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Ein Roman mit Lokalfarbe.

Schon längst beabsichtigte mein Verleger, einen ganz echten Berliner Roman herauszugeben. Er hatte mir von diesem Vorhaben Mitteilung gemacht und mich gebeten, ihm zu einem solchen vermöge meiner Konnexionen mit den literarischen Spitzen der Hauptstadt zu verhelfen. Ich versprach ihm das und verfolgte diese Idee fortan wie meine eigene Angelegenheit.

Allein zur Verwirklichung des Vorhabens fehlte uns geraume Zeit eine sehr wesentliche Kleinigkeit, nämlich der geeignete Dichter. Fritz Mauthner, Paul Lindau, Heinz Tovote, Max Kretzer usw. befanden sich damals in festen Verlegerhänden und erklärten außerdem auf Befragen, daß sie die Lokalfarbe nicht gründlich herauszuarbeiten vermöchten, wenn ihnen nicht mindestens zweihundert Druckbogen zur Verfügung gestellt würden. Mit diesen privilegierten Vertretern des Berliner Romans war mithin nichts anzufangen. Zu unserem Glück präsentierte sich kürzlich auf dem Bureau ein Jüngling, der nachweislich längere Zeit als Zettelausträger für den Berliner Adreßkalender tätig gewesen war und in dieser Eigenschaft die umfassendsten Kenntnisse auf lokalem Gebiet erworben hatte. Wir erblickten in ihm sofort den richtigen Mann, abonnierten ihn zur Befruchtung seiner Erfindungsgabe in einer Leihbibliothek und hatten schon nach vierzehn Tagen das Vergnügen, ihn im höchsten Maße episch angeregt zu finden; nach einer weiteren Woche kristallisierten sich seine Einfälle um einen Kern unzweifelhaft Berliner Charakters, und nachdem wir ihm einige Gramm Berliner Blau in sein Tintenfaß geschüttet hatten, begann er, munter darauflos zu schreiben. Nunmehr sind wir in der Lage, sein Opus zu veröffentlichen und damit einem längst gefühlten Bedürfnis der Lesewelt entgegenzukommen:

Herr von Oedipus.

Berliner Sittengemälde.

Einem gepflasterten Aal vergleichbar schlängelt sich die Krausnickstraße, indem sie ihre Quelle an der Mitte der Oranienburger Straße verläßt, in anmutiger Biegung von West-Süd-West nach Ost-Nord-Ost, um an der Großen Hamburger Straße das Ende ihrer Häuser mit Nummer 23B zu erreichen. Vor diesem Hause hielt an einem heißen Sommertage – der Thermometer des Optikers Linse am Haackschen Markt zeigte zur nämlichen Zeit, zu der der Zeiger der Normaluhr auf dem Potsdamer Platz die Drei berührte, siebenundzwanzig Grad im Schatten – eine elegante Equipage, der man die Provenienz aus dem Kühlsteinschen Atelier und den Preis von zweitausendfünfhundert Mark auf dreihundert Schritt Entfernung, also beinahe von der Auguststraße aus, ansehen konnte. Diese Equipage gehörte dem Herrn von Lajus, einem Rittergutsbesitzer aus Preußisch-Theben, der mit seiner Gemahlin, einer geborenen Jokaste, vor etlichen Jahren nach der Residenz übergesiedelt war, wo er in Blumeshof ein von dem Möbelfabrikanten Markiewicz eingerichtetes, wahrhaft fürstliches Heim besaß.

In der vierten Beilage der Vossischen Zeitung vom fünften Juli, in der sechsten Zeile von unten, hatte Herr von Lajus die Ankündigung einer »Wahrsagerin wunderbar« gefunden, welche in dem geschilderten Hause, Berlin N., wohnen sollte. Und richtig, als er hier im zweiten Seitengebäude das dritte Stockwerk erreicht hatte, las er auf einem neben der Tür klebenden Papierzettel die orientierenden Worte: »Witwe Delphi, geborene Dreifuß, Kartenlegerin, bitte stark zu klingeln.«

Das, was der elegante Herr bei der vielwissenden Witwe während der nächsten Viertelstunde für zwei Mark fünfzig erfuhr, war nicht gerade erfreulich. Sie orakelte nämlich: »Hüten Sie sich gefälligst vor Ihrem Herrn Sohn; er wird Sie, Ihre Frau Gemahlin, und sich selbst in die schlimmsten Schwulitäten bringen, das heißt, sobald er das Abiturientenexamen am Friedrich-Werderschen Gymnasium gemacht hat.«

Die Equipage rasselte durch die Krausnick-, Oranienburger- und Friedrichstraße davon. Als Herr von Lajus an dem Hause Nr. 94 vorbeifuhr, hörte er die Töne eines daselbst in der zweiten Etage gespielten Klaviers. Denn der berühmte Theodor Kullack lebte damals noch und unterrichtete zur erwähnten Stunde gerade die oberste Damenklasse. Herr Lajus kannte das Stück, dessen Klänge durch die geöffneten Fenster über der Müllerschen Konditorei zu ihm herniederdrangen. Es war Schumanns »Vogel als Prophet«. Dabei fiel ihm der Storch ein, denn er besaß gar keinen Sohn, konnte aber noch einen bekommen.

Drei Monate später war es wirklich so weit. Das Lajussche Ehepaar entschloß sich zu einem Akt der Selbsthilfe, der, wie ungebräuchlich er auch im aristokratischen Westen der Hauptstadt sein mag, dennoch durch das grausame Orakel der Witwe Delphi eine gewisse Entschuldigung fand: das Kind wurde ausgesetzt und auf der Dammböschung des Kanals, nahe bei Schönberger Ufer Nr. 52, deponiert.

Dort fand es der Dienstmann Nr. 637, der es seiner Instruktion gemäß auf dem Polizeirevierbureau in der Lützowstrasse ablieferte. Die sofort durch den Herrn Kriminalkommissarius von Weien eingeleiteten Requisitionen verliefen resultatlos. Dagegen meldete sich ein gewisser Herr Polybus, gebürtig aus Korinth an der Oder, und seine Frau Merope, welche sich schon längst einen Erben ihrer mehrfachen, in pommerschen Dreiundeinhalbprozentigen angelegten Millionen gewünscht hatten, und nunmehr den Findling adoptieren wollten. Diesem Verlangen wurde Folge gegeben, nachdem sich Polybus durch Revers verpflichtet hatte, seinen Pseudosohn in der Puttkamerschen Orthographie und überhaupt so konservativ wie möglich zu erziehen. Der Knabe wurde unter dem Namen Max ins Standesregister eingetragen; in der Familie wurde er kurzweg Oedipus genannt.

Wir überspringen eine Reihe von Jahren, während deren sich die wichtigsten Veränderungen zutrugen. Die Spittelkirche war abgerissen, das Straßenbahnnetz durch die Linie Lützowplatz–Stadtbahnhof Börse erweitert, der grüne Graben teilweis zugeschüttet worden, und der Neubau der Potsdamer Brücke näherte sich rüstig seinem Ende in einem der kommenden Jahrhunderte. Der kleine Oedipus hatte mittlerweile nicht nur eine Länge von 1,65 Meter, sondern auch das Maturitätszeugnis erreicht.

Der Abiturientenkommers wurde bei Mosolf am Moritzplatz gefeiert. Oedipus trank bei dieser Gelegenheit zwölf Ganze und sieben Schnitte Patzenhofer und wettete im Rausch mit einigen Kommilitonen, er würde in der Nacht durch die Oranien-, Koch-, Linden-, Leipziger, Bellevue- und Tiergartenstraße bis zur Hofjäger-Allee mitten auf dem Fahrdamm rückwärts gehen.

»Du wirst überfahren werden,« bemerkte ihm der Konkneipant Agenor, der zwar wegen absolut ungenügender Leistungen im Lateinischen durchgefallen war, allein trotzdem den Abiturientenkommers mitmachte.

»Vor einem Oedipus biegen alle Wagen aus!« entgegnete der Jüngling, indem er den achten Schnitt erledigte. Damit ergriff er das Rappier, welches zum Silentiumschlagen gedient hatte, trank sich gegenüber bei Buggenhagen mit dem dreizehnten Ganzen frischen Mut und begab sich auf die nächtliche Wanderschaft.

Bis zur Tiergartenstraße Nr. 5 ging alles ganz gut. Allein hier kam ihm die Equipage des Herrn Lajus in die Quere, welcher gerade vom Fischessen beim Konsul Kreon in der Stülerstraße kam und zum Freitagsskat bei Eteoklessens in der Königgrätzerstraße wollte.

Ein kurzer Wortwechsel – eine unselige Tiefquart (Oedipus hatte nämlich beim Universitätsfechtlehrer Neumann fechten gelernt) – und der erste Teil des Orakels der Witwe Delphi war in Erfüllung gegangen.

Oedipus floh bis in die Gegend des neuen Viehhofes, wo er sich lange verborgen hielt. Die Polizei entfaltete eine fieberhafte Tätigkeit, um des Mörders habhaft zu werden. Diesmal leitete der Oberkriminalkommissarius von Hüllessem die Untersuchung, die indes abermals resultatlos verlief.

Wiederum waren einige Jahre verstrichen. Oedipus hatte sich unter falschem Namen bei der medizinischen Fakultät inskribieren lassen, bei Waldeyer und Dubois-Reymond gehört und alle Examina bestanden. Da wurde er eines Tages zu einer schönen Patientin nach Blumeshof berufen, die über Fußweh klagte. Zehn Ärzte hatten sie bereits vergeblich behandelt und einstimmig erklärt, daß hier ein wahres Sphinxrätsel vorläge. Doktor Oedipus untersuchte den Fall, verwarf alle Bäder und Einreibungen, verordnete vielmehr ein paar bequemere Schuhe aus der Werkstatt des Schusters Daffke in der Schützenstraße. Die Patientin genas sofort und reichte ihrem Retter zur Belohnung vor dem Standesbeamten in der Genthiner Straße ihre begehrenswerte Hand.

Durch Klatschereien zwischen den Dienstboten kam schließlich alles an den Tag. Die nun folgende Szene spottet jeder Beschreibung, besonders der des Verfassers. Genug, daß der amtliche Polizeibericht des nächsten Tages Ursache zu einer lakonischen Notiz hatte, in welcher Dr. Oedipus und Frau, geb. Jokaste, als erhängt, resp. schwer verwundet gemeldet wurden.

Vierundzwanzig Stunden lang war das Haus in Blumeshof von einer dichten Menschenmenge belagert, die durch berittene Schutzleute in respektvoller Entfernung gehalten wurde.

Die Witwe Delphi an der Ecke der Großen Hamburger Straße hatte also, alles in allem genommen, mit ihrem Orakel nicht so ganz Unrecht gehabt.


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