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Das mußte ihr der Neid lassen: sie war gut gewachsen und besaß eine gewisse Schmiegsamkeit des Körpers, die sich nach auswärts gemessen von den Zehen bis zu den Fingerspitzen erstreckte. Sie verstand auch lieblich und grundlos zu lächeln. Kurzum, ein Talent. Und schon damals, als sie den ersten Kursus unter Aufsicht einer gereiften Ballettmama erledigte, war es ersichtlich: die bleibt bestimmt nicht in der letzten Quadrille stecken, die schiebt sich in den Vordergrund, zu eigenen Taten, zu besonderen Leistungen.
Und so geschah es wirklich. Nicht, daß sie sich etwa in raschem Götterfluge die Fertigkeiten des klassischen Meistertanzes, die Künste einer Fanny Elßler und Marie Taglioni angeeignet hätte. Das war ihr zu mühselig und unbequem. Sie entsagte also diesen Ansprüchen, denen sie doch niemals genügt haben würde, schon aus dem einfachen Grunde, weil sie eigentlich nicht sonderlich musikalisch war. Nur ihre Muskeln, Knochen und Sehnenstränge nahmen Anteil am getanzten Rhythmus, während ihre feineren Nerven davon unberührt blieben.
Aber je weniger sie es im Ohr hatte, desto erheblicher hatte sie es im Gehirn. Sie las viel und wurde gebüldet. Und aus den Einzelheiten dieser Büldung erwuchs ihr ein Plan.
Hulda wollte die Tanzkunst »erlösen«. Nämlich aus den Fesseln des Tanzes. Dieses sinnlose Gespringe und Gehopse führe zu nichts. Ein Walzer, eine richtige Tanzpolonäse, eine Mazurka, ein Bolero, eine Sarabande, – wie fade! Millionenfach war das dagewesen. Tausende konnten es, da gab es nichts darzustellen, zu erläutern, körperlich zu symbolisieren.
Also zunächst einmal andere Musik her!
Einige Nokturnos und Balladen von Chopin standen am Anfang der neuen Übungen, Tongewebe für Ohr und Kunstverstand, die sich absolut nicht tanzen ließen. Eben deswegen wurden sie nunmehr getanzt. Und da die Beine hierfür nicht ausreichten, wurden die Arme zum Erläuterungsdienst mit herangezogen. Hulda zupfte auf einer unsichtbaren Harfe, fing mit einer nicht vorhandenen Angel rätselhafte Fische in der Luft, hißte unsichtbare Segel und kletterte an geisterhaften Stangen. Manchmal, wenn die Musik stürmte und gewitterte, warf sie sich auf den Boden, wenn Chopin beschwichtigte, sprang sie empor und wenn die Verlegenheit gar zu groß wurde, blieb sie stehen, machte Kunstpause und lächelte. Das war ihre holde Augendeutung zu dem Thema, daß sich ein mißverstandener und vergewaltigter Komponist im Grabe herumdrehte.
Nach einigen Monaten tanzte und lächelte sie sich in Beethoven hinein. Und als ihr dies mit mehreren Sonaten, wie sie meinte, geglückt war, reifte in ihr der Plan, zu den Symphonien überzugehen. Die Wahl konnte nicht zweifelhaft sein. Hulda hatte das Wehen der Heldenzeit verspürt, also entschied sie sich für die heroische Symphonie. Beethovens Eroica als Ballett, – das mußte ihr vom Publikum ohne Zweifel als Tat und Schlager angerechnet werden.
Nur ein Übelstand war dabei. Als sie eben dabei war, in stiller Probe den ersten Satz des heroischen Tonwerkes anzuhüpfen und anzulächeln, brachte man ihr eine unbequeme Zeitungsnotiz; aus dieser war zu ersehen, daß schon eine andere Mitstrebende auf denselben fabelhaften Gedanken verfallen war; denn die Notiz lautete wörtlich:
»Demnächst soll, wie wir erfahren, im Stadion Beethovens Eroica getanzt werden. Mehr als 1200 Personen sollen mitwirken. Die Tanzdichterin Rita Sacchetto an der Spitze der Künstlerschar, von denen ein großer Teil ihrer in Berlin ins Leben gerufenen Tanzhochschule entstammt... Die Anmut wird sich im Dienst unserer Feldgrauen bewegen. Ein Riesenorchester soll unter der Führung eines bekannten Dirigenten den überwältigenden Eindruck des Eroicatanzes zur Geltung bringen.«
Also die Erstgeburt der Idee war dahin! Und dann: gegen die überwältigende Mehrheit von 1200 Mitwirkenden konnte die Einheit der Hulda nicht aufkommen. So pocht das Schicksal der Konkurrenz an die Pforte. Mit dröhnenden Rhythmen verkündete es die Mahnung: Hulda, verzichte!
Sie gehorchte der starren Notwendigkeit und gab diesen heroischen Tanzplan auf. Desto eifriger begann sie auf anderen Fährten herumzuspüren. Mußte es denn überhaupt Musik sein? Hier setzte eine neue Erleuchtung ein: die letzte Schranke, die sich der Befreiung der Tanzkunst entgegenstellte, war zum Falle reif. Hinaus mit den Tanzbeinen aus den beengenden Fesseln der Töne in das Feld des reinen Gedankens!
Noch ist das Programm der begabten Dame nicht ganz fertig zur Darstellung; aber sie studiert es bereits in vielversprechenden Soloproben. Sie wird Fichtes Reden an die deutsche Nation tanzen, ferner Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, Nietzsches Lehre vom Übermenschen, Kants Abhandlung vom ewigen Frieden und schließlich – allerdings auf mehrere Tanzabende verteilt – Rankes Weltgeschichte.
Übrigens ist es nicht ausgeschlossen, daß sie später einmal auf Beethoven zurückgreift, nicht etwa aus Reue über das Einschlagen verkehrter Kunstwege; denn wer so folgerichtig tanzt wie sie, ist über derartige Anwandlungen erhaben. Aber das Publikum steckt doch voller unberechenbarer Launen, könnte sich bei Gelegenheit der Verwandtschaft zwischen Musik und Tanz erinnern und in den vorzeitlichen Geschmack zurückfallen. Sollte dies eintreten, dann wird Hulda lächelnd bei Beethoven da anknüpfen, wo sie ihn verlassen hat. Natürlich abermals reformatorisch: mit dem Taktstab in der Hand vor einem als Ballettkörper gedachten Riesenorchester, dessen Streicher und Bläser nach den Klängen der Eroica mittanzen müssen. Beethoven wollte bekanntlich diese Symphonie ursprünglich dem ersten Napoleon widmen und Hans von Bülow hat sie später zur Bismarck-Symphonie ernannt. Von diesen zwei Sprungbrettern aus will die neugestaltende Tänzerin die letzte Pirouette wagen, indem sie die Eroica ihrem eigenen Tanzgenie widmet.