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Alles Leben auf dieser schönen Erde und somit auch wir Menschen selber sind Kinder der Sonne. Die Sonne ist's, die Licht, Wärme spendet. Wie sie diese Gaben spendet, davon hängt ab das Leben, das von diesen Gaben lebt, hängt ab die äußere Erscheinung der Umwelt, in dem sich dieses Leben abspielt. Anders als in Deutschland scheint die Sonne in Island. Aus dem Unterschiede ergibt sich und erklärt sich die Verschiedenheit des menschlichen Lebens hier von dem dort, erklärt sich auch die ungeahnte Eigenart des isländischen Natur-Lebens. Dies recht zu verstehen, dies sich überhaupt richtig vorstellen zu können, bedarf es einer Darlegung, welch' eigenartige Lage die Polarkreiszonen haben, sofern man sich die Dinge einmal von einem Standpunkte aus betrachtet, der außerhalb der Erde zu denken wäre; außerhalb sogar der Erdbahn. Der Besitz eines Schulatlasses wird sich bei den meisten Lesern voraussetzen lassen; man schlage ihn dort auf, wo die Erde auf ihrer jährlichen Bahn um die Sonne abgebildet ist. Die figürliche Darstellung wird das Verständnis des Nachfolgenden erleichtern, wenngleich es auch ohne diese Abbildung ohne weiteres faßbar sein dürfte.
Die Achse, um die unsere Erde sich binnen vierundzwanzig Stunden einmal um sich selber dreht, steht schief auf der Bahn, die Mutter Erde im Laufe eines Jahres um die Sonne beschreibt. Ungeachtet dieser Umlaufsbewegung bleibt die Erdachse stets in der gleichen Lage: sie zeigt immer nach denselben Punkten des scheinbaren Himmelsgewölbes. Die Folge ist, daß die Erde manchmal ihre nördliche Hälfte der Sonne zukehrt, manchmal die südliche, und daß zwischendurch Zeiten kommen, wo sie sich – in diesem Sinne – sozusagen neutral verhält; jedes Kind weiß, daß diese Tatsachen Grund und Ursache der Jahreszeiten sind. Neigt die Erde ihre nördliche Hälfte der Sonne zu, dann bekommt diese Hälfte so viel Sonnenschein, daß sie sich stark erwärmt – und dies ist dann eben der Sommer. Die Neigung der Erdachse ist so stark, daß der Nordpol und die ihm benachbarten Gebiete zu dieser Zeit überhaupt nicht in den Erdschatten hineingeraten, daß sie also keine dunkle Nacht haben, die Sonne für sie nicht untergeht. Mitternachtssonne! Am 21. Juni, dem für die nördliche Halbkugel längsten Tage, erreicht diese Erscheinung ihren Höhepunkt. Die Zone um den Nordpol herum, wo die Mitternachtssonne zu sehen ist, hat ihre größte Ausdehnung, und ihre Südgrenze ist der Kreis um den Nordpol herum, den wir den nördlichen Polarkreis nennen und den jede Karte von Europa zeigt.
Der Winter bringt die Umkehrung dieses Verhältnisses. Die nördliche Halbkugel ist der Sonne abgewendet, erhält entsprechend weniger Wärme und hat als Jahreszeit eben den Winter. Nordpol und ihn umgebende Gebiete kommen aus dem Erdschatten überhaupt nicht heraus; die Sonne geht ihnen nicht auf, sie haben auch »bei Tage« Nacht. Diese Erscheinung erreicht ihren Höhepunkt am 21. Dezember. Für dieselben Gegenden, denen die Sonne am 21. Juni nicht unterging, geht sie am 21. Dezember nicht auf. Ihre Südgrenze ist ebenfalls der Polarkreis. (Orte, die unter dem Polarkreis liegen, sehen die Sonne an diesem Tage zu Mittag grade im Horizont: die Sonne geht ihnen zwar auf, aber sogleich wieder unter.
Die Mitte zwischen diesen beiden gegensätzlichen Tagen sind der 21. März und der 21. September. An diesen Tagen nimmt die Erde im Verhältnisse zur Sonne eine Stellung ein, die wir oben »neutral« nannten: sie kehrt weder ihre nördliche noch ihre südliche Halbkugel der Sonne zu. An diesen beiden Tagen sind sich Tag und Nacht für die ganze Erde gleich, auch für die Polargebiete. Die Wochen und Monate zwischen diesen vier Tagen sind Zeiten entsprechender Übergänge.
Island liegt am nördlichen Polarkreise. Es gehört (zum Teil) zu der Zone, wo die Sonne am längsten Tage nicht untergeht, am kürzesten nicht aufgeht. Es dürfte ohne Weiteres einzusehen sein, daß: sich Island am eindrucksvollsten in seiner Eigenart zu diesen Zeiten zeigt. Für den 21. Juni hat die Reisewelt dies ja auch längst begriffen. Zur Mitternachtssonne, überhaupt zur schönen Sommerszeit mit ihren kurzen Nächten strömt es zum Norden, – strömte es auch aus Deutschland, ehe das Verhängnis über uns kam. Zur Winterszeit aber wagt sich keiner hierher. Und doch sollte man grade dann nach Island reisen. Polarländer sind Winter-, kein Sommerland und geben sich von ihrer charakteristischen, also schönsten Seite erst, wenn die Fremden längst zum Süden entflohen sind.
Das Jahr am Polarkreis pendelt also zwischen diesen beiden Gegensätzen hin und her: 24 Stunden Tag, 0 Stunden Nacht im Sommer – und 0 Stunden Tag, 24 Stunden Nacht im Winter. Die Zwischenzeiten bringen die entsprechenden Übergänge: die Tage nehmen ab oder nehmen zu, ähnlich wie in Deutschland. Und dennoch so ganz anders! Um Polarkreise liegen die beiden äußersten Gegensätze nämlich viel weiter auseinander als in Deutschland; der Unterschied beträgt volle 24 Stunden, nicht nur 16 wie bei uns. Zunahme und Abnahme der Tage muß deshalb im Norden schneller vor sich gehen, als man es in Deutschland kennt. Das Rechenexempel ist einfach: in einem halben Jahre, also in – gut gerechnet – 183 Tagen sind 24X60 =1440 Minuten Tageslängenunterschied auszugleichen. Auf den einzelnen Tag macht dies rund acht Minuten aus. Der rechnungsmäßige Durchschnitt entspricht freilich nicht dem tatsächlichen Vorgange. Die Tage nehmen nicht in gleichmäßigem Schritt ab oder zu. Im Winterhalbjahr ist das Zeitmaß schneller als im Sommerhalbjahr. Die Gründe dieser Ungleichmäßigkeit darzulegen würde eine gelehrte Abhandlung erfordern, auf die hier verzichtet werden muß. Auch innerhalb des Winter- (wie des Sommer-) Halbjahres fehlt eine Gleichmäßigkeit in Ab- und Zunahme der Tage; aus denselben mathematischen, hier nicht zu erörternden Gründen. Zur Zeit der Äquinoktien und ebenso um Weihnachten herum ist die Änderung der Tageslänge kaum spürbar, wenigstens nicht von Tag zu Tag. Aber in den Zwischenzeiten, einerseits etwa Mitte Oktober bis Mitte November und andererseits Februar, geht die Veränderung so schnell vor sich, daß der Unterschied von einem Tage zum anderen fünfzehn Minuten und noch mehr betragen kann. Mit der Uhr in der Hand läßt sich dies von vierundzwanzig zu vierundzwanzig Stunden verfolgen; ebenso zugleich eine tägliche erhebliche Verschiebung der Orte des Sonnenauf- und -unterganges. In den genannten Wochen schrumpfen die Tage so schnell zusammen, nehmen sie so geschwind zu, daß es jeder merkt, mag ihn auch sonst Naturbeobachtung nicht kümmern. Da der Mensch letzten Endes ein Wesen pessimistischer Natur ist, wie Schopenhauer dargetan hat, so wird die schnelle Veränderung – rein gefühlsmäßig – dann am stärksten empfunden, wenn sie zum Unangenehmen, zum Freudlosen hinüberleitet: in der Zeit der abnehmenden Tage. Selbst für den, der die Dinge rein verstandesmäßig nimmt, begreift, betrachtet – selbst für ihn hat es etwas geradezu Beängstigendes, so wochenlang verfolgen zu können, wie von Sonnenuntergang zu Sonnenuntergang jedem Tage gegenüber dem vorhergegangenen ein fühlbares Stück fehlt, wie die Dauer der Helligkeit zusammenschrumpft. Es ist, als hacke jemand jeden Tag vom Tage ein Stück mit der Axt ab! Und man fragt sich auch als nüchtern denkender Mensch fast beklommen: Wohinaus soll dies? Soll dies wirklich so weitergehen, bis eines Tages die Sonne ganz fortbleibt – diese Sonne, ohne die wir doch nicht leben können, ohne die unsere Welt ein finsteres, kaltes Grab ist?! – – –
Und dieser Tag kommt! Der Tag, an dem die Sonne nicht mehr aufgeht! An dem sie – für die Polarkreisgebiete – grade noch bis an den Gesichtskreis herankommt, aber sogleich wieder untertaucht: Sonnenaufgang mit unmittelbar anschließendem Sonnenuntergang! Und dieser »kürzeste Tag« ist eigentlich eine ganze Reihe von kürzesten Tagen. Die Stellung der Sonne am Himmel ändert sich um den 2l. Dezember herum scheinbar so langsam (wiederum aus den oben erwähnten, hier nicht zu erörternden mathematischen Gründen), daß die Änderung vierzehn Tage zuvor wie vierzehn Tage hernach, im Ganzen also rund vier Wochen lang, durch bloßen Augenschein nicht feststellbar ist.
Der Leser schüttelt sich: vier Wochen lang sozusagen kein Tag! Da muß der Mensch doch schwermütig werden! Und dazu die bittere Kälte dieser Polarnächte!
Die böse Meinung ist zu berichtigen; der Verfasser muß zugeben, daß er an ihr nicht unschuldig ist: er hat dem Leser einige Umstände bisher arglistig verschwiegen, und die ändern das Bild erheblich, das der Leser sich im Geiste gemacht hat.
Der erste Umstand klingt außerordentlich gelehrt, wenn man ihn beim richtigen Namen nennt; er heißt: atmosphärische Strahlenbrechung. Was da so gelehrt aussieht, ist in Wahrheit eine sehr einfache, ohne weiteres zu begreifende Erscheinung. Unsere Erde ist rund und von einer Lufthülle umgeben; die Lufthülle ist also gleichfalls rund, etwa so wie die Schale um eine Apfelsinenfrucht. Lichtstrahlen, die durch diese »gekrümmte« Luft hindurchgehen, erleiden eine Änderung ihrer im übrigen gradlinigen Bewegungsrichtung und werden »abgelenkt«, genau so, wie dies durch jede Glaslinse geschieht. Am stärksten ist die Ablenkung dort, wo Strahlen nahe der Erdoberfläche hindurchgehen. Die Ablenkung besteht darin, daß der ursprünglich gradlinige Weg des Lichtstrahles ein wenig gekrümmt wird, wie ein Stück eines riesigen Kreisbogens, und diese Krümmung, besser gesagt: Wölbung kehrt ihre hohle Seite der Erde zu. Stehen wir auf einem hohen Berge und sehen zum Gesichtskreis hinüber, so gelangen von dort her Lichtstrahlen zu uns, die »eigentlich«, nämlich wenn sie gradlinig ohne Wölbung verliefen, unser Auge nicht treffen würden. Dies bedeutet: wir sehen am Horizont noch Gelände, Ortschaften, Berge, die »eigentlich«, d. h. mathematisch genommen, unter dem Horizonte liegen. Auf Grund dieser atmosphärischen Strahlenbrechung vermögen wir daher bis zu einem gewissen Grade regelrecht »um die Ecke« zu sehen, wenn auch nicht in einem Winkel, so doch in einem Bogen. Die Brechung ist so stark, daß Gegenstände, die in Wahrheit unter dem Gesichtskreise liegen, scheinbar um etwa ½ Bogengrad gehoben werden. Ein halber Bogengrad ist so viel, wie der scheinbare Durchmesser der Vollmondscheibe. Die Strahlenbrechung zeigt sich bei allen Lichtstrahlen, die vom Horizont herkommen, ganz gleich, ob sie irdischen oder außerirdischen Lichtquellen entstammen, also z. B. auch bei Mond und Sternen. Geht der Mond scheinbar unter, d. h. berührt der untere Rand seiner Scheibe den Horizont grade, dann ist er in Wahrheit schon vollständig untergegangen. Daß wir ihn gleichwohl noch sehen, verdanken wir der hier kurz erläuterten Strahlenbrechung. Mit der Sonne ist's nicht anders. Daher kommt es, daß sie, die am Polarkreis am kürzesten Tage mit dem Zentrum ihrer Scheibe theoretisch im Horizont stehen müßte, für den Augenschein doch noch über dem Horizonte steht. Die Südgrenze der Örtlichkeiten, denen sie am 21. Dezember wirklich nicht aufgeht, liegt geographisch nördlicher als der Polarkreis, und es gibt demnach in ganz Island nicht einen Ort, wo man die Sonne nicht auch am 21. Dezember sehen könnte, wenigstens zu Mittag und unter der selbstverständlichen Voraussetzung, daß der Himmel klar ist.
Der zweite bisher verschwiegene Umstand ist der, daß unsere Lufthülle uns, wie bekannt, den Tag durch die Dämmerung verlängert. Die Dauer der Dämmerung läßt sich nicht aufs i-Tüpfelchen genau bestimmen, denn sie hat kein scharf erkennbares Ende, sondern ist ein langsamer, allmählicher Übergang vom Hellen zum Dunkeln. Im allgemeinen ist durch Beobachtung aber doch festgestellt, daß die Sonne wenigstens 7½ Grad unter dem Horizont stehen muß, damit auch der letzte Schimmer einer Dämmerung geschwunden ist. Die erste Hälfte der Dämmerung ist die Zeit, da man nach Sonnenuntergang (bei hellem Wetter) noch im Freien lesen kann. Ihr Ende ist erreicht, sobald die Sonne rund 3½ Grad unter den Gesichtskreis gesunken ist. In tropischen Gegenden ist die Dämmerung sehr kurz, wie aus Reiseberichten erinnerlich sein wird. Der scheinbare Tagesbogen, den die Sonne am Himmel beschreibt, steht dort fast senkrecht auf dem Horizont. Die Sonne braucht dort kaum eine Viertelstunde, um 3½ Grad unter den Gesichtskreis zu sinken (entsprechend schnell steigt sie beim Aufgehen empor). In Deutschland liegt der scheinbare Tagesbogen schon erheblich schiefer zum Horizont, die Dämmerung ist dort entsprechend länger, wie jedes Kind weiß und auch zu erklären weiß. Für Island ist die Lage des Sonnentagesbogens noch viel schräger, und die Dämmerung ist deswegen hier fast noch ein Mal so lang wie für den deutschen Leser, nämlich eine gute Stunde – im Winter, und die Dauer wächst, je weiter man in den Sommer hineinkommt, wie es ja auch in Deutschland der Fall ist. Kurzum: atmosphärische Strahlenbrechung und lange Dämmerung kommen Island zugute; sie bewirken, daß Reykjavik auch am 21. Dezember noch immer drei Stunden Tag hat – vorausgesetzt, daß der Himmel nicht voller dicker Regen- oder Schneewolken hängt.
Geht man nicht von astronomisch-mathematischen Erwägungen, sondern vom Leben des Alltages aus, so läßt sich die erste Hälfte der Dämmerung der Tageslänge ohne weiteres hinzurechnen, denn während ihrer Dauer greift niemand zur künstlichen Beleuchtung, weder in Deutschland noch in Island, von diesem rein praktischen Gesichtspunkte aus ergibt sich, daß die Tage schon am 21. März und noch am 21. September in Island erheblich länger sind als im Vaterlande, und rechnet man – immer von diesem Standpunkte aus – zusammen, wieviel Stunden Tag und wieviel Stunden Nacht ein Kalenderjahr bringt, so ergibt sich der gewiß überraschende Schluß, daß das vermeintlich so tageslichtarme Island weniger Nachtzeit hat als Deutschland und noch weniger als die Tropen! Wie in diesem Punkte die irrige Vorstellung, die der Kontinent von Island hat, zu berichtigen ist, so wird sie noch in vielen anderen Punkten richtig zu stellen sein.
Es muß von diesen Dingen noch Weiteres gesprochen werden, mögen sie alltäglicher Betrachtungsweise auch nicht nahe liegen. Sie erklären vieles von Islands Eigenart. Die Lage des scheinbaren Tagesbogens der Sonne nannten wir bisher »schief« oder »schräg«; wir taten es, weil wir bei unserer Betrachtung von den Tropen ausgegangen waren, wo der Tagesbogen lotrecht oder annähernd lotrecht auf dem Gesichtskreise steht. In Island liegt er so schräg, daß seine Lage hier treffender als »flach« zu bezeichnen ist. Sie nähert sich schon stark der wagerechten und bildet mit dieser einen Winkel, der nicht einmal mehr 30 Grad groß ist, weniger als der dritte Teil eines rechten Winkels. Die Folge besteht nicht nur in der Länge der Dämmerung: die Sonne steigt überhaupt sehr, sehr langsam hoch und sinkt entsprechend langsam nieder. Zwei, drei Stunden müssen vergehen, bis das Auge bemerkt, daß sie höher gekommen oder tiefer gesunken ist. In Deutschland klettert sie morgens, zumal im Sommer, sehr schnell am Himmelszelte hinauf; in Island spürt man eigentlich nur die seitliche Verschiebung. Es ändert sich daher der Winkel, in dem die Sonnenstrahlen auf Erdoberfläche, Häuser, Mauern treffen, nur langsam, jedenfalls weit langsamer als in Deutschland. Als Folge ist eine überraschende Heizkraft zu verspüren. Mag auch Dünne und Reinheit der Luft dazu beitragen, indem weniger Wärmestrahlen verschluckt werden als in der dickeren, wasserdampf- und staubdurchsetzten Luft des Kontinents: das Hauptverdienst an der Heizkraft hat dennoch unverkennbar die Beständigkeit, mit der die Sonnenstrahlen hier ohne merkliche Änderung des Einfallswinkels einwirken können. Es macht den Eindruck, als vermöchten sie tiefer in Poren und Ritzen einzudringen, weil sie längere Zeit darüberstehen, als vermöchten sie sich dank ihrer langsameren Richtungsänderung tiefer einzubohren. Dies mag naiv, laienhaft ausgedrückt sein; diesen Eindruck macht es jedenfalls, und der Erfolg ist gleichfalls vorhanden: eine überraschend starke Erwärmung. Bäume, die nach Süden liegen, werden auch bei hartem Frostwetter im Mittwinter warm wie eine Backstube, ohne alle künstliche Heizung, so lange die Bestrahlung durch die Sonne anhält, und selbst im Freien spürt man die Kraft, tritt man aus dem kalten Schatten in den Sonnenschein. Im November, Februar und März – Monaten mit nicht gelindem Frost – war die Wärmeempfindung so deutlich und trat, trotz dicker Winterkleider, so blitzartig auf, daß man hätte meinen können, plötzlich in den Strahlungskegel eines elektrischen Reflektorofens oder eines Fön-Apparates geraten zu sein.
Noch ein anderes erklärt sich aus diesen selben Gründen: die viel gerühmte Farbenpracht der nordischen Sommernächte, und die einzigartige Winterbeleuchtung, die in diesem Buche wohl zum ersten Male geschildert wird.
Was den unerhörten Farbenreichtum der Sommerabende und -nächte im hohen Norden, insbesondere in Island anlangt, so mag festgestellt sein, daß vieles hier zusammenwirkt, ihn zu schaffen. Es ist zunächst die Landschaft selber, deren Farbigkeit überrascht. Sie ist wild in der Schroffheit ihrer Bergwelt, majestätisch in deren Höhe, erhaben in der Krönung dieser Bergriesen mit Gletschern, deren Größe und Ausdehnung in Europa ohnegleichen dasteht. Die Felsen, Schroffen und Hänge sind nackt und wechseln je nach Beleuchtung von einem warmen Rotgelb bis in ein düsteres, beängstigendes Lila. Die Gründe deckt saftiges Gras oder sattgrünes Moos, und an buntesten Sommerblumen ist kein Mangel. Mächtige Ströme beleben die Täler, an den Bergen tosen und schäumen Wasserfälle. Kein Baum, kein Strauch hemmt den Blick, das Auge schweift so weit, wie die Bergwelt gestattet. Und an der Küste braust der Ozean mit einer Brandung so unerhört, daß weit reisen muß, wer Ähnliches sehen will. Darüber ein kristallklarer Himmel, tief blau-schwarz, da er an Wasserdampf arm ist. Kein Wunder, daß eine solche Natur im Scheine der sinkenden Sonne ein erhabenes Bild bieten muß.
In der Schweiz und an den oberitalienischen Seen wird dem Reisenden ähnliche Schönheit offenbart; es läßt sich sogar sagen, daß die Pracht dort der isländischen nicht einmal nachsteht (sofern man überhaupt vergleichen will, obwohl Vergleiche – auch in diesem Sinne – immer hinken). Gleichwohl ist der Eindruck aufs menschliche Gemüt wie aufs menschliche Auge in Island stärker – viel stärker. Was liegt hier zu Grunde? Es zu sagen, dürfte nicht schwer sein. Aufs Gemüt wirkt neben allem Schönen des Bildes die erhabene Einsamkeit, die über dieser Welt lagert – dieser Welt, in der es keine Eisenbahnen, keine Kurorte, keine Fremdenhöfe gibt. Und aufs Auge? Unzweifelhaft die Ruhe, die Gemächlichkeit, Besinnlichkeit, mit der es die Herrlichkeit um sich her aufnehmen kann. Wie ist es denn in Mitteleuropa? Auch uns malt die untergehende Sonne märchenhafte Bilder. Aber ehe wir sie so recht erfaßt haben, das Schöne alles wirklich gesehen haben, ist der weihevolle Anblick verblaßt. Man erinnere sich des berühmten Alpenglühens: Minuten nur, und es ist vorüber! Wie anders in Island! Die Sonne schleicht im Sommer stundenlang am nördlichen Horizont entlang, ohne wesentlich zu steigen oder zu sinken, und so bleibt dem Ange Zeit, um sich satt zu trinken an der Pracht. Kein schnell zerrinnender Zauber ist's – nein, fester Besitz, wenigstens auf Stunden. Und dies macht, dies schafft die flache Lage des Tagesbogens der Sonne, über die wir so nüchtern-belehrend sprechen mußten, und die doch die große Zauberin ist, die dem Menschen hier ungeahnte Herrlichkeiten beschert – ihn nicht nur kosten, sondern ihn sich daran sättigen läßt!
So unsagbar schön diese in Sommernachtsfarben gebadete Welt ist, die das Auge trunken macht, – sie steht nicht ohne Beispiel da. Nicht seinesgleichen jedoch hat der Zauber der Mittwintersonne. Von ihm aber sprach noch keiner. Er glänzt nicht durch Farbenpracht. Das Land hat sich in eine Schneedecke gehüllt; sie ist nicht dick, denn der isländische Winter ist keineswegs ein harter Geselle, aber sie hat sich über alles gelegt, über Berge wie Täler, und neben dem Blau des Himmels und dem Grün der See ist ihr Weiß der einzige Ton im Bilde. Auch der Sonne Licht ist nicht gefärbt, trotz ihres tiefen Standes. Die Luft ist kalt und daher wasserdampfarm; staubrein ist sie sowieso. Also gehen die Sonnenstrahlen als völlig weißes Licht über die Erde hinweg. Trotz des Fehlens der Farben ist die Beleuchtung der Landschaft ganz außerordentlich eigenartig. So tief steht die Sonne, daß ihre Strahlen fast horizontal über das Land hinwegschießen. Was aufrecht steht, sich über den Erdboden erhebt, wirft lange, lange Schatten. Das Relief der Erdoberfläche tritt, im Großen wie im Kleinen, mit einer Klarheit hervor, die verblüfft. Jede Unebenheit des Bodens, jedes Steinchen, jeder flache Buckel verrät sich durch unendlich lange Schatten. Die Gegend nimmt eine Plastik an, von der sich der keine Vorstellung machen kann, der sie nicht mit eigenen Augen sah. Und nun erst die Beleuchtung der Bergwelt! Hier sind die Schatten sozusagen endlos, reichen fast hinüber in die Gegenden, denen die Sonne noch nicht aufging oder überhaupt nicht aufgeht. Dreißig, vierzig, fünfzig Kilometer weit kann man die Schatten der Bergspitzen an den Hängen anderer Berge wiederfinden! Geht die Sonne auf, so leuchten diese Bergspitzen hell auf als weiße Flecken in der Nacht, die noch über dem tieferen Gebirgsstock und den Tälern liegt, und dieses eigenartige Bild steht lange, lange vor unserem Auge, denn die Sonne braucht viel Zeit, ehe sie hochkommt. Nach und nach greifen ihre Strahlen tiefer, erreichen das Gebirgsmassiv, die Täler. Nun tritt jeder Grat, jede Felsnase scharf hervor, lange, fast horizontal liegende Schatten werfend. Bedächtig, fast ohne zu steigen, kommt die Sonne herum und tastet die Berge mit ihren Strahlen ab. Es ist, als leuchte ein Scheinwerfer von weit, weit her das Gipsmodell eines Gebirges ab, indem er langsam um es herumgeführt wird. Geheimnisvoll, fast unirdisch ist das Bild. Etwas Ähnliches in der Natur sah ich auf unserer Erde nie. Nur aus dem Monde kann man mit einem guten Fernrohr den gleichen Anblick wiederfinden, nämlich zu Zeiten des ersten und letzten Viertels an seiner Lichtgrenze. Wie dort aus der schwarzen Nacht die Gipfel der Berge aufblitzen, sobald der erste Strahl der ihnen aufgehenden Sonne sie trifft, wie sie dann nach und nach ganz aus der Nacht heraustreten, unendliche Schatten über die Mondebene hinwegfallen lassen, so sieht die Welt auch auf Island aus, wenn die Mittwintersonne tief vom Horizont her ihre Strahlen flach über sie hinwegschickt. Es ist wirklich ein Bild, das seinesgleichen nicht hat.
Ist in diesen Wochen der sonst reine, kristallklare, hellblaue Himmel doch von etlichen zerstreuten Wölkchen, von diesem und jenem Wolkenbausch belebt, so verzaubert uns die tiefstehende Mittwintersonne auch die Luft. Die Wolken und Wölkchen werfen gleichfalls lange, lange Schatten, die in der kaum merklich wasserdampfhaltigen untersten Luftschicht sichtbar werden und hinüberreichen bis zum nördlichen Horizonte, flach und dicht uns zu Häupten hinweggehen, sich mit dem Zuge der Wolken verschieben und infolge perspektivischer Verkürzung sich über uns scheinbar hinwegwälzen, als seien sie Speichen eines flach über uns liegenden Rades. Kommen die Wolken für unser Auge in die Nähe der blendenden Sonnenscheibe, dann leuchten sie auf – die größeren nur an den Rändern –, als reflektierten dort Millionen winzigkleiner Spiegelchen das Licht der Sonne. Und dies wird wohl auch in Wahrheit so sein. Die Winterwolken im hohen Norden, wenigstens die nicht ganz niedrigen, bestehen vermutlich nicht aus Wasserdampf, Nebel, sondern aus Eiskristallen, und jedes Kristall ist ja ein Prisma, hat also spiegelnde Flächen. Die Helligkeit in den leuchtenden Teilen der Wolken ist dann so groß, daß das Auge geradezu geblendet wird.
Gewiß, die Herrlichkeit eines Mittwintertages währt nicht allzu lange, weil die Tage eben nur nach Stunden zählen. Aber wenn die liebe Sonne auch nur kurze Zeit scheint, so benutzt sie diese kurze Zeitspanne doch, um den Menschen einen regelrechten Besuch abzustatten – nämlich denen, die auf solchen Besuch eingerichtet sind. Dies sind die klugen Leute, die Südzimmer bewohnen. Zu ihnen gehört der Verfasser, und er ist sogar ein ganz Kluger, denn er hat ein Turmzimmer inne, das nicht nur nach Süden, sondern auch nach Osten und Westen Fenster hat, sodaß ihm kein Strahl Sonne entgeht. Der Besuch der lieben Sonne besteht darin, daß sie einem ins Zimmer scheint. Aber wie! Da sie so tief steht, guckt sie einem auch ganz tief ins Zimmer herein, macht sich's da drinnen richtig intim, leuchtet jeden Winkel ab, bis zur Decke hinauf, – und ein solcher Raum ist dann wirklich von Sonnenlicht »durchflutet«, ist eine einzige Sonnenpracht. Wer's nicht erlebt hat, vermag nicht zu glauben, wie hübsch das ist!
Schließlich verschafft die tiefe Stellung der Wintersonne noch andere Augenweide. Die Witterung in Island ist, wie wir später noch genauer erfahren werden, sehr wechselnd; eigentlich herrscht das ganze Jahr hindurch Aprilwetter. So fehlt es auch nicht an Regenschauern, zumal im Oktober und November, trotz gleichzeitigen Frostes. Es sind aber nur Schauer, und die Wolken, aus denen sie kommen, sind regelrechte Vagabunden am Himmel, ohne allen »Anhang«, sodaß während dieses Regens sehr oft die Sonne scheint. Und dies gibt dann jedesmal einen Regenbogen! So viele Regenbogen, in so herrlichen Farben, so schön ausgeprägt, so ohne Tadel wie in Island bekommt man sonst vielleicht nirgends zu sehen.
Am nächtlichen Sternenhimmel macht sich gleichfalls bemerkbar, wie viel nördlicher sich der Beobachter hier befindet. Die Himmelsachse steht weniger schräg als in Deutschland, der Polarstern weit höher. Will man ihn sehen, muß man sich fast den Kopf verrenken. Manches Sternbild, das der deutsche Leser um Mitternacht noch tief im Süden sieht, mancher Stern dort unten, z. B. der allbekannte Sirius, gehen für Island nicht auf, sondern bleiben unter dem Gesichtskreise. Dies alles bemerkt freilich nur der Naturfreund, der gewohnt ist, die Welt um sich her mit offenen Augen zu betrachten. Ein Nachtgestirn jedoch wandelt hier scheinbar eine so andere Bahn, daß es auch dem Durchschnittsmenschen auffällt: unser getreuer Mond. Wenigstens zu Zeiten, da er »voll« ist. Vollmond haben wir, wie erinnerlich, dann, wenn der Mond für unseren Augenschein der Sonne gegenüber steht. Der Vollmond befindet sich (annähernd) immer an einem Orte der Himmelskugel, an dem die Sonne ein halbes Jahr zuvor scheinbar stand. Hierin hat es seinen Grund, daß der Vollmond im Sommer so trübselig tief am Horizonte entlangschleicht, im Winter so hoch über uns steht. Diese Bemerkung wird schon jeder gemacht haben. In Island ist dies nicht anders. Die Erscheinung sieht aber anders aus als in Deutschland; sie hat sich geändert in demselben Sinne, wie hier die scheinbare Sonnenbahn anders liegt. Der Mittsommervollmond steht dem Augenschein nach dort, wo die Sonne im Mittwinter zu suchen war, das heißt: er geht nicht auf, oder doch nur für ganz kurze Zeit. Umgekehrt entspricht der Mittwintervollmond der Mitternachtssonne und geht infolgedessen nicht unter! Ich hab's beobachtet: am 23. Dezember 1923. Da standen sich zu Mittag Sonne und Mond gegenüber, die Sonne im Süden kaum aufgehend, der Mond im Norden nicht untergehend. Der Anblick war nicht auffällig, gewiß nicht, und ein gedankenloser Mensch mag es gesehen haben, ohne es mit Bewußtsein zu sehen. Aber für den aufmerksamen Naturfreund war es doch eine merkwürdige Erscheinung – und ich denke, auch dem Leser wird es nicht unlieb gewesen sein, von diesen Dingen einmal zu hören, über die sich sonst alles Gedruckte ausschweigt, ohne Recht ausschweigt.
Es ist nach dem Gesagten leicht einzusehen, daß der Mond hier im Winter ganz anders dafür sorgt, die langen Nächte zu erhellen, als er es in Deutschland tut. Was die Sonne zu kurz scheint, das scheint der Mond, wenigstens um Vollmond herum, um so länger. Dabei besitzt er eine Leuchtkraft, wie man sie auf dem Kontinent nicht kennt. Sie wird noch erhöht durch die Weiße des blanken Schnees, in den sich die Welt hier im Winter kleidet. So eine Vollmondnacht im hohen Norden ist etwas bezaubernd Schönes. Der Himmel tief dunkelblau, die Landschaft in Weiß, übergossen vom grünlichen Mondlichte, in dem die Schneeberge bis auf hundert Kilometer zu uns herüberleuchten, die See schwarz-grün mit silberschäumenden Kämmen. Ziehen die erwähnten höheren leichten Wolken am Himmel und kommen sie der Mondscheibe scheinbar nahe, so färben ihre Ränder sich in Regenbogenfarben, prismatisch zerlegt von den Eiskristallen, aus dem dieses Federgewölk besteht. Und leuchtet gar noch ein Nordlicht am Himmel wie ein ungeheures lichtdurchpulstes Band oder wie ein riesenhaftes Feuerwerk, dann ist das Bild so unsagbar schön, so geheimnisvoll fesselnd, so unerhört eigenartig, daß dagegen die gerühmte Mitternachtssonne wohl zurückstehen muß.
Als Abschluß dieser Betrachtungen soll der Leser noch einmal gebeten sein, sich im Geiste in den Weltenraum zu versetzen, sich von dort her Sonne, Erde und Mond in ihren gegenseitigen Bewegungen zu betrachten und recht gut Acht zu geben, welche eigenartige Lage unter diesem Gesichtspunkte die Polarkreisgebiete einnehmen, und mit ihnen Island.
Sonne und Mond rufen durch ihre Anziehungskraft auf der Erde die Erscheinung von Ebbe und Flut hervor. Sie heben die flüssigen und daher verhältnismäßig leicht verschiebbaren Wasser der Ozeane empor zu Bergen, die die Flut bilden. Die Anziehungskraft von Sonne und Mond verzerrt also in einem leichten Grade die wässerige Kugeloberfläche der Erde zu einer Eiform. 5o stark ist diese Anziehungskraft, daß sogar die »feste« Erdrinde unter ihrer Einwirkung eine ähnliche Ebbe- und Flut-Bewegung vollführt. Die sogenannte »feste« Erdrinde »hebt« sich an den Orten, für die Sonne oder Mond durch den Zenith gehen, und die Straßburger Sternwarte hat festgestellt, daß diese Hebung den nicht kleinen Wert von fast einem halben Meter annehmen kann. Was liegt näher als die Schlußfolgerung, daß Ebbe und Flut auch im Luftozean eintreten? Die Luft ist ja noch viel leichter als Wasser, ihre Teilchen gegeneinander noch viel leichter verschiebbar als die Wasserteilchen. Nun, die Wissenschaft ist nach ihrem heutigen Stande kein Freund dieses Gedankens. In diesem Falle irrt aber sie. Untersucht man nämlich genauer, was eintreten würde und müßte, wenn der Luftozean ebenfalls Ebbe und Flut hätte, so gelangt man zu dem überraschenden Ergebnis, daß sich mit Hilfe dieses Ebbe-Flut-Systems jene Wetterstürze schlagend und überzeugend erklären lassen, die bei Mondwechsel zu gewissen Jahreszeiten und in gewissen Ländern erfahrungsgemäß immer eintreten. Diese Wissenschaft streitet zwar auch den Zusammenhang dieser Wetterstürze mit dem Monde ab, doch in diesem Punkte ist jeder Bauer, Förster, Landgeistliche, Kapitän, General – und jede Hausfrau, die Wäsche trocknen will, klassischer Zeuge gegen sie. Die Einzelheiten dieser Streitfragen gehen uns hier nichts an. Aber dennoch mag der Leser sich im Geiste einmal vorstellen, daß auch die Luft Flutberge gebildet hat, die mit ihren Gipfeln ständig nach Sonne und Mond hinhängen Anmerkung für Genauigkeitskrämer: die Nadir-Flutberge sind hier nicht vergessen, sondern absichtlich nicht erwähnt, um nicht zu verwirren.. Betrachtet er sich die Geschichte von seinem angenommenen fernen Standpunkte im Weltenraum, so wird er sehen, daß dann »oben« und »unten« auf der Erde Gebiete liegen, in denen ständige Luftebbe herrscht: oben und unten bezogen auf die Ebene der Erdbahn. Diese Gebiete liegen am Polarkreis, und die Polarkreisländer passieren sie alle vierundzwanzig Stunden infolge der Erdumdrehung. Wir erhalten, wenn wir dies für tatsächlich annehmen, eine wunderschöne Erklärung für das beispiellos wechselvolle Wetter Islands und für das Polarlicht wie für dessen geographische Verbreitung. Die Lufthülle um unsere Erde herum ist bekanntlich unser Schutz gegen die Weltenraumkälte, diese Kälte, die gleichbedeutend mit dem absoluten Nullpunkt ist, der unteren Temperaturgrenze, an der alles Leben, alle Bewegung erlischt, aufhört, dem starren Tode weicht. Die den Kälteschutz bildende Lufthülle würde also in den Gebieten ständiger Luftebbe niedriger, dünner, damit weniger wirksam sein, und es ließe sich wohl begreifen, daß Länder, die solch kälteschutzarmes Gebiet alle vierundzwanzig Stunden passieren, schwer unter schroffem Witterungswechsel zu leiden haben, sofern dieser nicht durch andere Einflüsse ausgeglichen wird, wie etwa durch schon an sich beständigen Frost, wie es in Grönland der Fall ist. Island ist ein Land mit mildem Klima, wie wir noch hören werden – seine Wetterstürze könnte man also sehr wohl den oben dargelegten Gründen zuschreiben.
Eine Bestätigung findet die hier vorgetragene Ansicht in Entdeckungen, mit denen der norwegische Gelehrte Vegard im Frühjahr 1924 an die Öffentlichkeit trat. Er wies nach, daß Stickstoff durch sehr niedrige Temperatur kristallisiert wird, dann einen guten Leiter für elektrischen Strom darstellt und, beschickt mit solchem Strom, Lichterscheinungen aufweist, die dem Nordlichte gleichen. Die Folgerungen, die Professor Vegard zog, sind zwar offenbar irrig. Läßt man aber die Grundlage seiner Entdeckung gelten, so würde sich, zusammengenommen mit obiger Ansicht, der Schluß ergeben, daß sich gerade über den Polarkreisgebieten eine ringförmige Zone kristallisierten Stickstoffes bilden müßte oder könnte, die dann der Ort der Polarlichterscheinungen wäre. Nun bestehen in der Tat auf der Erde zwei ringartige Zonen, in denen Polarlichter am häufigsten gesehen werden, und diese Zonen entsprechen im Großen und Ganzen den Polarkreisgürteln! Zwei an sich einander fremde Anschauungen vernunftgemäß zusammengebracht, ergeben also die schönste Erklärung für die »Zonen häufigster Sichtbarkeit des Polarlichtes«, worüber Näheres in jedem Lexikon zu finden. Es kann hier selbstverständlich nicht der Ort sein, Kritik an dies alles anzulegen. Da aber Island in der nördlichen dieser Zonen liegt, so mußten diese Dinge wohl erwähnt werden. Ergeben sie doch, daß Island eine der merkwürdigsten Gegenden der Erde ist, mag man die Dinge nun betrachten, von welchem Standpunkte aus man auch immer will.