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Sobald Anna die frische Nachtluft um ihre heißen, fieberhaft hämmernden Schläfen wehen fühlte, überkam sie das stählende Bewußtsein, einer furchtbaren Gefahr entronnen zu sein, und mit diesem der gleichsam krampfhafte Wille, sich von derselben nicht wieder einholen zu lassen.
In ihrer Hast, einen möglichst großen Zwischenraum zwischen sich und die entsetzliche Kellerwohnung zu legen, gelangte sie bald in breitere und saubrere Straßen, die noch theilweise von brennenden Gaslaternen erhellt waren. Mitternacht war vorüber; selten begegnete sie vereinzelten Fußgängern und kleinen Gesellschaften, und diese befanden sich nicht in der Stimmung, sich um eine einsame Wandrerin zu kümmern, die, ihr Halstüchelchen über den Kopf geknüpft, durch ihre Eile so große Besorgniß, vielleicht um einen Kranken verrieth. Selbst daß sie zuweilen argwöhnisch rückwärts spähte, als hätte sie befürchtet, verfolgt zu werden, bemerkte Niemand, indem sie bei Allen zu flüchtig vorüberschritt.
Zehn Minuten hatte sie mit unverminderter Schnelligkeit ihre Flucht fortgesetzt, und ohne eine bestimmte Richtung inne zu halten, war sie von der einen Straße immer in die nächste andere eingebogen, als sie, um Athem zu schöpfen, gezwungen war, ihre Eile zu mäßigen und endlich ganz stehen zu bleiben.
So weit ihre Blicke reichten, entdeckte sie kein Leben. Oede und vereinsamt dehnte sich die Straße nach beiden Richtungen hin aus; die Laternen brannten trübe und melancholisch, als wären auch sie am liebsten gleich eingeschlummert. Nur hin und wieder in dem einen oder dem anderen Stockwerk schimmerte gedämpftes Licht durch luftige Gardinen oder schwere Vorhänge hindurch, wie von gleichmäßig brennenden Nachtlampen ausgehend, welche Scenen der Ruhe und des Friedens glücklich und zufrieden rastender Häuslichkeit und schlummernder Familien beleuchteten.
Rathlos spähte Anna um sich; ihre Blicke streiften die matt erhellten Fenster, und Thränen drangen ihr in die Augen.
»Alle haben eine Heimath, ein Obdach,« seufzte sie schmerzlich, »nur ich bin hinausgestoßen, weiß nicht, wohin ich mein Haupt legen soll.«
Dem ersten ermuthigenden Gefühl, ihre Freiheit zurückerlangt zu haben, folgte die schreckliche Frage, wohin sie sich in ihrer Angst und Noth wenden könne. Den Mangel des Hutes und des Mantels hatte sie bisher kaum bemerkt; die schnelle Bewegung und die heftige Aufregung hatten sie sogar erhitzt; um so empfindlicher fiel ihr dafür jetzt die rauhe Luft der kalten Herbstnacht auf die fröstelnden Glieder. Sie schauerte in sich zusammen; um sich zu erwärmen, wollte sie ihre Wanderung fortsetzen. Doch »wohin?« fragte sie sich gleich darauf, und ihr Muth brach unter der Wucht des Bewußtseins gänzlicher Verlassenheit. –
»O, wenn der gute Braun und Frau Kathrin es wüßten,« sprach es in ihrem Herzen, während die trauten Gestalten der biederen Menschen vor ihrer Phantasie auftauchten. Sie dachte daran, sich aus dem ihr unbekannten Stadttheile herauszusuchen und bei ihnen um Aufnahme zu bitten, die ihr ja nicht versagt werden würde, allein zu den Gestalten ihrer Freunde gesellte sich dann schnell das Schreckbild ihres Vormundes, der, wie Beltram versichert hatte und wie sie leicht errieth, sie unbedingt nach Tagesanbruch daselbst aufsuchen und wieder mit sich fortnehmen würde. Sie wollte sich überreden, daß Beltram sie getäuscht habe, allein vergeblich; die Briefe, welche er ihr zeigte, und das Schreiben Brauns konnten nicht gefälscht sein, wenn sie dem hinterlistigen Secretair auch das Schlimmste zutraute.
Wie ihr in der Erinnerung das breite, sommersprossige Gesicht Beltrams häßlich erschien und wie seine Zudringlichkeit, seine zitternde heisere Stimme sie noch nachträglich mit Abscheu erfüllten! Wie ganz anders hatte sich Johannes dagegen in seinem Verkehr mit ihr gezeigt! Indem sie aber ihres treuen Jugendgenossen gedacht, leuchtete es in ihrem Geiste auf, daß er der Einzige sei, bei dem sie in ihrer bedrängten Lage nicht nur Rath, sondern auch eine Zufluchtsstätte finde, wenigstens auf so lange, bis sie sich wieder mit den Kärrnersleuten in Verbindung gesetzt haben würde.
Sie entsann sich zwar, daß Johannes ihr streng untersagt hatte, ihn zu besuchen, hinweisend auf die Unannehmlichkeiten, welche sie beim Eintritt in das von zahlreichen Familien bewohnte Haus bedrohten, allein heute billigte er gewiß ihren Entschluß, denn sie war ja in Noth, hülfsbedürftig und in einer Lage, in welcher sie sich, außer an ihn, an Niemand wenden konnte. Die Straße und Nummer seiner Wohnung kannte sie, sie wußte sogar, daß er bei dem Portier wohnte, an welchen sie ihre gelegentlichen Briefe adressirt hatte; es hielt sie also nichts ab, zu ihm zu gehen, von dem sie zunächst Schutz und Hülfe erwartete.
Mit der stillen Hoffnung, bald in bekanntere Stadttheile zu gelangen, wo es ihr erleichtert war, das bezeichnete Haus aufzufinden, verfolgte sie die eingeschlagene Richtung. Doch sie hatte sich getäuscht; durch mehrere Straßen wanderte sie und an jeder Ecke blieb sie stehen, um die Namen zu lesen; alle klangen ihr fremd, so daß sie endlich die Unmöglichkeit einsah, ohne fremden Rath ihr Ziel zu erreichen.
Mißtrauisch und klopfenden Herzens betrachtete sie jeden Einzelnen der ihr selten Begegnenden, und immer fehlte ihr der Muth, zu fragen, bis sie endlich auf einen in seinem Schafspelz fast verschwindenden und an dem Klirren eines Schlüsselbundes kenntlichen Nachtwächter stieß, der ihr auf ihre schüchterne Frage nicht nur den erwünschten Aufschluß ertheilte, sondern sie auch so weit begleitete, bis das gesuchte Haus in der Ferne vor ihr lag.
Einige Minuten später stieg sie die steinernen Stufen hinauf, welche zur Thüre eines großen, vierstöckigen, kasernenartigen Gebäudes führten. Begünstigt durch eine nahe Laterne las sie an dem Mauerpfeiler des Mannes Namen, welchen sie schon vielfach auf ihren Briefen niedergeschrieben hatte und dessen Träger mit der Eigenschaft eines Portiers auch die oft wenig angenehme Stellung eines Vicewirthes verband.
Lange und gleichsam ihre ganze Seelenstimmung in das Klingeln legend, zog sie an dem von einer kleinen eisernen Faust gehaltenen Porzellangriff; dann lauschte sie beklommenen Herzens.
Nach Verlauf von höchstens einer Minute öffnete sich in dem der Hausthür zunächst liegenden Fenster eine bewegliche Scheibe, ein mit weißer Nachtmütze bedecktes männliches Haupt wurde in der Oeffnung sichtbar, und zugleich fragte eine verdrießliche Baßstimme, wer noch so spät Einlaß begehre.
»Wohnt Herr Johannes Streber hier?« fragte Anna zagend, denn sie glaubte aus dem Tone der Stimme auf eine ihrem Anliegen ungünstige Antwort schließen zu müssen.
»Der Herr Johannes?« fragte die Baßstimme um vieles milder zurück, »ja, der wohnt in diesem Hause, und wach wird der arme Herr auch wohl noch sein; soll ich vielleicht etwas an ihn bestellen?«
»Nein, das nicht,« versetzte Anna schnell, »aber wenn Sie mir die Gelegenheit verschaffen wollten, ihn auf einige Minuten zu sprechen, würde ich Ihnen unendlich dankbar sein.«
»Sie sind wohl eine Verwandte von ihm?« forschte der Portier mit gutmüthiger Neugierde weiter.
»Eine Verwandte gerade nicht,« erwiderte Anna ermuthigt, »allein es ist fast ebenso gut, als ob ich seine leibliche Schwester wäre. Wir sind zusammen aufgewachsen.«
»So, so,« brummte die Baßstimme, »'s ist zwar sonst nicht mein Art, jedem weiblichen Wesen bei nachtschlafender Zeit Thür und Thor zu öffnen, allein wer zu Herrn Johannes will, dem kann man schon ein Uebriges zu Gefallen thun. Warten Sie eine Minute, will mir nur 'ne Kleinigkeit gegen Zugluft umhängen –«
Die Fensterscheibe schloß sich, doch unterschied Anna, daß der Portier seine angefangene Rede in der Stube fortsetzte, bis sie endlich eine Thür gehen hörte und gleich darauf ein Schlüssel im Schloß der Hausthüre klirrte.
»Bitte treten Sie näher,« knurrte die Baßstimme zwischen einer weißen Nachtmütze und einem abgetragenen Reisepelz hervor, während ein Laternchen, wie um sie in allen ihren Theilen genau zu beleuchten, sich langsam vor ihr auf und nieder bewegte.
»Also zu dem Herrn Johannes Streber wollen Sie?« fuhr der Baß fort, sobald die Hausthür wieder gehörig versichert war, »wissen Sie aber auch ganz genau, wo er wohnt, damit Sie nicht in die falsche Thüre fallen?«
»Nein, ich bin noch nie bei ihm gewesen,« versetzte Anna mit neu erwachender Besorgniß.
»So so, dann werden Sie Mühe haben, ihn zu finden.«
»Ich glaubte, er wohne bei Ihnen, weil ich meine Briefe stets an Sie adressiren mußte – aber ich denke, wenn Sie mir seine Wohnung genau beschreiben – ich sehe, es brennt auf den Treppen und Gänge noch Licht –«
»So! so! 'ne Wohnung meinen Sie?« murrte der Baß bedauernd, und zwischen Schlafmütze und Reisepelz drängte sich ein rundes, roth angelaufenes Gesicht hervor, dessen kleine blinzelnde Augen mit sichtbarer Theilnahme auf dem erwartungsvoll zu ihm aufschauenden lieben Antlitz ruhten; »so so, hm, 's ist wirklich seine Wohnung, denn er lebt da drinnen, aber kommen Sie, ich will Ihnen seine Wohnung zeigen, denn Sie möchten sie sonst, trotz allen Zurechtweisens verfehlen,« und Anna voranschreitend, begann der gefällige Vicewirth eine schmale Treppe zu ersteigen, welche in kurzen und regelmäßigen Windungen bis unter das Dach hinaufführte.
Dann nahm er seine unterbrochene Rede wieder auf, sich in dieselbe so sehr vertiefend, daß er die Antworten und Erklärungen seiner jugendlichen Begleiterin gar nicht abwartete.
»Ja, ja, das kann ich Ihnen sagen,« und die weiße Troddel auf seiner Zipfelmütze bekräftigte durch einige heftige Schwingungen seinen Ausspruch, »der Herr Johannes ist ein sehr feiner Herr; dabei sehr gelehrt, was man sonst bei feinen Leuten im Allgemeinen nicht findet, und dabei zuvorkommend und höflich gegen Jedermann, gleichviel, ob hoch oder niedrig, ob reich oder arm, ob Mann oder Weib oder Kind. Also zusammen aufgewachsen sind Sie mit ihm? So, so, er wird gewiß sehr überrascht sein, Sie zu sehen. Sie bringen ihm doch keine traurigen Nachrichten? Es sollte mir das sehr leid um ihn thun, denn er war heute Abend noch so heiter – das heißt, auf seine Art – als er mir mit meinen Rechnungen zu Stande half und nichts dafür nehmen wollte; kaum daß er ein Täßchen Thee mit uns trank. Ja, der liebe, freundliche Herr Johannes, wenn's in meiner Macht läge, sollte er ein besseres Leben führen – aber 's ist nun einmal so in der Welt! Manche Menschen scheinen nur geboren zu werden, um des Lebens Leiden und Trübsal kennen zu lernen – der arme, gute Herr Johannes!«
Sie waren oben auf der vierten Treppe, also auf dem Boden des Hauses angekommen, auf welchem sich zu beiden Seiten rohe Bretterverschläge hinzogen, die theils zum Aufbewahren der nicht im täglichen Gebrauch befindlichen Gegenstände, theils als Schlafstellen einzelner Personen dienten. Licht brannte dort nicht; dagegen bemerkte Anna, sobald sie die letzte Stufe der Treppe betrat, ganz auf dem Ende des dunklen Ganges, mithin gerade vor dem Giebel des Daches einen matten Lichtschein, welcher durch die Ritzen zwischen den wenig sorgfältig zusammengefügten Brettern einer Thüre und des Verschlages selbst in's Freie drang. Sie errieth, daß dort ihr Ziel liege.
War aber ihr Herz schon durch die flüchtigen Mittheilungen des menschenfreundlichen Portiers aufs Schmerzlichste bewegt worden, so durchzuckte ein bitteres Weh ihre Brust, als er auf den Giebelverschlag hinwies und denselben mit unverkennbarem Bedauern als die Wohnung des Herrn Johannes bezeichnete.
»Ich werde hier warten, bis Sie die Thür erreicht haben,« fügte er freundlich hinzu, als Anna sich mit einigen geflüsterten Worten des Dankes von ihm entfernte; »grüßen Sie nur den lieben Herrn von mir und bestellen Sie, daß, wenn ich ihm einen Dienst leisten kann, er jederzeit, gleichviel ob Tag oder Nacht, auf mich zählen möge.«
Gleich darauf stand Anna vor der dünnen, weitgefugten Thüre; ein Blick rückwärts überzeugte sie, daß der Portier sich entfernt hatte, denn der Gang lag dunkel und vereinsamt da; allein wie von einer unsichtbaren Macht gehalten, zögerte sie anzuklopfen. Eine breitere Spalte befand sich in gleicher Linie mit ihren Augen, sie brauchte daher nur ihr Haupt den Brettern zu nähern, um das Innere der sogenannten Wohnung ihres Jugendgespielen zum größten Theil zu übersehen.
Klopfenden Herzens gab sie dem unbestimmten Drange nach, und alsbald erblickte sie ihren geliebten Johannes, den treuen Genossen und Beschützer ihrer Kindheit, ihren späteren Lehrer und Rathgeber.
Die Turmuhren nah und fern verkündeten das Ende der Mitternachtsstunde. Anna vernahm es nicht. Ihr Auge ruhte dicht vor der Spalte, und in lautes Weinen hätte sie ausbrechen mögen, indem sie mit angehaltenem Athem und stockenden Pulsen den geliebten Freund beobachtete.
Da saß er auf einem Brettstuhl, den Oberkörper matt zurückgelehnt und das Haupt grübelnd auf die Brust geneigt, so daß er ihr sein schön geschnittenes Profil zukehrte. Die Arme hatte er über der Brust verschränkt, die großen, schwermüthigen Augen auf ein beschriebenes Heft gerichtet, welches vor ihm auf einem gebrechlichen Tische lag und in welchem er eben gearbeitet zu haben schien. Große und kleine Bücher, theils aufgeschlagen, theils unregelmäßig über einander geschichtet, nahmen den übrigen Raum des Tisches ein; das Ganze aber beleuchtete eine kleine Studirlampe mit grünem Blechschirm, die mit ihrem ruhigen, gleichsam feierlichen Lichte den Ausdruck einer schwärmerischen Ergebung auf dem stillen, sinnenden Antlitz noch erhöhte. Bleich war die hohe, denkende Stirne, bleich, todtenbleich das übrige Antlitz, so weit es nicht von dem blonden Barte beschattet wurde. Nur auf den leicht eingesunkenen Wangen lag eine seltsame Röthe, durch die in dem luftigen Raume herrschende Kälte, wie auf künstlichem Wege gefärbt und abgegrenzt. Einen seltsamen, einen unheimlichen Contrast bildete diese Röthe zu dem scharf hervortretenden Zug der Erschöpfung, welcher sich unterhalb der gesenkten Augen und um die Lippen gelagert hatte. Auch in seiner Haltung äußerte sich eine unverkennbare Uebermüdung, denn gebeugt war sein Rücken, trotzdem die Lehne des Stuhls ihm als Stütze diente, und nach vorn neigten sich seine Schultern, während eine wollene Decke den übrigen Körper, um ihn gegen die Kälte zu schützen, verbarg. Sein Haupt dagegen war unbedeckt, und obwohl nicht mit ängstlicher Sorgfalt geordnet, fiel sein Haar in schönen, blonden Locken über die weißen Schläfen und auf seinen Hals nieder.
Außer dem Tisch und dem Stuhl befanden sich nur noch ein dürftiges Bett, dessen Hauptbestandtheile Stroh und Seegras, ferner ein zweiter Stuhl und ein aus rohen Brettern zusammengefügtes, mit alten, viel gebrauchten Werken schwer belastetes Büchergestell in dem engen Raume. Derselbe erhielt am Tage sein spärliches Licht durch ein kleines Dachfenster, dessen meiste Scheiben gesprungen, einige sogar durch in die Rahmen eingeklebtes Papier nothdürftig ersetzt worden waren.
Doch Anna hatte nur Blicke für ihren geliebten Freund, nur Sinne für die tiefe Armuth, in welcher er lebte, für die unsäglichen Entbehrungen, welche er sich auferlegte, um seine Studien gewissenhaft zu beendigen und zugleich die Pflichten treuer Kindesliebe zu erfüllen.
»Das also ist die Wohnung, von welcher er meinte, daß es ihn beglücken würde, sie nach den Ferien wieder zu beziehen,« seufzte Anna leise, und ihr Herz hätte brechen mögen vor tief empfundenem Weh. »Mir aber untersagte er, ihn zu besuchen, damit ich nicht Zeuge seiner traurigen Lage würde.«
Ihre Augen füllten sich mit Thränen; vergessen war ihre eigene Lage, vergessen das Mißgeschick, welches sie seit einigen Tagen so hartnäckig verfolgte, vergessen die Erschöpfung, welche die ununterbrochene Aufregung der letzten Stunden und der Mangel an Nahrung herbeigeführt hatten. Sie sah nur noch den armen, leidenden Freund, und wie um zu ihm zu eilen, ihn aufzurichten und zu trösten, hob sie die Hand empor, sich durch leises Klopfen anzumelden.
Da bewegten sich seine blassen Lippen, als hätten sie das noch einmal wiederholen wollen, was den Geist beim Blättern in den alten Büchern eben noch beschäftigte, und was die zarte, fast durchsichtige Hand niedergeschrieben hatte.
Anna zögerte; gewohnt, zu Johannes, wie zu einem ihr weit Ueberlegenen emporzuschauen, erschien es ihr als eine Entweihung, ihn in seinen ernsten Betrachtungen und Gedanken zu stören.
Die Thür mit den klaffenden Rissen und Spalten war so dünn, daß sie glaubte, seine Athemzüge unterscheiden zu könne, während er, dessen Geist weit über die Grenzen seines Verschlages hinausschweifte, weder das Geräusch auf der Treppe, noch der leicht einher schwebenden Jugendfreundin Schritte vernommen hatte.
»Wer ist es, der, starr haftend am kalten Buchstaben der Schrift, wagen möchte, an den heiligen Gesetzen der Natur zu rütteln?« drang es vernehmlich auf den Gang hinaus; »wer vermöchte der Erde Stillstand zu gebieten und die Sonne in Bewegung zu setzen, um ein sagenhaftes Wort zu erfüllen? Demjenigen, der mit empfänglichem Herzen das unverfälschte Wort Gottes zu vernehmen trachtet, dem offenbart es sich verständlich und eindringlich in der Natur. Oder sollte der ewige Kreislauf der Gestirne, die unermüdlich umkreisende Lebenskraft, die sich in der hundertjährigen Eiche wie in dem nur wenige Wochen grünenden Halme kund giebt, nicht wahrer und begreiflicher zu den Sterblichen sprechen, als die nach menschlicher Bequemlichkeit und mit versteckten finsteren Absichten verschiedenartig gemodelten und ausgelegten Lehren? O, ich fürchte, ich werde meinen Beruf nicht so ausfüllen, wie es im Allgemeinen gewünscht und verlangt werden mag! Auf welche andere Lehre, als auf die Gesetze der Natur, könnte man es zurückführen, daß das Kind, indem der Keim zu seinem Leben gelegt wurde, auch den Keim eines unabweislichen, langsamen, qualvollen Todes als Mitgabe erhielt? Hat es etwa, bevor es zu denken vermag, bereits eine solche Strafe verdient, oder sind es die unergründlichen Gesetze der Natur, welche einfach ihr Recht fordern und den kleinsten Fehler in der Organisation zu einem unheilbaren Uebel anwachsen lassen? Und muß denn durchaus ein solch unerbittlichem Tode verfallenes Leben erst zum Bewußtsein seines Elends gelangen? Kann es nicht schmerzlos hinüberschlummern in den Schooß des allliebenden Vaters, bevor es die ihm zuerkannte Strafe für nie begangene Vergehen und Fehler in ihrem ganzen, entsetzlichen Umfange erduldete? Wo bliebe die Gerechtigkeit der Vorsehung, wäre man nicht im Stande, den Grund für das Unvermeidliche in den vielleicht durch Zufall herbeigeführten Störungen der Thätigkeit der noch in der Ausbildung begriffenen zarten Organe zu suchen? Und dann das Herz! Was sind die Qualen eines langsam dahinsiechenden Körpers gegen die streng gebotene Entsagung desjenigen, der wohl ein getreues Bild irdischer Glückseligkeit erhält, sogar einen klaren Blick in seinen geträumten Himmel werfen darf, dem aber das eigene Gewissen vor den Pforten desselben ein gebieterisches Halt zudonnert? Wo steht die Rechtfertigung dafür, daß ein armer Sterblicher alle Grade einer unverdienten, schweren Züchtigung abzubüßen gezwungen ist, bevor sein zuckendes zertretenes Herz endlich zur lange und heißersehnten Ruhe gelangt? Wer will es rechtfertigen, als ein göttlich weises Straferkenntniß? Wer kann es anders entschuldigen, als daß er ein nicht ganz genaues Ineinandergreifen der nach bestimmten Gesetzen geordneten, jedoch mit einem gewissen Grade von Freiheit und Selbstständigkeit ausgerüsteten Räderchen in der gewaltigen Maschine bedauert? Nicht die Ungerechtigkeit kommt von oben, sondern der Trost für unverschuldetes Elend, ein treuer, ein nie versagender Trost, wenn es auch wohl Wege gäbe –«
Allmälig lauter und überzeugender seinen Gedanken Worte verleihend, hatte er das Haupt erhoben; wie vor einer andächtig lauschenden Versammlung, in deren gespannter Aufmerksamkeit der Redner einen großen Theil der Begeisterung findet, welche es ihm erleichtert, sich in gewählten Formen und Bildern verständlich auszudrücken, so leuchteten auch seine Augen enthusiastisch im scharfen Gegensatz zu dem leidenden, ergebungsvollen Zug auf seinem gleichsam verklärten Antlitz.
Anna wagte kaum zu athmen. Seit sie ihren geliebten Johannes vor sich sah, war ein Gefühl unendlicher Sicherheit in ihre Brust eingezogen, und lange noch hätte sie den Worten lauschen mögen, die ihr so geheimnißvoll und dennoch so aufrichtig und wahr klangen, als wären sie eine liebliche, zum Herzen dringende Melodie gewesen, welche ganz zu deuten ihre Erfahrungen nicht ausreichten.
Johannes hatte sich aufgerichtet und eine Feder ergriffen, wie um der vor ihm liegenden Arbeit noch einige Zeilen hinzuzufügen. Plötzlich aber schien er seine Absicht zu ändern, denn die Feder niederlegend, nahm er seine alte grübelnde Stellung wieder ein.
»Gottes Segen über Dich, Du Geliebte,« sprach er nach kurzem Sinnen leiser und innig, als hätte die holde Freundin vor ihm auf den Knieen gelegen, seine Hand auf dem theueren Haupte geruht; »Gottes Segen über Dich, Du liebes, treues Kind; wohin und in welche Kreise Du auch immer verschlagen wirst, mögest Du mir Deine schwesterliche Liebe bewahren, meiner stets . . .« er stockte; ein mildes Lächeln schwebte auf den edlen Zügen, und dann fügte er, die Hände faltend, mit wunderbarem Ausdruck hinzu: »Mögest Du meiner als eines treuen, opferwilligen Bruders gedenken.«
Es klopfte leise an die Thüre; Johannes horchte hoch auf. Fast gleichzeitig mit dem Klopfen war aber auch die Thür geöffnet worden, und seinen erstaunten Blicken zeigte sich die Jugendgespielin, mit der er sich eben noch im Geiste so angelegentlich beschäftigte, und die jetzt mit ausgebreiteten Armen auf ihn zueilte.
»Johannes! Lieber, lieber Johannes, da bin ich ja, ich, Deine treue Schwester!« rief sie aus, indem sie den Hals des Freundes umschlang, bevor derselbe sich zu erheben vermochte. Dann ihr Antlitz auf seiner Schulter verbergend, weinte sie so bitterlich, als ob ihr Herz nun wirklich gebrochen wäre.
Bis jetzt hatte Johannes seinem Erstaunen keinen Ausdruck zu geben vermocht. Zu tief erschütterte ihn Anna's Anblick, deren ganzes Auftreten so beängstigend von ihrem gewöhnlichen Wesen abwich. Und dann die späte Nachtstunde und der Mangel einer wärmenden Umhüllung, o, wie ihn dies Alles mit Besorgniß erfüllte und wie er wünschte, daß sich das Geheimniß, welches sie umgab und sie zu ihm getrieben hatte, in einer weniger bedrohlichen Weise aufklären möchte, als der zuerst empfangene Eindruck befürchten ließ!
Sobald aber Anna's krampfhaftes Schluchzen in stilles Weinen übergegangen war und er hoffen durfte, sie seinen Ermuthigungen zugänglicher zu finden, erhob er sich, und mit der rechten Hand das noch immer auf seiner Schulter ruhende theuere Haupt sanft emporrichtend, fragte er zugleich theilnehmend und tröstend:
»So hast Du mich dennoch aufgesucht, Du armes Kind? Ich wage kaum zu fragen, was Dich hierher geführt.«
»Doch, doch, Johannes, frage mich,« versetzte Anna schnell, indem sie nach Fassung rang, »ich komme zu Dir, weil ich Deines Schutzes bedarf, weil die Menschen mich verfolgen, mich aus meinem stillen Asyl vertrieben haben – aber Johannes, ich bin bis auf den Tod erschöpft und ermüdet, mir ist, als wollten meine letzten Kräfte mich verlassen!«
»Komm, armes Kind,« entgegnete Johannes liebreich, indem er Anna zu seiner Lagerstätte hinführte, »komm, setze Dich nieder, so – und nun sage mir, ob ich das Geringste zu Deiner Erquickung und zu Deinem Troste thun kann – hier aber sieht es freilich nicht aus, als ob ich viel bieten könnte,« fügte er entschuldigend hinzu, sobald er gewahrte, daß daß Anna's Blicke traurig durch den Verschlag wanderten, »allein für meine geringen Bedürfnisse ist Alles mehr, als ausreichend; für unvorhergesehene Fälle dagegen besitze ich in der Familie des Hauswarts sehr gefällige und treue Freunde.«
»Er selbst führte mich hierher,« versetzte Anna, unter dem Eindruck des abermaligen Wechsels ihrer Lage wie im Traume, »er war freundlich genug, mich herauf zu begleiten.«
»Es sind gute, gefällige Leute,« bekräftigte Johannes, sichtbar bemüht, durch Hinlenken des Gesprächs auf andere Gegenstände, Anna's Gemüth zu beruhigen, »wenn ich daher wüßte, womit ich Dir dienen könnte – Du bist erhitzt und so heftig erregt – erlaube mir, daß ich diese Decke um Dich schlage – dann will ich den Leuten unten –«
»Nein, störe sie nicht,« fiel Anna ihm bittend in's Wort, »was ich am meisten bedarf, kann ich nicht haben – ich meine einige Stunden Ruhe – bevor ich Dir nicht Alles mittheilte, was mir die Sinne zu verwirren droht. Aber wie wohnst Du traurig und elend, und Deine Augen sind angegriffen und entzündet von der nächtlichen Arbeit! O, Johannes, das darf nicht so fortgehen, es muß anders werden, oder Du gehst zu Grunde und Deine Mutter verliert ihren Ernährer und ich meinen treusten Freund, zu dem ich mit dem hingebensten Vertrauen emporschaue.«
»Wir Männer sind zähe Naturen, wir gehen nicht so leicht unter,« bemerkte Johannes mit einem Lächeln, in welchem nur ein scharfer Beobachter Selbstverspottung entdeckt hätte; »ich wohne hier so recht ruhig und ungestört; doch weßhalb von mir sprechen, dessen tägliche Ordnung keine Unterbrechung erlitten hat? Erzähle mir lieber von Dir selbst, meine arme geängstigte Taube. Gewiß ist Dir in Deiner leicht erregbaren Phantasie Manches drohender erschienen, als es in der That war.«
Anna sah befremdet auf ihren Gefährten, der gerade dadurch, daß er in heiterem Tone zu sprechen suchte, einen höheren Grad von Besorgniß verrieth.
»Ja, von mir muß ich Dir erzählen,« erwiderte sie, und sie schauderte bei der Erinnerung an ihre jüngsten Erlebnisse, »aber ich werde verfolgt, lieber Johannes, man spürt mir nach, kann ich mich kurze Zeit hier verbergen?«
Bei diesen mit unverkennbarer Angst ausgesprochenen Worten erschrak Johannes heftig. Tiefer und länger senkte er die Blicke in die schönen, vertrauensvollen Augen, als hätte er das Vernommene nicht zu glauben gewagt.
»Du wirst verfolgt, Du willst Dich verbergen?« gab er endlich seinem namenlosen Erstaunen Ausdruck.
»Nur auf kurze Zeit gewähre mir eine sichere Zuflucht,« bat Anna dringender, »denn Du ahnst das Entsetzliche nicht, dem ich entronnen bin; zu Dir aber bin ich Hülfe flehend gekommen, weil Du meinem Herzen am nächsten stehst. Weise mich daher nicht zurück, sage mir, daß mein Versteck nicht verrathen wird; sage mir, daß Du mich der Gewalt meiner Verfolger entziehst, oder Unruhe und Angst machen mich unfähig, Dir das anzuvertrauen, was mich noch immer in Verzweiflung zu stürzen droht!«
»Ich Dir meinen Schutz versagen? Ich Dich von mir weisen?« fragte Johannes, tief aufseufzend, und ein herber Schmerz schien seine Brust zu zerreißen; dann setzte er sich neben Anna, die noch immer vor Kälte und Furcht bebte, und deren Hand mit seinen beiden Händen fest umschließend, sprach er in ernstem überzeugendem Tone: »Welche Gefahren es auch sein mögen, auf die sich Deine Andeutungen beziehen, mich treffen sie an Deiner Seite. Beruhige daher vor allen Dingen Dein Gemüth; gieb Dich nicht widerstandslos Deinen Befürchtungen hin und laß uns, wie wir schon so vielfach seit unserer frühesten Kindheit gethan haben, mit treuer Hingebung erwägen und berathen. Bei den treuherzigen Kärrnersleuten wohnst Du also nicht mehr?«
»Seit mehreren Tagen nicht mehr; ich wurde mit List von ihnen fortgelockt,« antwortete Anna, nicht bemerkend, daß bei dieser Mittheilung ihres Freundes Wangen plötzlich erbleichten, um gleich darauf ebenso schnell ihre unheimliche Röthe zurückzugewinnen. Dann aber fuhr sie fort, ausführlich zu erzählen und zu schildern, was ihr seit jenem Abend begegnet war, bis sie endlich da abschloß, wo sie vor seiner Thüre stand und ihn heimlich belauschte, ihm, zum Beweise der Wahrheit ihrer Enthüllungen, die beiden Briefe einhändigend.
Johannes las die Briefe nicht gleich; sie konnten ja nur bestätigen, was Anna ihm bereits anvertraut hatte; aber indem er ernst vor sich niederschaute, kostete es ihn Mühe, das in seinem Geiste zu ordnen, was förmlich überwältigend auf ihn einstürmte.
»Wunderbare Fügung des Geschickes,« hob er endlich leise an, »daß Du arme, heimathlose Waise gerade in das Haus desjenigen einziehen mußtest, dessen Bruder durch eine geheimnißvolle Verkettung von Umständen in so naher Beziehung zu Deinen verstorbenen Eltern stand. Und wiederum, welch' wunderbare Fügung, daß diejenigen, welche Dich zu umgarnen gedachten, sich gegenseitig verriethen und unschädlich zu machen suchten. Denn er, der Dich offen vor den Dir gelegten Fallstricken warnte – ich meine Beltram, – kann es kaum besser mit Dir im Sinne gehabt haben, als Jener, der wider Dein Wissen und Wünschen die Vormundschaft über Dich an sich riß.«
»O, es war eine entsetzliche Höhle, in welche er mich schleppte; ich hätte es nie über mich gewonnen, sie zu betreten, wäre ich nicht von der Hoffnung beseelt gewesen, dadurch eine Zusammenkunft mit den Brauns zu erleichtern.«
»Du glaubst, daß er sich wirklich zu Deinen Freunden begeben hat?«
»Sein Eingreifen in Alvens' hinterlistige Pläne, wodurch er doch seine ganze Existenz gefährdete, spricht wenigstens dafür.«
»Magst Du Dich nicht täuschen, meine gute Anna, ich dagegen bezweifle, daß seinen Angaben zu trauen ist; ich glaube, er spielte ein gewagtes Spiel.«
»Bin ich denn gezwungen, mich in die Vormundschaft Alvens' zu fügen?« fragte Anna mit ängstlicher Spannung.
»Welche rechtliche Befugniß er fernerhin haben wird, sich an den Beschlüssen über Deine Zukunft zu betheiligen, ist eine Frage, die in der nächsten Zeit zur Entscheidung gebracht werden soll und muß,« entgegnete Johannes traurig; »jedenfalls wärest Du am sichersten auf der anderen Seite des Oceans im Hause Deines Beschützers, des treuen Freundes Deiner verstorbenen Eltern, aufgehoben, bis wohin die Nachstellungen selbstsüchtiger und gewissenloser Menschen Dir nicht folgen.«
»Ich sollte nach Amerika auswandern?« fragte Anna erschreckt.
»Auswandern oder vielmehr übersiedeln,« versetzte Johannes mit einem schwermüthigen Lächeln.
»Beltram deutete bereits dergleichen an, allein ich legte seinen Worten keinen Werth bei. Nun aber meinst auch Du ernstlich, daß ich mich von den Brauns und von Dir trennen soll, ohne die Bürgschaft zu haben, Euch in meinem Leben wiederzusehen?«
Die Todesrosen auf des jungen Mannes Wangen blühten vorübergehend üppiger und voller, während sein Athem sich verkürzte, als hätte sein treues, warmes Herz die Kraft nicht besessen, sich vor den dasselbe bewegenden Empfindungen auszudehnen und sie zu beherbergen.
»Was bedeutet die Hoffnung auf irdisches Wiedersehen, und worauf begründet sie sich?« sprach er leise, und seine Hände zitterten, indem sie sich inniger um Anna's sammetweiche Hand schlossen, »wir stehen Alle in Gottes Schutz, und es brauchen nicht immer Hunderte von Meilen zu sein, welche sich zwischen uns drängen, um den vorausgegangenen Abschied zu einem Abschied auf ewig zu machen. Gewöhne Dich daher immerhin an den Gedanken Deiner Uebersiedelung, die mir, alle Umstände, Deine ganze Lage berücksichtigend, fast dringend geboten scheint. Wird Dir aber die Trennung von Deinen Freunden schwer, dann tröste Dich mit dem Bewußtsein, daß deren treue Liebe Dir auch in Deine ferne neue Heimath nachfolgt, und daß Du auch drüben Freunde und Liebe in Fülle findest, welche Dich reich für das entschädigen, was Du hier zurückgelassen hast.«
»Ich kann den Gedanken nicht fassen, von Dir zu scheiden! Nein, ich kann es nicht, Johannes – und mit welcher Kälte, mit welcher geschäftsmäßigen Ruhe sprichst Du davon, gerade, als ob ich auf einige Stunden hierhin und dorthin gehen, und wieder heimkehren sollte. Ja, wenn Du mich begleitetest, würde ich mich nicht fürchten, in die große, fremde Welt einzutreten, und weniger schmerzlich wäre es mir, an die ferne Heimath zu denken, an die guten, alten Brauns und an die – an die Gräber meiner theueren Angehörigen.«
Johannes war aufgesprungen; sein Antlitz glühte, während aus seinen sonst so milden Augen eine stürmische Begeisterung hervorleuchtete. Er wollte sprechen, indem er aber die Lippen öffnete, erstickte ein leichter Hustenanfall vorübergehend seine Stimme.
Die Gluth auf seinem Antlitz erlosch, das Feuer seiner Augen erstarb, dunkelroth erglühten dagegen seine Wangen, unheimlich contrastirend zu der übrigen bleichen Hautfarbe.
Anna erschrak.
»Lieber Johannes!« rief sie besorgt aus, und mit gewohnter Herzlichkeit zog sie den schlaff niederhängenden Arm des vor ihr Stehenden um ihre Schultern, »auch Du vermagst den Gedanken an eine uns möglicher Weise bevorstehende Trennung nicht zu ertragen; aber beruhige Dich, noch bin ich ja bei Dir, und sollte ich wirklich gezwungen sein, mich meinem unbekannten reichen Wohlthäter zuzugesellen, so kann er es nur willkommen heißen, wenn Du mich begleitest.«
»Meine Gedanken wanderten abwärts,« sprach Johannes mit einem bitteren Lächeln, »dann erschrak ich wieder über mich selbst, und daher mein vielleicht auffälliges Wesen. Doch es ist Alles vorüber jetzt, die Heiterkeit meiner Seele ist zurückgekehrt und mit dieser die ruhige Ueberlegung. Du äußertest den Wunsch, ich möchte Dich begleiten, wenn die Reise zu Deinem Adoptivvater nothwendig werden sollte; ich weiß, liebe Anna, dieser Wunsch ist ernstlich gemeint; Du möchtest beim Eintritt in die Welt Deinen Bruder um Dich haben, von welchem Du überzeugt bist, daß er Dich zärtlich liebt. Ja, meine theuere Schwester, ich hänge mit unergründlicher Liebe an Dir, allein Dich begleiten, und sogar noch auf Kosten fremder, mir fern stehender Leute begleiten? Nein, Kind, das kannst Du, das wirst Du nicht von mir erwarten – vergieb mir meine Offenheit – das wäre mehr, als zu leisten ich die Kraft besitze – es ist unmöglich, ich kann es nicht.«
Die letzten Worte hatte er leiser und leiser gesprochen, bis sie endlich in einem kaum verständlichen Flüstern erstarben. Dann neigte er das Haupt auf die Brust, und sich abwendend, um die in seine Augen dringenden Thränen zu verbergen, begann er langsam und mit unsicheren Bewegungen in dem engen Verschlage auf- und abzuwandeln.
Plötzlich blieb er wieder vor Anna stehen, die befremdet, jedoch mit herzlichster Theilnahme zu ihm emporschaute.
»Der Morgen rückt näher und Du bedarfst der Ruhe,« hob er an, und aus seinen schönen Augen strahlte die tiefe Innigkeit seines Gemüthes, »gehen wir daher, um Dir eine angemessene Lagerstätte zu suchen.«
»Nein, nein,« bat Anna mit ängstlicher Hast, »laß mich nicht von Dir; lege Du Dich ruhig hierher, mir genügt ein Stuhl; ich stütze meinen Kopf auf den Tisch, wie ich so vielfach daheim in unserem Städtchen gethan, wenn ich gezwungen war, die Nächte hindurch zu wachen.«
»Es geht nicht, Du darfst nicht, wenn ich auch nicht bezweifle, daß Dein jugendlich kräftiger Körper dem Einfluß der Zugluft und der Kälte widersteht,« entschied Johannes freundlich, »Du mußt durchaus bequem gebettet sein, und dann, mein gutes Kind, wie sollte es mir wohl gelingen, Deine Anwesenheit in diesem Hause zu verheimlichen? Komm daher, ich begleite Dich hinunter zu meinen Freunden, wo Deiner die freundlichste Aufnahme wartet. Ferner, meine gute Anna,« fuhr er eindringlicher fort, als diese noch immer zögerte, auf seinen Vorschlage einzugehen, »muß ich auch selbst etwas ruhen und ungestört überlegen, an wen wir uns zunächst wenden – mir ist der Professor eingefallen; wunderlich, wie er zuweilen erscheint, würde er uns gewiß herzlich gern mit seinem Rathe unterstützen.«
»Ja, der Professor,« wiederholte Anna mit einem Ausdruck der Erschöpfung, und schwankend, als hätte sie sich nur ungern von ihrem Freunde getrennt, erhob sie sich.
»Sprechen wir indessen jetzt nicht weiter darüber,« versetzte Johannes, die Lampe ergreifend und Anna aus dem Verschlage hinaus voranleuchtend, »es sind für uns Beide heute der Aufregungen genug gewesen, und lange dauert es ja nicht mehr, bis der neue Tag uns wieder zu unserer Pflicht ruft.«
Sie waren bei der Treppe angekommen; Johannes hatte seiner Begleiterin den Arm geboten und schweigend stiegen sie niederwärts. An manchen Wohnungen von Leuten geringeren Standes kamen sie vorbei, doch nirgend zeigte sich erwachendes Leben. Alles schlief noch fest. Niemand ahnte, daß so viel bitteres Herzeleid, so viel bange Besorgniß, so viel treue Anhänglichkeit und Opferwilligkeit dicht vor seiner Thüre vorüberschlich. –
Der gutmüthige Vicewirth, wie Johannes vorher gesagt hatte, schätzte sich glücklich, seinem stillen fleißigen Miether einen Gefallen erweisen zu können, um so mehr, als seine bessere Hälfte, eine corpulente Dame von etwas herrschsüchtigem, dabei aber menschenfreundlichem Charakter, sich mit Anna's Gesichtsausdruck zufrieden erklärte.
Als Johannes nach kurzem Aufenthalt wieder nach seiner zugigen Bodenkammer hinaufstieg, nahm er die Ueberzeugung mit, daß auf dem in der Eile in ein Bett umgewandelten Sopha seine geliebte Anna wenigstens ein paar Stunden kräftigenden Schlummers finden würde. –
»Drei Uhr!« summte und brummte es von allen Thürmen nah und fern. »Drei Uhr!« verkündeten die mit Schlagwerken versehenen schwarzwälder Uhren ebenso bestimmt und selbstbewußt, wie die kostbaren broncenen und vergoldeten Zeitmesser.
Anna war gleich in tiefen Schlummer gesunken; ihr Freund Johannes wand sich noch lange schlaflos auf seinem harten Lager; das ganze Haus mit den vielen Familien umschwebte nächtliche Ruhe. Bei dem alten Vicewirth und den unter seinem Scepter vereinigten, zahlreiche Gewerke vertretenden schwieligen Arbeitshänden schien der Friede seine dauernde Wohnung aufgeschlagen zu haben.
Frau von Birk, nicht ahnend die erschreckende Ueberraschung, welche ihrer am Morgen harrte, hatte in einem unruhigen Schlafe Vergessenheit für ihre eigene traurige Lage gefunden. Alvens, eben erst heimgekehrt, träumte von ihm zufallenden Millionen, mit welchen eine Zierde seines Hauses, eine liebliche, allgemeinen Neid erweckende Gemahlin verbunden war.
In der dumpfigen Kellerwohnung seines Geheimsecretairs dagegen feierten die grimmigsten und menschenfeindlichsten Geister der Hölle ihre Triumphe. Unter der zerlumpten Decke ächzte, halberwürgt, aber noch immer unter dem Einfluß unmäßig genossener, berauschender Getränke, schmerzlich und grausig die alte Megäre. Beltram saß neben dem Feuerherd, auf welchem er nach und nach seinen ganzen Holzvorrath verbrannte. Wirr hing das strähnige Haar um das häßliche Haupt; seine wulstigen Lippen zitterten und bebten; das breite Gesicht glühte, dafür schien der geistige Funke in seinen gerötheten Augen erloschen zu sein, denn stier blickten sie auf die knochigen Hände nieder, die im Gelde wühlten.
Er zählte immer und immer wieder seine Reichthümer, welche sich auf mindestens vierhundert Thaler beliefen.
»Zehn Thaler – zwanzig dreißig – wo nur meine Anna bleiben mag, – vierzig, fünfzig, sechszig – wie schön das klingt; aber auch Papiergeld ist gut – was die Amerikaner wohl sagen werden, wenn ich plötzlich als Millionär, mit der schönsten Frau der Erde an meiner Seite, unter ihnen auftrete. Wo nur die Anna bleiben mag – und wo war ich stehen geblieben?« und von neuem begann er zu zählen und die abgezählten Häufchen auf dem Feuerherd zu ordnen:
»Zehn, zwanzig, dreißig? Still, Mutter, ich verzähle mich sonst, und morgen kannst Du Dir einen Braten anrichten – vierzig, fünfzig, sechszig – ich tausche nicht mehr mit Alvens.«
Beim Aussprechen dieses Namens erschrak er, und ausdruckslos spähte er um sich.
»Pah! Was kümmert mich Alvens?« flüsterte er geheimnißvoll, den langen Zeigefinger, wie tief nachdenkend, an seine Nase legend; »er kann mir nichts, gar nichts. Wenn er statt des Geldes meinen Brief in der Kasse findet, wird er sich glücklich schätzen, so leichten Kaufs davon gekommen zu sein, und meine Freundschaft, die Freundschaft eines Millionärs suchen. Wie schrieb ich doch? Halt! Geehrter Herr Alvens, wenn Sie sich nicht in's Unglück stürzen wollen, dann forschen Sie nicht nach mir, der ich zur Zeit schon unerreichbar für Sie bin. Abschriften und Originale Ihrer amerikanischen Correspondenz führe ich bei mir, ebenso bestimmte Andeutungen über eine gewisse Pferdevergiftung. Mit Ihrem Schweigen erkaufen Sie meine Nachsicht.
»Gut, sehr gut,« fügte er hohnlachend hinzu, »er selbst hätte es nicht besser machen können. Und nun die Sklavenketten! Fort mit ihnen!« so sprechend zog er das Document hervor, mittelst dessen Alvens ihn so vielfach gemartert hatte, und es sorgsam auseinanderfaltend, legte er es oben auf die Gluth.
»Ha, wie's brennt!« begrüßte er die emporlodernden Flammen, »wenn nur meine Anna erst hier wäre! Mutter, sie sagte ja wohl, sie wollte bald zurück sein?« und ohne auf das Stöhnen und Aechzen des elenden Weibes zu achten, begann er wieder zu zählen.
»Das sind zehn Thaler,« rechnete er, einen Geldschein zu dem verkohlten Document auf die Gluth legend; »und noch zehn, betragen zwanzig,« und der zweite Schein wanderte in die Flammen, »und hier fünfundzwanzig und noch fünf, machen im Ganzen fünfzig,« und fast ebenso schnell, wie er zählte, waren die fünfzig Thaler auch verbrannt. Dann fuhr er fort, zu zählen und zu verbrennen, bis der Papiervorrath erschöpft war und ihm nur noch achtzig bis hundert Thaler in Gold und Silber blieben.
Jetzt aber schien er zu dem Bewußtsein dessen zu gelangen, was er ausgeführt hatte. Immer und immer wieder zählte er die klingenden Münzen, und wilder und entsetzter stierte er um sich, als die vierhundert Thaler nicht mehr voll werden wollten. Einen blöden, mißtrauischen Blick sandte er zu seiner Mutter hinüber. Da entdeckte er plötzlich den Rest eines Geldscheins, der von den Flammen verschont geblieben war.
»Mein Geld, mein Reisegeld!« stöhnte er, die stieren Blicke eine Weile regungslos auf den Gluthhaufen gerichtet, »und wir müssen fort sein, bevor der Tag graut – ihre Sachen sind gepackt – wenn nur der Courierzug warten wollte! Aber er thut's nicht – und die Anna – ich werde sie bei Zeiten lehren, pünktlich zu sein – mein Geld, mein schönes Geld!« rief er gellend aus und, wie um es zu retten, fuhr er mit beiden Händen in die glühende Asche.
Wuthbrüllend zog er sie wieder zurück; dann ergriff er den Schemel, auf welchem er so lange gesessen hatte, und indem er die Gluth auseinanderschürte, flogen die glimmenden und zum Theil noch flammenden Kohlen in dem Ganzen Raume umher. –
Eine halbe Stunde später wurde das Stadtviertel, in welchem Beltrams Wohnung lag, durch Feuerlärm aus dem Schlafe gestört. Die Löschmannschaften waren schnell zur Hand und es gelang ihnen mit vieler Mühe, den Brand zu bewältigen, bevor er größeren Umfang gewonnen hatte. Mit genauer Noth wurden dabei ein tobsüchtiger junger Mann und eine alte Bettlerin gerettet, die Beide, bereits halb erstickt und mit Brandwunden bedeckt, den Ausgang nicht mehr zu erreichen vermocht hatten. Sie mußten mittelst Tragkörben nach dem Armenhause befördert werden, wo man aus einzelnen, bei dem jungen Manne vorgefundenen Briefschaften entnahm, daß der Rechtsanwalt Alvens wohl im Stande sein dürfte, nähere Auskunft über die Verunglückten zu ertheilen. –