dem hellklingenden Daktylus: Mimicry.
Wir betrachten das Tier, die Pflanze, finden im einzelnen verwandtschaftliche Beziehungen und suchen dafür nach einem gemeinsamen Ausdruck, der für die gewöhnliche Rede, wie für die getragene Dichtung paßt. Mit den Worten Glied, Körperteil, Körperwerkzeug ist uns nicht gedient. Wir verlangen, daß das Wort etwas aussage über die »innere« Zweckmäßigkeit, über den Gegensatz dieses Werkzeugs zum Instrument, zur Maschine, über seinen Trieb zur Selbsterhaltung und über den Zusammenhang der obwaltenden Lebenskräfte innerhalb der großen Natur. Diesem Verlangen entsprechend, wird sich also das Wort zu einem Massengebilde auszuwachsen haben, das seines Formers noch harrt und dessen Längsstreckung wir nur schaudernd erahnen können. Und wenn es fertig dasteht in seiner ganzen sinnvollen, aber klanglosen Plumpheit, wird neben ihm ein kleiner musikalischer Jambus auftauchen, der im Sinn genau dasselbe leistet, das Weltwort: Organ.
Wir bilden ein neues Adjektiv: erdmittelpunktig. Daß es in dieser Form schon drei Begriffe und elf Konsonanten enthält, soll uns nicht weiter stören. Wohl aber stört es uns, daß es zu wenig betont, worauf es uns ankommt, nämlich die Ausschließlichkeit der Erde in einer menschlichen Anschauungsform. Nicht das Geometrische wollen wir hervorheben, sondern die Enge einer Vorstellung, welche einseitig auf die Erde bezieht, was bei erweiterter Anschauung auf die Sonne oder das Weltall bezogen werden müßte. Strecken wir also jenes Adjektiv, sagen wir: »enganschauungserdmittelpunktig« und schachteln wir weiter, bis die Gesamtheit des Begriffs glücklich hineingestopft ist. Aber nie werden wir imstande sein, das Wort klingend zu machen oder gar, ihm den historischen Klang beizubringen. Und die ganze Arbeit hätten wir uns sparen können, denn das alte Weltwort geozentrisch leistet alles, was wir verlangen in Sinnbeziehung, in geschichtlichem Anklang und im Klang überhaupt.
Wir wollen einen eigenwilligen, herrschsüchtigen Menschen bezeichnen, einen, der bei der Durchsetzung seiner Pläne vor Vergewaltigung der Mitmenschen nicht zurückschreckt. Dafür wird die Sprache Rat wissen und die deutsche besonders im Reichtum ihrer Ausdrucksmöglichkeiten. Vielleicht: Machtstreber? reicht nicht. Denn über die Art der Macht wird nichts ausgesagt und über die Methode des Strebers nichts verraten. Wir aber haben ganz Bestimmtes im Auge, und wir definieren: dieser Mensch soll unabhängig davon, in welcher Staatsform er lebt, unabhängig davon, ob er selbst despotisch oder sozialistisch gerichtet ist, nach Macht streben; und zwar nach einer Macht außerhalb des Interessenkreises seines eigenen Volkes mit gewaltsamem Übergriff in die Angelegenheiten anderer Nationen. Das ist, obschon im Begriff sehr vielfältig, ganz klar, und dafür muß es ein Wort geben. Das Suchen hilft nichts, man muß es bilden, und irgend ein Bildner, will sagen ein Wort- und Silbenbäcker, ist vielleicht schon bei der Backarbeit. Aber das Wort existiert längst und hat sich mit dem inneren Ohr vortrefflich angefreundet. Es heißt: Imperialist.
Neue Begriffe sind auf dem Anmarsch, wollen und werden sich durchsetzen, verlangen nach Ausdruck. Der Denkmeister Emanuel Lasker erweitert den Übermenschen zu einer Figur, der in der Forschung und sicherlich auch in der Dichtung künftiger Tage eine Rolle spielen wird. Starke Lichtbündel einer neuen Philosophie strahlen von ihr aus, sie verknüpft mathematische Strenge mit poetischer Freiheit, und es bedarf langer schwieriger Auseinandersetzungen, um die neue übermenschliche Gestaltung zu verdeutlichen. Aber im Kopfe des Erzeugers entstand der neue Begriff zugleich mit dem neuen kurzen Ausdruck: Der Macheïde, abgeleitet vom griechischen maché, der Kampf. In seiner umfänglichen Sinnfülle trotzt er der Übersetzung, und dereinst wird der Macheïde, wie vordem der Pelide und der Atride, auch den Vers erobern.
Sollen wir uns den Taktrufen verschließen, die aus Technik und Verkehr auf uns eindringen, aus Fächern, die in ihrem Wesen auf Bewegung und Rhythmus eingestellt sind? Auf den Wagen neuer Bahnzüge, die Abendland mit Morgenland verbinden, lasen wir: »Mitropa«. Das war zunächst eine willkürliche Abkürzung von Mitteleuropa, und doch schon erkennbar ein neues Weltwort, ausgestattet mit den Vorzügen der Kürze, des Klanges und der weitreichenden Sinnbeziehung. In ihm steckt Zusammenschluß, Raum- und Zeitüberwindung, internationale Weite, Völkerbrücke. Und das innere Ohr hat seine Patenschaft nicht verweigert, als das Neuwort geboren wurde.
Gewiß, das Abkürzungsverfahren hat bei uns neben gut und leidlich Klingendem auch manches Übeltönende hervorgebracht. Aber diese kleinen Sprach-Geschwürchen sind noch erträglich gegenüber den unabsehbaren Wucherungen der Langwörterei. Deren Erzeugnisse sind wie die Atlantosauren und Diplodokken der Vorwelt Schrecknisse der Natur, und man kann nur wünschen, daß es ihnen ebenso ergehe, wie den Riesenechsen der Vorzeit; das heißt: daß sie von der Überfülle ihrer eigenen Körper erdrückt werden. Das ergäbe auch einen Ausblick auf gedeihliche Neu- und Zukunftsgestaltungen. Aus den Dinosauriern entwickelten sich die Vögel, die das Singen erlernten. Ob sich vielleicht aus den Dinosaurischen Sprachungeheuern, die uns heute umkrächzen, später einmal beschwingte Singworte entwickeln werden?
Das wäre ein Segen für Auge und Ohr, nicht nur für das Ohr allein. Denn das innere Auge nimmt die Chladnifigur des Klanges wahr, zum Tone ein Bild. Es liefert zur Sinnesempfindung eine wichtige, obschon den meisten Menschen unmerkliche Komponente.
In Lessings Nachlaß fand sich ein Aufsatz über das Thema »Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen vorhanden sein können«, und hieraus hat Fritz Mauthner in seiner gewaltigen Kritik der Sprache bedeutsame Folgerungen gezogen. Unsere Sinne sind »Zufallssinne«, nicht so zu verstehen, daß unsere Sinne zufällig so wurden, wie sie geworden sind, aber so, daß in einer unbekannten Welt die Sinne ganz andere Wahrnehmungen ihrem Träger zuführen können. Der Zufall ist der wohltätige Hilfsbegriff, der uns zum Ersatz unauffindbarer Glieder in der Kausalkette dient. Er öffnet uns die Möglichkeit von Fragen, die in der strengen Notwendigkeit keinen Bestand hätten und trotzdem zu Einsichten führen können. Diese Einsichten haben die Form der Wahrscheinlichkeit, des »Vielleicht«; und in diesem Vielleicht steckt wiederum die Berufung auf den Zufall.
Vielleicht irren wir uns alle in der Beurteilung unserer Sinne. Vielleicht hatte Epicharm Recht mit seinem Ausspruch: »Das Auge ist blind, das Ohr ist taub, nur der Verstand sieht und hört.« Vielleicht ist das Feld der Sinne überhaupt ganz anders abgegrenzt, als wir meinen. Tieck sah den Flötenton blau und stellte einen Maler dar, der den Gesang der Nachtigall auf die Leinwand wirft. E. T. A. Hoffmann erklärte, daß der Geruchssinn für den Musiker zum Hörsinn wird, daß Düfte wie Farben und Lichtstrahlen ihm als Töne erscheinen, und daß ihr Zusammenklingen ihm zu einem wunderbaren Konzert wird. Der Duft der roten Nelke erregt in ihm den Eindruck ferner Waldhornklänge. Sein Kapellmeister Kreisler trägt einen Rock in Cis-Moll und einen Kragen in D-Dur; der Ton wird ihm greifbar, und mit einer übermäßigen Quinte will er sich erdolchen. Dem Maler Feuerbach galten seine Farben dauernd als Klangschwingungen, für Otto Ludwig verwandelten sich Goethe und Schiller in Farbenerreger, und der große Dirigent Hans von Bülow forderte oft vom Orchester, bestimmte Stellen röter oder grüner zu spielen. Vielleicht verbirgt sich in all diesen Phantasien ein Stück unerkannter Wirklichkeit? Vielleicht ist das besondere Sprachohr, Nietzsches »Drittes Ohr«, physiologisch erforschbar?
Wir haben keinen Anlaß, uns dieser Möglichkeit völlig zu verschließen, ja wir bekennen sogar, daß wir mit ihnen rechnen wollen, um gewisse Erscheinungen anders zu erfassen, als im Zuge der Landläufigkeit. Daß das Ohr sieht, zu sehen vermag, wurde schon erörtert. Über den akustischen Klang hinweg vernimmt es Sinn-Klänge und wird dadurch zu einem Organ der Ein-sicht in Zusammenhänge. Der Verstand antwortet auf Botschaften des Ohres mit Einsichten.
Und das Auge hört. Jede Musikaufführung müßte uns zur Anerkennung dieses Satzes zwingen, wenn nicht ein anderer Denkzwang uns immer wieder auf die angeblich festen Grenzen zwischen den Sinnen stieße und irreführte.
Die alten, neuerdings wieder lebhaft besprochenen Frageprobleme: Sollen wir die Orchester verdecken? Ist die Sichtbarkeit des Kapellmeisters für den Kunstgenuß wertvoll? beruhen auf diesem alten Denkzwang. Man hat Umfragen veranstaltet, zahlreiche hervorragende Künstler haben sie beantwortet, so oder so, und alle Gutachten gingen am Wesentlichen vorbei; da sie immer nur vom »Urteil über die Leistungen« handelten, nicht auf die elementare Empfindung eingingen. In dieser aber ist die Mitwirkung des hörenden Auges ein wesentlicher Bestandteil. Die gesehene Bewegung schwingt hinüber in das Feld der Hörklänge, und der höchste Grad der Polyphonie läßt sich nur bei Zutritt der Optophonie erreichen.
Der Klangsichtbarkeit des ausübenden Musikers entspricht der Sinnklang und Sinnrhythmus im Schrifttum, in Prosa und Dichtung. Ein einzelnes Wahrnehmungs-Organ reicht nicht aus, um sie zu erfassen; an den Grenzen der Organe vermuten wir Helfer, wenn sie auch vorerst nur in Andeutungen vorhanden sein mögen. In allem Organischen ist der Wunsch der Vorläufer der Erfüllung. Der Vogel flog nicht, weil ihm Flügel wuchsen, sondern ihm wuchsen die Flügel, weil in seinen kriechenden Altvordern ein Trieb zum Flug vorgebildet war. Und jeder Wunsch entspringt einer Not, in unserem Falle einer Sprachnot, die um so fühlbarer wird, je weiter der Prozeß der Begriffs-Verästelung vorschreitet. Durch Wort- und Satz-Ungeheuer sucht sie der Schwierigkeit Herr zu werden, in ihrer Not, mit dem Ausdruck überhaupt fertig zu werden, sei es auch um das Opfer des Klanges. Wir aber ahnen: Das Ohr der Zukunft wird sich solches Opfer nicht gefallen lassen, und es bedarf nur dieser Ahnung; sie ist gleichbedeutend mit dem Wunsche, das Zukunftsohr zu besitzen.
Ihm werden die Angstrufe des mißhandelten Klanges erspart bleiben, denn die Sprache wird sich nicht auf alle Dauer den phonetischen Forderungen entziehen können. Sie wird andere Mittel entdecken, die Begriffsschwierigkeiten zu überwinden, wenn der Verfolg der heutigen Linie das Ohr zur Rebellion getrieben hat.
Von diesen Mitteln liegen die meisten und wichtigsten auf dem Wege zur Universalsprache. Sie leisten klanglich was sie sollen, bewahren die Sprache vor Geschwülsten und erheben zugleich den Ausdruck zur allgemeinen Verständlichkeit. Der Sprecher und Schreiber sehr ferner Zeiten wird vielleicht einmal eine Statistik der Drachengebilde entwerfen, die wir heute für Worte und Sätze halten. Er wird sie mit den Gebilden von früher und später vergleichen und die Frage aufwerfen: wie kam es, daß gerade die Spanne vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert soviel Unausstehliches hervorbrachte und ertrug? hatten die Leute keine Ohren? Und sein Kollege von der Musik wird ihm entgegnen: Nimm dir die Noten derselben Zeit vor und prüfe sie auf melodiösen Klang; da erkennst du die Wechselwirkung: die Leute hatten zumeist wirklich keine Ohren!