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Im sechsunddreißigsten Stück seines ersten Buches bringt Montaigne den anscheinend sehr paradoxen Satz: »Es ist leichter, Gedichte machen, als verstehen.« Ohne sich auf eine ernstliche Begründung einzulassen, stützt er sich auf einige dem Plato entlehnte Bildervergleiche, um seiner Meinung Nachdruck zu geben: wir haben weit mehr Dichter als Kenner und Ausleger der Poesie; hält sie sich in niedrigem Fluge, so kann man sie nach den Regeln der Kunst beurteilen; die gute aber ist über allen Regeln und über aller Vernunft.
Man kann das seltsame Wort des Montaigne verschärfen, indem man hinzufügt: bisweilen wissen die herrlichsten Dichter selbst nicht einmal, wie herrlich sie dichten; was darauf hinauslaufen würde, daß sich nicht einmal den poesiebegnadeten Verfassern das volle Verstehen ihrer Schöpfungen ermöglicht. Und ich glaube, daß sich dies an hervorstechenden Beispielen unserer Neutöner im Gebiet der Wortkunst unter Beweis stellen läßt.
Nicht als ob ich mir persönlich etwa damit jenes höhere und ganz besondere Verständnis zusprechen wollte. Hiervon weit entfernt, bekenne ich sogar leidvoll, daß ich mich in vielen Geländen unserer Neulyrik nicht zurechtzufinden vermag; ja noch mehr, ich weiß ziemlich genau, die Schuld daran liegt in mir, liegt daran, daß eine stiefmütterliche Natur mir gewisse seelische Saiten versagt hat, deren Mitschwingen unerläßlich ist, wenn man jene Gelände mit Genuß durchstreifen möchte.
Und dennoch! Was nach Montaigne über allen Regeln und aller Vernunft liegt, besitzt auch Pforten, die sich nur dem Denken öffnen. An diese Pforten habe ich zu klopfen versucht, und einige haben sich mir aufgetan.
Zuerst ermittelte ich, daß viele Gedichte unserer lyrischen Neutöner sich »umkehren« lassen, also ein experimentum crucis vertragen, das die Dichtungen ehemaliger Lyriker von Anakreon angefangen bis zu Goethe, Mörike, Heine, Eichendorff in keiner Weise bestehen können. Ich mag die Beispiele, die ich dafür an anderer Stelle mitgeteilt habe, hier nicht wiederholen. Genug: es geht. Man kann eine Reihe der besten Neudichtungen strophenweis, ja versweis umkehren, umstülpen, Zeile für Zeile rückwärts lesen, und sie bewahren vollkommen den Sinn ihres Inhalts, eines Inhalts, dessen Schönheit und Bedeutung mir zwar entgeht, der aber jedenfalls, da es sich um bekannte und berühmte Dichter handelt, vorhanden sein muß.
Daß dies möglich ist, kann nur auf einer ungeheuren Sprachmeisterschaft beruhen. Diese studiere man an den leichtzugänglichen Urbildern, die sich in sich selbst spiegeln und in der Spiegelung ungeahnte Reize entfalten. Intuitives offenbart sich hier, aus seelischen Erregungen der Meister, denen ein Gott nicht nur gab, zu sagen, was sie leiden, sondern es zweimal zu sagen: im Urton und im Spiegelton. Das wahre Kennzeichen des Genies, die Naivität des Schaffens, feiert hier einen schönen Triumph: ein Gedoppeltes entsteht, während der Dichter oder die Dichterin glaubte, ein einfaches ausgesprochen zu haben. Und als Nebengewinn ergibt sich noch eine in unseren Zeiten sehr hoch zu schätzende Ersparnis an Papier, da jedes umkehrbare, von rückwärts lesbare Gedicht nur die Hälfte des Platzes beansprucht, das ihm nach den Satzungen Apolls und von Rechtes wegen eigentlich gebührte.
Wenn es eines Beweises bedürfte, daß Sprachkunst die Tonkunst zu überflügeln vermag, die Verfasser der modernen Vor- und Rückwärtsgedichte hätten ihn erbracht. Im ganzen Bereich der Musik von Palestrina bis zu Korngold gibt es keine sinnige Tonfolge, keine Melodie, die solchem Experiment gewachsen wäre. Das umgekehrt-akustische Bild wird immer sinnlos. Anders im wortmelodiösen Gefüge, wo über einer grundsätzlich veränderten Wortfolge die poetische Empfindung in unverbrüchlicher Einheit schwebt. Eine solche Dichtung besitzt sozusagen eine Dimension mehr als selbst die besten aus klassischer und romantischer Zeit. Keinem meiner Leser will ich die Genugtuung stören, durch eigenes Nachforschen in modernen Gedichtbändchen und Sturm-Heftchen die Proben solchen spiegelbildnerischen Schaffens zu erhalten. Stöbert, so werdet ihr sie finden, die Kleinodien einer Lyrik mit Rücklauf und Rückprämie; und bei jedem einzelnen Funde wird es euch zur Gewißheit werden: es ist eine Lust, das erlebt zu haben!
Ihr werdet aber noch mehr finden, nämlich Sprachformen, die gar nicht auf den Spiegel zu warten brauchen, sondern schon im ersten Auftreten und aus eigenem Vermögen das Ohr mit Zauber umschmeicheln und dabei den Verstand überrennen. Und so scheint es sich ja zu bestätigen, daß in der neuen Lyrik die in deutscher Prosa so mißhandelte Sprache nicht nur ein Asyl, sondern die ihr zukommende Prachtstätte gefunden hat.
Diese Schlußfolgerung stammt allerdings nicht von mir, sie enthält vielmehr nur die Meinung gewisser Sprachpäpste, die hier, soweit es die Dinge nur irgend gestatten, Recht bekommen sollen.
Denn das Wort ist der Urgrund und der Grundbestand der Sprachmeisterschaft. Also sehen wir zu, welche Worte wir aus der Neulyrik gewinnen können, zum Ersatz für die verdammten Welschereien wie Interesse, objektiv, Element und tausend andere, wenn wir diese erst glücklich aus unserem Sprachkasten herausgeworfen haben.
Ich schlage das Werk auf eines der Angesehensten, den »Sternhellen Weg« von Theodor Däubler. Das ist ein Heftchen von erfreulicher Schmächtigkeit, nicht beschwert mit Element, Pathos, Phantasie, auch nicht mit Interesse, Genie, Originalität und ähnlichen fremdbrockigen Ludereien. Da es aber die echteste, die höchstgesteigerte – um nicht zu sagen: sublimste – Poesie enthält, wie die Kenner behaupten, denen ich unbedingt vertraue, so wird es zweifellos Zeugnis ablegen von sprachschöpferischer Kraft; es wird sich uns Verschlammten als ein Jungbrunnen öffnen, in dem wir wenigstens einen Teil unserer scheußlichen Welschkruste erweichen und abbaden können, um mit gereinigtem, verjüngtem Sprachbewußtsein daraus hervorzusteigen.
Da wird in einem Gedicht »Der stumme Freund« endlich einmal – es war die höchste Zeit! – der Mond angesungen:
Wir träumen uns hinweg nach einem Heime,
Wo unser Aufgang starr und frostig sei.
Im angeträumten Schlummerebbungsschleime
Erscheint des Sterbens Silberstickerei,
Der Mond verstreut die bleichen Todeskeime,
Sein Mitleid keimt bereits in jedem Ei.
Die erstaunliche Tatsache, daß in allen Eiern außer den Zellkernen auch noch das Mitleid des Mondes keimt, oder vielmehr bleiche, vom Mond verstreute Todeskeime, die in den Eiern auf dem Umwege über das Mitleid wieder lebendig werden, lasse ich ganz beiseite. Das sind rein dichterische Angelegenheiten, die unsere Neutöner ganz unter sich auszumachen haben, in einer Sternenhöhe der Anschauung, zu der sich ein Schriftsteller meines Formates nicht emporwagen darf. Wir können allenfalls Descartes verstehen, und Algebra, und den ganzen Goethe, und ein bißchen Astronomie bis zum Sirius – die letzten Beziehungen vom Erdtrabanten zu den Eiern bleiben uns verschlossen. Dagegen sind wir durchaus befähigt, ein wahrhaft deutsches Neuwort wie »Schlummerebbungsschleim« zu begreifen und zu würdigen; und zugleich zu erahnen, daß da noch hunderte von anderen angeträumten oder angewachten Schleimen existieren müssen, die uns in unserer Sprachnot die wertvollsten Dienste leisten können. Wir könnten so etwas nur mühsam und ohne Aussicht auf Erfolg konstruieren, der Dichter findet es intuitiv.
In anderen Offenbarungen des nämlichen Arion finden wir folgende sprachliche Herrlichkeiten:
— — — — — —
Die Äste mit nassen Glizinien behangen
Beträumen ein Taudiamantangebot
— — — — — —
Der Mohr gehört zu den geträumten Sklaven,
Er wird von Sorgenwölfen angebissen
Und wälzt sich unter Wollusthindernissen;
Doch lieblich blüht das Träumen von Agaven.
Und wiederum kann unsereiner nur erschauernd ahnen, was in all dem Geträumten eigentlich vorgeht. Aber das mangelnde Verständnis braucht kein Sorgenwolf zu sein, der uns anbeißt. Ganz im Gegenteil: diese traumselig beschwingte Wortgestaltung befreit uns, indem sie auf uns überströmt, von einer Wolfssorge; vor uns breiten sich unendliche Flächen ertragsreichen Wort-Neulandes, auf denen uns Überfülle erwartet, selbst wenn uns unsere eigne Welsch-Ernte total verhagelt; und wir wälzen uns bereits in einem Gemisch von Wollusthindernissen und Wollustförderungen, wenn wir daran denken, welch reiche sprachliche Taudiamantangebote wir beträumen, wieviel Schleimschlummerebbungen uns künftig im Kampf mit der Sprache erspart werden. Ja, vielleicht gehört die ganze Sprache nur zu den geträumten Schwierigkeiten, wie der Mohr zu den geträumten Sklaven! In diesem Sinne begrüßen wir solche Dichtungen als eine schriftstellerisch höchst wertvolle Agave.
Aber da erscheint ein neuer Sorgenwolf, man könnte beinahe sagen, eine Sorgenhyäne, oder da es sich um ein Wasserspiel handelt: ein Sorgenhaifisch. Denn die nachstehende Strophe des nämlichen Meisters entzündet in uns einen Gewissenskonflikt. Sein wundersames Gedicht »Auf sonniger See« beginnt nämlich:
Ein Segel wird zur Meereswanderblüte,
Mit Plätscherblättern silbert es dahin,
Dir kommen Lotosblumen in den Sinn,
Doch plötzlich untertulpt sich eine Tüte.
Nicht als ob ich an der Ausgiebigkeit dieses Musters für weitere Fälle zweifelte. Das wäre nur eine Frage des kombinierenden Verstandes, der ja schließlich mit allem fertig wird. Allein hier beißt mich ein Sorgenhecht, und nicht bloß ein geträumter, direkt ins Gewissen. Denn wenn sich eine Tüte untertulpt, dann kann sich auch eine Tulpe untertüten, und was der Tulpe und der Tüte recht ist, das muß im Stande der Sprachfreiheit allen Gewächsen und Materialformen billig sein. Das Gewissen fragt: darf man das bis in alle Fessellosigkeit? Gibt es nicht gewisse Schranken, die selbst der Meister nicht niedertulpen darf? Ist es denn im Sprachgebiet verstattet, jede Regel, jede Überlieferung niederzunelken, entzweizufliedern, kaputzuastern?
Die Tüte antwortet mit Ja. Aus ihren Meereswanderblütenplätscherblättern tulpt sich ein Sprachsignal empor, mit dem Hinweis darauf, daß wir uns aller Überlieferung entäußern sollen; und überhaupt ent . . ., so ent . . . wie möglich, unserm Meister folgend, der so eifrig die Entdichtung pflegt:
— — — — —
Dein Blick will entblauen.
— — — — —
He he! Hört ihr nicht, wie's Helene
He he le le Lene der Treppe entdröhnt?
Das ent . . ., vordem verkannt und mißachtet, soll der Auftakt und die Leitsilbe der Literatur werden. Noch gibt es tausende von Worten, die mit dieser Silbe keine Bekanntschaft gemacht haben: führen wir sie zusammen, und wir gewinnen tausende von dichterisch schönen Neuworten. Den vordem so armen, so hilflosen Ausdruck wollen wir entarmen, enthilflosen und dadurch der Sprache zahllose neue Reize entschreiben, entdichten, entreden, entschriftstellern, daß uns selbst Demosthenes, der alte He he le le Hellene darum beneiden soll.
Hier gibt es kein Entweder, Entoder, sondern nur den Vorsatz, die freie Farbe der Entschließung zu entkränkeln.
Es wird Zeit, daß wir uns verjüngen, nachdem wir lange genug entjungt waren; so dürfen wir hoffen und zürnen nach dem Vorbild des großen Dichters Alfred Wolfenstein, der uns dieses »entjungt« in einer himmlischen Strophe geschenkt hat. Und dann, wenn wir uns glücklich entaltert haben, dann wollen wir erst einmal gründlich untersuchen, was denn eigentlich unsere Seele wünscht und will; der Prosaschreiber, der welschende Dümmling, ist noch weit entfernt davon, das zu wissen; aber der Dichter weiß es schon heute . . .
Die Arme werfen ihre Hände
Durchs Fenster in die breite Luft,
Sie aber (die Seele) will recht nahe Wände
Vom Weltall eisern abgepufft.
– Ein leises Ruhn auf wildem Fegen –
Ich bin so irr als ginge wer
Im D-Zug-Korridor entgegen
Dem Hinsturm auf dem Rädermeer. –
Ich verhehle mir nicht, daß dieser Seelenwille an Klarheit zu wünschen übrig läßt; ja, ich bin nicht einmal sicher, ob die Seele nun wirklich andauernd im D-Zug zu fahren begehrt. Einerlei; auf den Ausdruck kommt es an, und die recht nahen, vom Weltall eisern abgepufften Wände stellen entschieden eine Sprachbereicherung dar, der zuliebe wir sogar den lateinisch-italienisch-französischen »Korridor« gern in den Kauf nehmen. Dafür wird sich schon einmal ein poetisch-bahnamtlicher Ersatz finden, wenn wir erst die Wände unserer Sprachbehausung gegen das französelnde Weltall eisern abgepufft haben.
Ich muß die vorstehenden Zeilen wohl wieder ausstreichen, denn soeben entdecke ich, daß mein leiser Zweifel unberechtigt war: die Dichterseele ist und bleibt tatsächlich auf den D-Zug angewiesen:
— — — — — —
Wenn ich vom schmalen Fenster der Stadt
Die mauerne Straße besah,
Die schlürfend, bremsend, konversierend vorbeigeschah,
Sichtbar im Drehn wie ein Droschkenrad –:
—: Fühlt ich von lauem Wannenbad
Umplätschert meine gierige Geberde –
— Von dir, unplanetenhafte abgestandene Stadt! –
— Nur der Zug hält die Hand der rasenden Erde!
— — — — — —
Aber von mir sei euch vernichtenden
Räder! Euch Fülle dichtenden – geglaubt!
Ihr Füße über Eisen unter meinem Fleisch und Haupt!
Das ist klar, einleuchtend und zeigt uns zudem, wie weit wir es in der Dichtkunst gebracht haben, während die Prosa ringsum aus sattsam bekannten Gründen verluderte. Auch Schiller hat ja einst die Stadt in den Kreis seiner, ach so unbeholfenen Dichtung zu ziehen versucht, im Spaziergang:
»Prangend verkündigen ihn von fern die beleuchteten Kuppeln,
Aus dem felsigten Kern hebt sich die türmende Stadt.«
»Türmend«? welch ein unpassender, grammatisch verfehlter Ausdruck! Der Sprachmeister der Neuzeit sieht, fühlt und bietet das anders; eine Stadt ist unplanetenhaft abgestanden, mit ihren Straßen, die an uns vorbeigeschehen. Da haben wir die Steigerung im Verhältnis vom Spaziergang zum Blitzzug; und wir begreifen vollkommen: um wahrhaft formgestaltend zu dichten, muß man Fülle dichtender Eisenräder unter Fleisch und Haupt haben.
Eine gewisse Enttäuschung stellt sich ein, wenn man an die Werke von Stefan George herangeht, der sich eine starke, treugläubige Gemeinde erworben hat. Nicht als ob ich hier sein dichterisches Ingenium als solches bestreiten wollte, denn hierfür müßte ich mich in eine Analyse einlassen, die ganz und gar nicht in den Rahmen dieses Buches fällt, nicht fallen kann, da sie nur im Zusammenhang mit der deutschen Dichtung überhaupt gegeben werden könnte, was mindestens einen Zehnbänder für sich beanspruchen würde. All die Geheimnisse und Unwägbarkeiten, welche zwischen Gefühl und Formung, zwischen Kunst und Künstelei, zwischen Offenbarung und Bluff liegen, müssen hier beiseitegelassen werden. Die Pole, durch welche die Achse dieses Buches bestimmt wird, sind Ausdruck und Bildung im Sinne wirklicher Geistigkeit, wirklicher Einheit von Dichten und Denken. Und so wird auch den Neutönern hier nur das abgefragt, was sie uns an Geistigem in ihren eigenen neuen Sprachformungen zu bieten haben.
Aber wo sind bei Stefan George die Neuprägungen? Überwiegen nicht die Schablonen, die klischierten Vergleiche, mit denen die Goldschnittlyriker von jeher die Erde verhimmelt haben? Ohne Unterlaß umklingeln uns da »sonniger Flaum«, »klingende Flocken«, »glutumsäumte Firmamente«, »Gold und Rosen«, »dunkle Anemonen«, »Demantenes«, »Silberflocken«, »Blüten-Überschwall«, »silbrig welkes«, »Purpurlicht«, »Purpurschwellendes«, »Perlmutterfarbenes«, »Gold-Karneol«, – wirklich da fehlen nur die Gelbveiglein, und man hätte alles beieinander, was sich schmachtselige Gouvernanten nur wünschen können. Gold, – Silber, – Silber, – Gold, – versilbert, übersilbert, entsilbert, umsilbert, – ein Bimetallismus, ein Bimmelmetallismus ohne Ende.
Aber schließlich muß doch aus der abgründigen Tiefe der Dichtung auch Neues im Ausdruck ans Licht steigen, zumal uns dies ausdrücklich versprochen wird. In dem Bande »Der siebente Ring« wird uns vom Dichter selbst angesagt:
Euch ist die Haut nur kund – – – –
oder noch besser in Stefan Georges urschriftlicher Notierung
Euch ist die haut nur kund –
Wir wissen tausend namen
Von wind- und wolkenschub
Vom heer im wassergrund
Von tausend dunklen samen
Die finsternis vergrub.
Das macht neugierig. Und wir, denen die Haut nur kund ist, wir haben ein Recht zu der Forderung: Her mit den tausend Namen, die du weißt! lege sie nieder auf den Literaturtisch, zur Bereicherung unsrer Sprache, aber nicht die sonnigen Flaume, das flockige Silberzeug – denn diese Namen wissen wir auch –, sondern die tausend neuen, die du, nur du, wissend geschürft und gefördert hast!
Sollen wir die letzte Strophe des nämlichen Gedichtes schon für den Anfang einer Erfüllung nehmen?
Euch stach man nie den staar:
Ihr wandelt blöd und dumpf.
Wir feiern fest am sumpf
Am wasen der kafiller
Im giftigen fosforschiller
Sehn wir das wesen klar.
Nun, das klingt doch wenigstens, wenn auch nicht allgemein verständlich; denn nicht jedem dürfte es bekannt sein, daß der »Wasen der Kafiller« ungefähr soviel bedeutet wie Schindanger oder Abdeckerei, und außerdem: wenn die Sprache um Ausdrücke kämpft, so sorgt sie sich nicht gerade um den Schindanger und seine Synonyme, sondern um ganz andere Dinge. Aber hier sind es Hexen, die im fosforschiller an der Abdeckerei das Wesen klar sehen und tausend Namen wissen, die sie dem Dichter als ihrem Verkünder doch zweifellos mitgeteilt haben, also nochmals: heraus damit!
Man muß aber mit der Lupe suchen, ehe man was findet. Vielleicht hier?
. . . . . für zehntausend münder
Hält einer nur das maß. In jeder ewe
Ist nur ein gott und einer nur sein künder.
Was mag ewe sein? klein geschrieben, nicht mit v, sondern mit w schließt es den Verdacht aus, als könnte etwa Eva gemeint sein. Neuprägung? Ich vermute so etwas: ein verkürzter, poetisch verdichteter Ausdruck für »Ewigkeit«; was ja auch im Zusammenhang einen ganz guten, sogar bedeutungsvoll ansprechenden Sinn ergibt.
Sollte meine Mutmaßung nicht gänzlich fehlgehen, so hätten wir hier allerdings einen Sprachfund. Was hat sich unsereiner schon mit dem holprigen Wort »Unendlichkeit« geplagt; sagen wir: »Die Unendle« und wir können einen sprachlichen Fortschritt buchen; statt Obrigkeit zu setzen: die Obre, statt Geschicklichkeit: die Geschickle, wäre statthaft, und die Deutle, ich meine die Deutlichkeit, würde darunter nicht leiden. Freilich der Weimaraner wußte noch nicht zu schreiben: »Was man von der Minute ausgeschlagen, gibt keine ewe je zurück«; aber zwischen dem altbackenen Dichter Schiller und dem modernen fosforschiller besteht eben ein Unterschied.
Weiter!
— — — — — —
Verlöschen muß der kerzen bleiches glinstern . . .
— — — — — —
Du warst für uns in frostger lichter glosen . . .
Diese Ausdrücke sind, wenn nicht neu erfunden, so doch so fabelhaft selten, daß sie als Neuprägungen gelten können. Sanders geht an ihnen vorbei, obschon sich glinstern auf finstern und glosen auf Rosen reimt. Die Hauptsache ist, daß sie für alle Bezeichnungen des Leuchtens, Glitzerns, Glimmens den Hinweis zu neuen Verfeinerungen und Abschattierungen gewähren.
In Betracht kämen
für glitzern: glotzern, glützern, glanzeln, glanstern, gliseglastern, gloseglostern;
für glimmen: glommeln, glimmstern, gluseglinstern, glemmlitzern usw.
wobei zu bemerken, daß »glinzen« schon bei Luther vorkommt, der Georges Fortschritt wohl vorausgeahnt haben mochte. Jedenfalls öffnet sich hier eine dichterisch begründete Methode, um so abscheulichen Fremdworten wie irisieren, fluoreszieren, opalisieren und ähnlichem Gelichter den Garaus zu machen.
Noch wichtiger erscheint mir die Sprachbereicherung durch Beschränkung, die durch Armut emporgezauberte Fülle. Daß die Artikel »der, die, das« oft nur einen Ballast darstellen, haben wir oft genug empfunden, ohne den Wagemut aufzubringen, diese störenden Entbehrlichkeiten abzuwerfen. Und doch bedarf es hierzu nur eines kurzen Entschlusses:
— — — — — —
Pfad noch läuft vom tor wo du
Standest ohne umzuschaun
Dann ins tal hinunterbogst.
Bei der kehr warf nochmals auf
Mond dein bleiches angesicht ..
Doch es war zu spät zum ruf.
Dichter zeigt uns Weg. Artikel verliert Berechtigung. Zeitgenosse nimmt sich vor, Beispiel zu folgen. Wer Zweck will, muß Mittel wollen. Im Anfang war Wort; aber Wort, wenn entbehrlich, sie sollen nicht lassen stahn. Buchstabe tötet.
Aber Geist macht lebendig. Und man müßte schon in rettungsloser Erstarrung liegen, um nicht wachgerüttelt zu werden von Ausdrucksgewalten wie:
Was machst du daß zu höherem gerase
Uns immer fernres fremdres wehe umblase?
Wenn kaum wir eine weil in stille flacken
Treibt uns ein neuer mund zu lohen zacken.
Hier endlich öffnet sich der Mund unbegrenzter Ausdrucksmöglichkeit, und wenn er uns auch nicht wie angesagt tausend neue Namen liefert, so treibt er uns doch zu jenen lohen Zacken, zu jenen Feuergipfeln, auf denen wir das Geheimnis der seligen Sprachschönheit vermuten. Denn es besteht kein Zweifel: was uns Richard Wagner als den Brünhildenfels mit der wabernden Lohe vorgestellt hat, das ist hier in einem gesteigerten Feuerzauber zu lohen Zacken geworden. Zu ihnen wollen wir aufstreben, nachdem wir lange genug in Stille geflackt haben, ohne uns auf das im Sprachsinne so wichtige höhere Gerase zu besinnen. Nur ein einziger Ausdruck stört uns in dieser stürmischen Ode: das »Umblasen«. Wenn man nämlich durch jenes fernere Wehn einfach umgeblasen wird, so hilft das sublimste Wollen nichts, und man gelangt ebensowenig zu den lohen Zacken, als wenn man im Stillen immer weiterflackte.
Tatsächlich aber tritt der Moment des Umgeblasenwerdens ein; an einer windscharfen Ecke nämlich, wo der Ausdruck so orkanartig auftritt, daß er alle unsre Begriffe von Anklang und Reim entzweiknickt:
Verschollen des traumes
Des gottes herabkunft!
Nun waltet des raumes
Ein ruf aus dem abgrund.
Tobt hier ein Verhängnis oder scherzt ein neckischer Zufall mit Gleichheiten der Vokale? Die nächsten Strophen müssen die Aufklärung bringen:
Verschwunden das sehnen:
Verheerender glutschwall
Schon schloß über jenen
Der stärkere flutprall.
Nun liegt die Absicht klar am Tage, denn glutschwall reimt sich auf flutprall beinahe wie Zufall auf Fußbank. Die alte, starre Reimfront wird elastisch, zahllose ungeahnte Ausdrucksmöglichkeiten öffnen sich, der Reim als Mittelglied zwischen Sprache und Symphonie wird aus den Fesseln uralter denkträger Gewohnheit erlöst:
Der oft sich erneunde
Nicht sei mehr der schwur laut!
Ich reiche euch freunde
Den mund hin zum urlaub.
Schwur laut, Urlaub, Flurraum, Epikurschmaus, Uhrraub, Skulpturhaupt, Torturgraus – wer hätte gedacht, daß sich das alles einmal reimen, daß der Dichter, statt nach Reimen zu suchen, von Reimhorden überfallen werden könnte!
Die hände die mienen
Erflehn von dir ruh nun
Ich frieden vor ihnen . . .
Und wach bleibst du nur.
Damit schließt diese Dichtung, die an der Weltenwende wie ein Leuchtturm seinen Scheinwurf in ein Zukunftsparadies der Sprache spielen läßt. Was ist, was war der Reim? Ludwig Fulda hat ihn einst als den Standesbeamten der Begriffe definiert, »indem er ein Wortpaar zusammengibt, das sich schon lange heimlich geliebt.« Aber erst jetzt werden uns die Augen geöffnet über die Ausmessungen dieser Wortliebe. Alles liebt sich! Denn bei den Vokalen werden wir doch nicht stehen bleiben wollen? Auch die Konsonanten melden ihre heimliche Neigung an und streben zum Standesbeamten, der sie zusammengibt. Dann reimt sich Gasthof auf Gustav, Pettenkofer auf Patentkoffer, Hungergefühl auf Kupferoxyd, Füllfeder auf Hilfslehrer, Leuchtkraft auf Euphrat, Braustübl auf Brustübel, Autorschutz auf Autobus, Stefan auf Steppgarn und George auf Drehorgel. Alle Prosa kann sich dann in tönende Reimpoesie auflösen, die Sprachentwicklung liegt vollendet vor uns. Ein Klang wie von Bach und Beethoven – steigt auf überm Wortozean, – und das hat mit seinen Strophen – der Stefan George getan.
*
Ich nehme an, daß die hier betrachteten Ausdruckskünste in das weite System des »Expressionismus« gehören, das seit einem Jahrzehnt so große Geltung erlangt hat. Mit diesem Wort wird man sich wohl befreunden müssen, da es allen Übersetzungsversuchen widersteht und, wie die Fachkenner behaupten, nur gefühlt, nicht erklärt werden kann. Vielleicht könnte man »Ausdruckismus« sagen, um es wenigstens von dem uns geläufigen »Ausdruck« zu trennen, und dementsprechend auch »Eindruckismus« (Impressionismus), »Würfelismus« (Kubismus) und »Zukunftismus« (Futurismus). Erläutert wird, daß der »Expressionismus« direkt aus dem Herzen kommt, nur fehlt die genaue Angabe darüber, wie talentvoll ein Herz wohl sein müsse, um Expressionistisches zu leisten; jedenfalls waren die Herzen der alten Literaturschimmel von Horaz bis zu Lenau nicht geeignet dazu, da sie sonst die Ehre, den Expressionismus zu entdecken, nicht den Neutönern überlassen hätten. Dieser Unzulänglichkeit der Alten entspricht die Unfähigkeit mancher Neueren, die, obschon im Zeitalter des Expressionismus lebend und von seinen Segnungen umspielt, ihr Gemüt noch gegen ihn verhärten; die sogar so weit gehen, Dichtungen zu bezweifeln, wenn sie nicht genau ermitteln können, ob diese Dichtungen wirklich deutsch sind oder am Ende chaldäisch.
Die Chaldäer waren nicht nur Beherrscher einer sehr schwierigen, dem Deutschen wenig ähnlichen Sprache, sondern auch bekanntlich Astrologen, Wahrsager, Geheimkünstler, Magier. Und auch von diesen Kennzeichen ist mancherlei auf die dichtenden Expressionisten unserer Tage übergeflossen; sie bestimmen besonders deren Stellung zur Natur. So dichtet der zuvorerwähnte vorzügliche Seher Th. Däubler:
Du Fluß, du mußt mein Spiegelbild umblauen,
An meinem Atem liegt es einem alten Baum.
Die Quellenlust mag mich aus Fischlein her beschauen,
Ich glaube an den Schwan wie an den besten Traum.
Durch unsre Nähe, Wachteln, wird das Reh geboren.
Sein Dasein kennt sich sanft im Wald den Bach entlang.
Des Windes Knistertritt am Saum geht nie verloren,
Mir wird im Reh um mich, um Specht und Blätter bang.
Hier steckt das Chaldäische in der Wortfolge, in der Anschauung und ganz besonders in den Wachteln. Bei uns in Europa, zumal in Deutschland, werden sonst diese muntern Vögel selten aufgefordert, an einem Lehrkursus der Zoologie teilzunehmen, um darin zu erfahren, daß die Menschennähe die Geburt eines jungen Rehes bewirkt oder befördert. Oken, Darwin und Häckel geben hierüber keine Auskunft, noch weniger darüber, daß sich der geburtshelfende Mensch sogleich im Reh um den Specht ängstigt, und am allerwenigsten darüber, warum dies die Wachteln wissen müssen. Anders in Chaldäa, dessen Sprachmystik so seltsam in die jüngstdeutsche Lyrik hineinstrahlt.
Aber auch jene Ganzgroßen, die Däubler, Stefan George, Wolfenstein blicken schon wieder auf ein Epigonengeschlecht, an dem man nicht vorübersehen darf; immer im Zuge des Leitmotivs, daß nicht in der heillos verwelschten Prosa, sondern im kastalischen Born der Poesie die helle Zukunft der deutschen Sprache beschlossen liegt:
Spielender Knabe – von Sophie van Leer.
Zehn Steinchen
sieben Eicheln
ein braunes Tier
mit silbernen Füßen
Runde Körnchen
die Berge
eine Wasserpfütze
das Meer
Grasbüschel
grüne Wälder
Ein Käfer
mit Flügeln wie der Himmel
und noch einer
Warum darf man Käfer nicht an einem Faden aufreihen?
Sie glänzen so schön zwischen Kastanien.
Aus ist's. Man könnte schwanken, ob man diese Dichtung schlechtweg dem Sezessionismus, oder dem Impressionismus, oder dem Futurismus beiordnen soll. Da es aber in der hervorragenden Zeitschrift »Der Sturm« erschien, so wird es wohl expressionistisch sein. Auf alle Fälle ist es lieb, herzig, unangekränkelt von Fremdländerei, Reim und Rhythmik, mithin durchaus geeignet, ein neues Modell für unsere Sprachgestaltung abzugeben.
Aber auch für die Erweiterung des Ausdrucks sind wir den Epigonen zu Dank verpflichtet. Der nämliche »Sturm« brachte aus der Werkstatt von Kurt Heynicke:
Händefassen.
— — — — — —
— — — — — — — —
Stelle dein Seelchen in die Vase mit hellgrünen Birken
zage will ich Wächter sein.
Schimmer und Schein ist alle Welt
rot und golden alle Stunden erhellt
Fern hergetragen in das Nun.
Weile vor mir.
Morgen verschlingt uns der jegliche Tag.
Heute nachtigallen noch alle Sterne.
Wind aus den Rosen will mit uns reden.
Duftreich erblühn wir uns in den Schoß.
Daraus kann der Prosaschreiber mancherlei lernen, vor allem, wie man zwanglos aus einem Hauptwort ein Verbum macht. Ich nachtigalle, du nachtigallst, er lercht, wir goldammern, ihr pirolt, sie baumpiepern. John Locke hat sich über die unzureichende Zahl helfender Wörter beklagt. Hier stehen sie zu Legionen in Aussicht. Denn wenn die Sterne nachtigallen können, so steht nichts im Wege, auch die Nachtigallen sternen zu lassen. Die Singvögel werden nicht nur flöten, sondern auch planeten, kometen, monden, venussen und siriussen. So duftreich können wir uns in den Schoß erblühen, wir und die andern Seelchen in der Vase mit Birken. Ob dieser Baum wohl in einer Vase Platz findet? Das kommt nicht in Betracht; Hauptsache ist: wir birken, ihr laubholzt, sie pappeln.
Und nun zu euch, ihr lieben Dadaisten, ihr allerletzte Blüte auf dem deutschen Parnaß. Nicht vergebens hat die deutsche Sprache gerungen, da sie diese äußerste, vorläufig unüberbietbare Herrlichkeit zu erreichen vermochte. Aber die Entwickelungslinie läßt sich verfolgen vom Expressionismus über den Primitivismus, Exhibitionismus, Äternismus, Kataklysmus, Paroxysmus bis zum Dadaismus. Dieser setzte 1907 noch ziemlich schüchtern mit einem Druckwerk Walter Heymanns ein:
Der Sprosser ruft:
Du – du – du –
Sieh mal, – sieh mal, sieh mal!
Da – da – da –
Sieh mal, sieh mal, sieh mal:
Grün, grün, grün,
Blühn, blühn, blühn,
Sieh mal, sieh mal, sieh mal
Dadada – dadada – da!
Seitdem hat sich diese Kunstform auf dem Umwege über eine Züricher Dichterschule weiter ausgebildet, sie drang bis in die Reichshauptstadt und hat hier die Prüfung zum höheren Literaturdienst mit Ehren bestanden. Zu ihrem Lobe kann ich feststellen, daß sie nicht welscht, sich von den Untugenden unserer arg verkünstelten Prosa abkehrt und mit kerngesunden Trieben in die Allmutter Natur einwurzelt. Unnötig erscheint es mir, die einzelnen Vertreter dieser allerneuesttönenden Dichtung zu nennen. Nur auf ihre Leistungen kommt es an, und diese sollen hier nicht verschwiegen werden; denn sie sind schon merklich über das zwar verheißungsvolle, aber doch noch stammelnde Da da da hinausgewachsen. Wir finden Dada da (wörtlich):
O burrubuh hibi;
Umbaliska bumm Dadai, ..
eine Versstelle, die höchstens noch von der folgenden an schmelzendem Wohllaut und Gefühlstiefe übertroffen wird; der Schluß eines dadaistischen Gedichtes lautet, ebenfalls wörtlich und buchstäblich:
Burrubu hibi
o burrubuh hihi
o hojohojolodomodoho
Es ist wirklich eine Freude, das erlebt zu haben, obschon es bis zu einem gewissen Grade vorausgeahnt werden konnte. Schon vor vielen Jahren erschien – übrigens mit meiner kräftigen Beihilfe – eine Reihe von parodistischen Büchern, betitelt: die Insel der Blödsinnigen, der Drehwurm im Überbrettl, der lackierte Affe, worin wir Kollegen vorwegzunehmen versuchten, was die dichtende Zukunft bringen würde. In einer dieser Vorahnungen gab eine talentvolle Mitarbeiterin die ahnende Probe:
Trinklied:
Daglonigleiaglühlala
Hahaha!
Daglonigloni
Noch eines Vroni!
Daglonigleia
Eia! Eia!
Daglonigluckgluckgluhlala
Trulala
Hohoho!
O!
– – – –
Ha! – – –
Ah? –
– ᴗ ᴗ ? – ᴗ
!!!!!!!!!!!!
– ? –
Das wurde in entlegener Zeit parodistisch vorgedichtet, als »die Moderne«, wie sich die Kunstschule nannte, ihre ersten Fühler ausstreckte, als in den literarischen Nachtkaffees männliche und weibliche Astralleiber auftauchten, die Goethe und Schiller für alten klassischen Quatsch erklärten und ihre eignen gesammelten Werke auf Zigarettenpapier und Hemdmanschetten aufschrieben. Immerhin waren es noch richtige Verse, die damals verfaßt wurden, und man durfte sogar Talent haben, um mitzudichten. Erst wesentlich später kamen unter Marinettis Führung die italienischen Futuristen auf, die in Mailand den berühmten Kunstabend veranstalteten mit den hartnäckigen Neutönen
glu glu glu
gru gru gru
und dafür von den Hörern gelyncht wurden. Folgerichtig entwickelte sich die Linie über alle Kriegsstürme hinweg, um auf germanischer Erde in einem Dadadada-Gestammel zu enden, das keiner Parodie mehr fähig ist.
Man könnte die Frage aufwerfen, ob es sich denn überhaupt verlohnt, lyrische Fexe zu erwähnen, deren Hervorbringungen doch ganz einflußlos bleiben und dem Publikum nur bekannt werden, wenn mitleidige Feuilletonisten ihnen einige halb verulkende, halb ermunternde Zeilen widmen. Ich möchte diese Frage bejahen, sehr kräftig bejahen. Ein Buch, das sich mit Sprachentwicklung und Sprachzukunft beschäftigt, darf an dieser Erscheinung gar nicht vorübergehen, denn sie hat bei aller Komik der Außenseite einen sehr ernsten Kern. Sie zeigt uns, wohin die Reise geht, wenn das Grundelement der Sprache, das Denken, ausgeschaltet wird, und sie hält sich damit in engster Übereinstimmung mit den letzten Ausläufern der Malerei: Solange da noch nach berechtigten Kernen, nach aussichtsreichen Möglichkeiten geforscht wird, besteht die Gefahr. Und man forscht tatsächlich, man läßt sich einweihen, man späht und spürt und entdeckt im lallenden Gestammel Ansätze der Meisterhaftigkeit, Evokationen, Ähnlichkeit mit Hölderlin, Möricke, manchmal mit Goethe. Diese vereinzelten Anerkennungen Intelligenter besagen: die Neulyrik fiebert zwar, redet irre, aber zwischendurch zeigt sie doch lichte Augenblicke. Aber das gehört zu den Kennzeichen aller Delirien, und solange im Gesichtskreis des Deliranten überhaupt noch Mäuse erscheinen, tobt das Gift in seinen Adern. Das wäre im Sinne der Allgemeinheit zu verschmerzen, wenn wir nicht wüßten, daß solches Gift im Kunstbereich über den Körper des Befallenen ansteckend hinausfrißt. Die Angesteckten beginnen zwar nicht immer aus eigenen Visionen zu dichten, aber ihr Urteil wird fiebrig. Sie sehen Flecken und Mäuse in der Lyrik früherer Tage, zumal in der klassischen und romantischen, in der alten Volkspoesie, die noch dichtete und dachte, die noch die Sprache in rauschenden Faltenwurf zu legen wußte und Begriffe wie Gefühle in konstruierbare Sätze zu spannen verstand. Eine Welt von Herrlichkeiten geht ihnen verloren, und einer Welt möglicher Zukunftswerte versperren sie die Tore, sie, die Intelligenten, deren Einfluß größer ist als der Einfluß jener in Echolalie dahintaumelnden Stammler.
Wir haben uns in vorangehenden Betrachtungen gegen die Annahme einer Sprachkrankheit gewehrt. Hier ist der Punkt, wo wir unseren Widersachern entgegenkommen müssen, freilich in anderem Sinn, als sie es meinen. Das deutsche Volk ist im Kerne sprachgesund, und es wird um so gesünder werden, je mehr Weltworte es sinnig verarbeitet. Denn in dieser Verarbeitung liegt das Maß der Denkerweiterung, Denkvertiefung, Denktauglichkeit, und Denken und Sprechen sind Eines. Die Gefahr droht aus einer anderen Ecke, aus dem lyrischen Winkel, in dem die Neutöner hausen. Scheinbar eng zusammengedrängt, auf Innenverkehr angewiesen, lassen sie einen Dunst ausströmen, der sich zu erkennbaren, krankheitbringenden Schwaden zu ballen beginnt. Der deutschen Prosa werden diese Dünste nicht viel anhaben, allein die Lyrik und besonders das Urteil über Versdichtung hat bereits einen Knacks weg. Es steht zu hoffen, daß sie sich davon erholen werden, denn die deutsche Dichtung hat den vorzüglichsten Arzt im Hause, eben die deutsche Prosa. Zudem besitzt sie eine gute Heilhaut und eine ursprünglich kräftige Natur. Dafür spricht die Tatsache, daß sie trotz jener -ismen noch lebt. Wie stark muß sie sein, daß sie das aushält!!