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Der Kärrner Braun hatte sich mit seinem schwer beladenen Frachtwagen und den drei Holsteinern wieder auf die Reise begeben, begleitet von dem getreuen Hechsel, der seinen Posten hinter den blaugestreiften Magneten gewissenhaft verwaltete und pünktlich seine Vorderfüße jedesmal in die Spuren der schweren Schnürstiefel seines Herrn stellte, bevor noch das Wasser in die scharf ausgeprägten Abdrücke der dickköpfigen Nägel gelaufen war. Und Wasser lief sehr schnell in die Abdrücke hinein, indem es vom Himmel regnete, was das Zeug halten wollte, große und kleine Tropfen, Alles durcheinander, und der Wind trieb sie nach allen Richtungen, bald hierhin, bald dorthin, ganz so, wie es an einem rauhen, regnerischen Spätsommertage, oder vielmehr beim Uebergange des Sommers in den Herbst in der Ordnung ist.
Doch woher sie auch kommen mochten, den braven Kärrner verdrossen sie nicht mehr, als die Mückenschwärme, die ihn an warmen Abenden umspielten und sich vergeblich bemühten, durch die vom glimmenden, mit gedörrten Kirschblättern untermischten Tabak ausgehenden Wolken hindurch zu seinem roth leuchtenden Antlitz zu gelangen. Um seine Schultern hatte er eine Pferdedecke geworfen, und was sonst noch dem Regen erreichbar: der lackirte Tresorkasten wie die blaugestreiften Gamaschen und die fahlledernen Schnürstiefel, war ja wasserdicht, wasserdicht, wie Hechsels getigertes Fell und der Holsteiner dampfende Haut, wasserdicht, wie das hochgewölbte Wagenverdeck und der gute Muth, der in der breiten Kärrnerbrust wohnte und so verständlich über den rothen Borstenkragen fort in die nasse Welt hinausstrahlte.
So zog er dahin mit seinem guten Dreigespann, so war er dahingezogen, während des größten Theils des Tages, immer der triefenden Chaussee nach, die ihn erst spät an das bestimmte Ziel führen sollte. Um Hechsel kümmerte er sich dabei nicht viel, denn Hechsel war ein verständiger alter Bursche; ebenso verursachten die drei Holsteiner ihm nur wenig Sorge, indem dieselben unabänderlich, wie wohlgeölte und wohlgeregelte Maschinen, ihre behaarten, klobigen Hufe auf die feuchte Straße niederschmetterten, ohne dabei Gefahr zu laufen, ihre schönen Schweife zu bespritzen, die, zierlich aufgeschürzt und künstlich in Bündel geschnürt, mit den abwesenden Bremsen ewigen Frieden geschlossen zu haben schienen.
Um so mehr dachte der ehrliche Kärrner dafür an Frau Kathrin und an sein Schätzchen, die Anna, welche der liebe Gott ihm eigens in den Weg geführt hatte, um seiner ernsten und wenig zugänglichen Ehehälfte das Herz zu erwärmen und tröstlich auf sie einzuwirken. Denn für Frau Kathrin war die Anna in der That ein rechter Segen; nicht als ob das Pianum dabei die Hauptrolle gespielt hätte, denn das Pianum diente im Grunde doch nur dazu, die Nachbarn zu ärgern und ihren Neid und ihren Zorn anzufachen – aber die Anna hatte eine so liebe, zutrauliche Art, mit ihr zu verkehren, daß sie schlechterdings schon gar nicht anders konnte, sie mußte aus ihrer feindseligen Zurückhaltung heraustreten. –
Den Leuten zum Trotz hatte Frau Kathrin sich also an diesem regnerischen, unfreundlichen Abend von Anna deren Lieblingsmelodieen vorspielen lassen; den Leuten zum Hohn sogar sich während der Abendmahlzeit recht angelegentlich mit ihrem Schützling unterhalten und ausgerechnet, was wohl noch an Strümpfen und sonstiger Wäsche dazu gehöre, um so ausgesteuert zu sein, wie es einer voraussichtlich in sehr vornehmen Häusern verkehrenden Klavierlehrerin gebühre. Und dabei strickte sie, sobald der Tisch wieder abgeräumt war, mit einer solchen Wuth an einem neuen, weißen Strumpfe von sehr zierlichen Formen, daß der berühmteste Klaviervirtuose sie um ihre Fingerfertigkeit hätte beneiden mögen.
Prasselnd schlug der Regen an die Fensterscheiben und düsterer brannte die kleine Schirmlampe, als Anna endlich auf Frau Kathrins Wunsch ein anderes Lämpchen anzündete und Anstalt traf, sich zurückzuziehen.
Ein kaltes: Gute Nacht berührte sie unsanft, indem sie nach einigen freundlichen Worten aus dem Zimmer schritt. Sie hatte aber ihre eigene Stube noch nicht betreten, da stand Frau Kathrin mit der grünen Schirmlampe an ihrer Seite, um ihr zu leuchten und sich zu überzeugen, wie sie behauptete, daß sie keinen Feuerschaden anrichte.
Ein dankender Blick aus Anna's Augen bezeugte, daß ihr nicht fremd, was Frau Kathrin so vorsichtig machte, und mit einer Empfindung, als ob ihre eigene längst dahingeschiedene Mutter ihr Haupt segnend berührt habe, duldete sie, daß jene ihr das prachtvolle Haar auflöste und für die Nacht ordnete. Als sie aber erst warm gebettet zwischen den weichen Pfühlen lag, setzte Frau Kathrin sich zu ihr. Längere Zeit starrte sie auf die verdeckte Lampe hin; dann, wie überwältigt von den auf sie einstürmenden Empfindungen, lehnte sie das Haupt schwer auf die sich auf ihre Kniee stützenden Arme.
»Wollen Sie nicht ebenfalls schlafen gehen?« bat Anna schüchtern, indem sie liebkosend der alten Frau Hand ergriff.
Frau Kathrin richtete sich empor und blickte wehmüthig auf das ihr zugekehrte holde Antlitz nieder.
»Ich soll schlafen?« fragte sie eintönig, »o, wenn Du wüßtest, wie viele Stunden ich schlaflos verbringe, während Andere vergessen, was ihre Seele bedrückt und beschwert!«
Ein Schauder durchrieselte ihre Gestalt, dann umspannte sie Anna's Hand fester.
»Ja, Kind,« fuhr sie leise, fast flüsternd fort, »Du ahnst nicht, was es bedeutet, durch Kummer und Herzeleid des Schlafes beraubt zu werden; möge der liebe Gott Dich bis an Dein Lebensende vor solchen traurigen Erfahrungen behüten; an mir hingegen sollst Du sie kennen lernen, damit Du Dich nicht wunderst, wenn Du siehst, wie der Gram mich verzehrt und andern Menschen unleidlich macht.«
»Nein, nein, liebe Frau Braun,« bat Anna inständig, »thun sie es nicht, ich liebe Sie aufrichtig, ohne daß Sie mir sagen, was Sie so tief bekümmert, ich liebe Sie mit dankbarem Herzen, und sollte ich nie ein freundliches Wort von Ihnen hören.«
»Ich will es Dir aber anvertrauen, Kind,« versetzte Frau Kathrin entschieden, »ich will es, weil Du das einzige Wesen bist, zu dem ich über Vergangenes sprechen möchte, und dann glaube mir, es wird mir leichter um's Herz, wenn ich einmal etwas von der schwer drückenden Last herunterwälzen kann. Höre mir daher zu und unterbreche mich nicht, und wenn Du dann Mitleid mit einer alten, schwer heimgesuchten Frau empfindest, so verschließe es in Dein Innerstes und laß zu andern Menschen nie eine Silbe darüber verlauten. Sie brauchen nicht zu wissen, daß ich mich am liebsten in's Grab legte – denn das ist nur meine eigene Sache.
»Ja, Kind, auch ich war einst jung und heiter, wie Du jetzt, nur daß ich von ganz geringer Herkunft bin und meine Freude nicht so auszudrücken verstand, ich meine, in so wunderbar schöner Musik; aber ein Herz besaß ich dennoch, und ein warmes Herz und einen gesunden Sinn, denn unter Allen, die um mich freiten, wählte ich denjenigen aus, der nicht um meiner paar hundert Thaler, sondern um meiner selbst willen zu mir kam. Schön war er nicht, aber redlich und treu, so redlich, aufrichtig und treu – nun Schätzchen, Du kennst ihn ja, – so wie er jetzt ist, war er immer, und ihm allein verdanke ich die einzigen glücklichen Tag meines Lebens. Wir heiratheten uns, und da wir Beide das Arbeiten gelernt hatten und fleißig und sparsam waren, kamen wir auf unserm Gehöft und mit unserm Geschäft immer etwas weiter vorwärts. Doch was waren die Früchte unseres Fleißes gegen das Kind, welches uns der liebe Gott im ersten Jahre nach unserer Verheirathung schenkte?
»Oh, es war ein prächtiger Junge, ein Engel, um welchen uns alle Menschen beneideten, ein Kind, wie schwerlich jemals auf Erden ein zweites gefunden wird. Die schönen, großen, blauen Augen und das dunkelblonde Lockenhaar, o, ich kann sie nie vergessen! Seine Kleidung war freilich nur sehr einfach, denn bis zu seinem zwölften Jahre versah ich selbst fast ganz allein Schneiderdienste bei ihm; deshalb stand er aber nicht minder stolz in seinen geflickten Schuhen, kleidete ihn nicht minder schön das oft recht dürftig ausgebesserte Jäckchen – ja, er sah aus, wie ein Prinz, und war auch stolz, wie ein solcher.
»Als unser Eberhard, so hatten wir ihn auf meinen Wunsch getauft, die Schule besuchte, zeigte es sich erst recht, welchen Schatz wir an ihm besaßen, denn er lernte so eifrig und mit einer solchen Leichtigkeit, daß wir uns entschlossen, ihn auf eine höhere Lehranstalt zu thun. Mein Herz hüpfte vor Freude; im Geiste sah ich ihn schon als hohen Staatsbeamten und Gelehrten, welchen Sohn zu nennen uns dereinst zur Ehre gereichen sollte. Mein Mann stimmte freilich mehr dafür, daß er das Gewerbe seines Vaters fortsetzen und dessen Geschäft einst übernehmen sollte. »Wer viel lernt, hat viel zu verantworten,« sagte er oft kopfschüttelnd, wenn wir über seine Zukunft beriethen; und er hatte recht, denn die ehrgeizigen Pläne, welche ich gemeinschaftlich mit dem Knaben entwarf, waren nur dazu geeignet, die Sünde des Hochmuths in uns anzufachen. Freilich, derselbe Hochmuth, welcher meinen Sohn antrieb, sich allmälig von seinen alten Spielgenossen abzusondern, erhöhte nicht minder seinen Fleiß. Wie überall, so wollte er auch in der Schule hervorragen, und seinem Eifer war es zu verdanken, daß er die Reife für die Universität in einem Alter erhielt, in welchem sonst junge Leute noch zwei bis drei Jahre die Schulanstalten zu besuchen pflegen. Ja, er war ein Sohn, auf welchen stolz zu sein wir gerechte Ursache hatten, der aber auch auf sich selbst stolz sein durfte. Leider verwandelte sich sein Stolz in verderblichen Hochmuth, in Folge dessen die früheren Freunde sich alle von uns abwendeten und dadurch das Unglück beschleunigten, welches nur zu bald zu deren namenloser Schadenfreude über uns hereinbrach.
»Und dennoch, wäre nicht von Außen her nachtheilig auf mein armes Kind eingewirkt worden, möchte sich Alles noch zum Guten gekehrt haben,« nahm Frau Kathrin nach längerem schmerzlichen Grübeln ihre Erzählung wieder auf. – »Mein Mann hatte einen Bruder, der von seiner frühesten Kindheit an so verschieden von ihm gewesen, wie Brüder nur immer von einander sein können. Weder schlecht noch unredlich, dagegen klüger und gelehrter, als mein guter Christian, wollte er auch immer höher hinaus, als dieser. Für das Gewerbe eines Ackerbauers und Kärrners hielt er sich viel zu gut; all sein Denken und Trachten stand nach Reichthum und vornehmer Gesellschaft, und von ihm hatte mein armes Kind auch wohl seinen hochmüthigen Sinn geerbt, welchen ich Verblendete, anstatt ihn zu unterdrücken, mit heimlicher Freude nach besten Kräften nährte und lobte.
»Zu den hochfahrenden Neigungen meines Schwagers gesellte sich, daß er ein auffallend schöner Mann war. Er selbst wußte dies nur zu gut, und nach seinen Aeußerungen zu schließen, baute er fest darauf, durch eine vornehme Heirath sein Glück zu machen. Mein Mann lachte zwar über seine Eitelkeit, allein was vermochte er mit seiner einfachen Erziehung über den hochgebildeten Bruder, der obenein bei jeder Gelegenheit das Erstgeburtsrecht für sich in Anspruch nahm? Erst in der letzten Zeit seines Verweilens hier schien eine Wandlung in ihm vorzugehen; er wurde anspruchsloser in seinem Auftreten und eifriger in seiner Stellung als Buchhalter in einem Banquierhause, welche ihn nicht nur glänzend ernährte, sondern ihm auch die Mittel bot, eine Familie sorgenfrei durchzubringen, wenn er sich überhaupt zum Heirathen hätte entschließen können.
»Ich war seit zwei Jahren verheirathet und mein Schwager stand in seinem vierunddreißigsten Jahre, als ein Umstand eintrat, der eigentlich über unser Aller Glück und Zufriedenheit entschied.
»Wir, nämlich mein Mann und ich saßen eines Abends behaglich drüben an dem eichenen Tisch, mit unserm Eberhard spielend, der bereits ein volles Jahr alt war, als plötzlich mein Schwager hastig eintrat und uns durch sein verstörtes Aussehen wahrhaft erschreckte. Sein Gesicht war bleich, seine Augen leuchteten unstet, als ob er erkrankt wäre oder ein Verbrechen begangen hätte.
»Ich komme, um Abschied von Euch zu nehmen, denn ich muß fort!« sprach er kaum verständlich, »ich gehe fort auf Nimmerwiedersehen. Lebt daher wohl und vergeßt mich; in meinem Vaterlande soll nie wieder Jemand von mir hören!«
»Weder mein Mann noch ich wußten im ersten Augenblick vor Schreck und Erstaunen Worte zu finden; doch als er wieder davonstürmen wollte, vertrat ihm mein Mann den Weg. »Bruder!« rief er aus, seine Hand auf dessen Schulter legend und ihm in die verstörten Augen schauend, »Du hast Unglück gehabt, du hast Dich in leichtsinnige Speculationen eingelassen und Deinen Brodherrn benachtheiligt. Sage frei heraus, wie hoch sich die Summe beläuft, und Haus und Hof will ich verkaufen, um Deinen ehrlichen Namen zu retten.«
»Du meinst, ich sei einer schmachvollen Handlung fähig gewesen?« fragte mein Schwager zornbebend, »Du, mein leiblicher Bruder? Habe ich das an Dir verdient? So gehe denn hin und erkundige Dich an Ort und Stelle darnach; ich selbst halte es unter meiner Würde, auf Deine versteckten Anklagen zu antworten, Du würdest mir ohnehin nicht glauben. Nur so viel erkläre ich Dir, ich will lieber im entferntesten Winkel der Erde unerkannt und unbetrauert mein Leben beschließen, als auch nur noch eine Stunde länger in einem Lande weilen, in welchem der Werth eines Mannes nur nach seinen technischen Fertigkeiten abgeschätzt wird!«
»Was er mit technischen Fertigkeiten meinte, weiß ich nicht; jedenfalls mußte ihm etwas widerfahren sein, was ihn schrecklich aufgebracht hatte, denn nachdem er abermals betheuert, daß er fortan für uns verschollen sein würde, schlug er die Thür schallend hinter sich zu und wir sahen ihn nicht wieder.
»Erfüllt von bösen Ahnungen, begab sich mein Mann am andern Tage nach dem Comptoir des Banquiers, um sich von dem Umfange des vermutheten Unheils Kenntniß zu verschaffen. Dort nun theilte man ihm mit, daß die geheimnißvolle und schleunige Entfernung des sonst so gewissenhaften Buchhalters Alle im höchsten Grade überrascht habe und Niemand auch nur annähernd errathe, was seinen abenteuerlichen Entschluß zur Reife gebracht haben könne. Doch was halfen jetzt noch die guten Zeugnisse und lobenden Nachreden? Er war und blieb verschwunden, so daß der entsetzliche Argwohn in uns auftauchte, er habe sich in einem Anfalle von Geistesstörung selbst das Leben genommen. –
»Jahre verstrichen, ohne daß in unserem einförmigen Leben eine Aenderung eingetreten wäre oder wir jemals von meinem Schwager gehört hätten,« nahm Frau Kathrin wieder das Wort, nachdem sie eine Weile schwermüthig in die gespannt auf sie gerichteten lieben, theilnehmenden Augen geschaut hatte, »da trat eines Tages – unser Eberhard hatte gerade sein sechszehntes Jahr erreicht – ein fremder Herr bei uns ein, der einen offenen Brief in der Hand trug. Es war derselbe Rechtsanwalt Alvens, an welchen Du, mein armes Kind, von Deiner seligen Mutter gewiesen wurdest.
»Nach einigen Fragen, die wohl nur dazu dienen sollten, um ihn zu überzeugen, daß wir die richtigen Leute seien, eröffnete er uns, er sei von meinem Schwager, der sich in Amerika niedergelassen und ein großes Vermögen erworben habe, beauftragt worden, sich mit uns in nähere Verbindung zu setzen. Derselbe war nicht verheirathet und wünschte daher, im Falle seines Todes sein Vermögen rechtmäßigen Erben, nämlich den Kindern seines Bruders, zuzuwenden. An die Ausführung seines letzten Willens knüpfte er indessen eine Bedingung, welche mir damals hart und grausam erschien, die ich heute aber, bei ruhiger Ueberlegung, nicht tadeln kann.
»Wie wenig Segen darauf ruht, wenn Leute sich über ihren Stand erheben,« schrieb er, »habe ich leider an mir selbst erfahren; da ich nun meine einzigen Verwandten, meinen Bruder, dessen Frau und Nachkommen vor ähnlichen traurigen Erfahrungen bewahren möchte, so bestimme ich, daß sie nur dann erbberechtigt sein sollen, wenn sie, so lange ich noch unter den Lebenden weile, nie aus ihren Verhältnissen heraustreten, am allerwenigsten aber, in der Voraussicht der ihnen einst zufallenden Mittel, ihren Kindern Grundsätze einprägen, welche sie später, bei etwaigen Vermögensverlusten, untauglich für den Stand machen, für welchen sie ursprünglich geboren wurden. Diese Bedingung soll strenge inne gehalten werden, und Sie, Herr Rechtsanwalt, der Sie sich bereit erklären, mich in Europa zu vertreten, beauftrage ich, vierteljährlich meinen Bruder zu besuchen, sich von seiner Lage zu überzeugen und mir auf Ihren Diensteid jedesmal genauen Bericht zu erstatten. Hielte ich meine Pläne vor meinem Bruder und dessen Angehörigen geheim, würde ich sie so gut wie gar keiner Probe unterwerfen, und meine Unruhe betreffs des schließlichen Schicksals meines Vermögens bliebe immer dieselbe. Setzen Sie daher meinen Bruder von Allem in Kenntniß. Fährt er dann fort, in der alten einfachen Weise, mit Mühe und Fleiß für sich und die Seinigen das tägliche Brod zu erwerben, so weiß ich, daß die Früchte meiner Arbeit, die ich selbst nicht mehr genießen kann, eine gute Verwendung finden und seinen Nachkommen Generationen hindurch zum Segen gereichen, und ihm mag Alles gehören. Entgegengesetzten Falls aber treffe ich solche Vorkehrungen, daß auch nicht ein Pfennig des vielleicht mit Sehnsucht erwarteten Geldes in die Hände eines meiner Verwandten übergeht.«
»Das ist ungefähr der Brief,« erzählte Frau Kathrin weiter, welchen Herr Alvens uns damals nicht einmal, sondern viermal vorlas, damit uns die Absichten meines Schwagers recht klar und verständlich werden sollten. Ich selbst befand mich dabei in großer Aufregung, und dieser ist es wohl zuzuschreiben, daß sich der Inhalt jenes Schreibens meinem Gedächtniß unauslöschlich einprägte.
»Bevor Alvens sich entfernte, sprach mein Mann, der seine Fassung allmälig zurückgewonnen hatte, seine ungeheuchelte Freude über das Auftauchen seines Bruders unter den Lebenden aus und bemerkte in seiner treuen, einfachen Weise, daß es derartiger Bedingungen gar nicht bedürfe. Alle Schätze der Welt, fügte er hinzu, würden ihn nicht bewegen, eine andere Lebensweise in unserem Hause einzuführen; er sehne sich nicht nach dem Gelde seines Bruders und er würde gemeinschaftlich mit mir unser Kind so erziehen, wie es uns angemessen erscheine. Halte sein Bruder dereinst für gut, unsern Eberhard zu bedenken, so solle es ihm des Knaben wegen willkommen sein, er selbst aber sei gesund und gebrauche nichts.
»Anders, als mein Mann, dachte ich, und mit mir stimmte unser Sohn überein, der unglücklicher Weise der ganzen Verhandlung beigewohnt hatte. Mich erfüllte nämlich nur der eine Gedanke an die mir wahnsinnig erscheinenden Bedingungen meines Schwagers und wie dieselben wohl ohne Nachtheil für uns umgangen werden könnten. Ich hielt es für gehässig und ungerecht zugleich, zu verlangen, daß ein junger Mensch, der ein ansehnliches Vermögen zu erwarten habe, nicht auf den Besitz desselben vorbereitet und an eine bessere Gesellschaft gewöhnt werden sollte. Was mir im Kopfe herumging, sprach ich natürlich nicht aus, dagegen fuhr ich fort, meines Lieblings Stolz und Ehrgeiz immer mehr aufzustacheln und ihm fast täglich zu wiederholen, daß er einst ein reicher Mann sein würde, der vor den vornehmsten und angesehensten Bürgern der Stadt nicht zurückzustehen brauche. Und dabei wurde es mir so leicht, zu darben und zu sparen, wenn ich dafür nur den Genuß hatte, ihn wie einen Grafen auftreten zu sehen.
»Mein armer Eberhard fühlte sich bei dieser Erziehungsweise natürlich sehr wohl, dagegen quälte ihn unausgesetzt das Bewußtsein, unter einem peinigenden Drucke zu leben und vor seinem braven Vater Manches verheimlichen zu müssen, und ein freundliches Unheil war es nicht, welches er über seinen Onkel fällte, welchen er für den Urheber aller seiner kleinen Leiden hielt und der doch im Grunde sein Wohlthäter werden wollte. Nur meine dringendsten Vorstellungen vermochten ihn zurückzuhalten, an jenen zu schreiben und ihn aufzufordern, sein Geld zu behalten und sich nicht weiter um seiner Eltern Lebensweise zu kümmern.
»Mehrere Jahre gingen dahin; directe Nachrichten erhielten wir von meinem Schwager nie, doch stellte Alvens sich regelmäßig ein, um, seinem Auftrage gemäß, sich von unserem Leben und Ergehen zu überzeugen. Wir duldeten schweigend seine unwillkommenen Besuche, welche stets dasselbe Ergebniß lieferten, indem ich, trotz meiner Mißstimmung gegen meinen Schwager, ängstlich auf seine Fürsorge für meinen Sohn rechnete und daher verheimlichte, daß ich, streng genommen, die gestellten Bedingungen, wenn auch vorläufig erst in geringem Umfange, längst gebrochen hatte. Selbst mein Mann ahnte nicht, wie weit die Hoffart mich trieb.«
Bei diesen Worten neigte Frau Kathrin wieder das Haupt auf die Brust, wie um Kräfte für das zu sammeln, was noch zu enthüllen blieb. Erst der Druck, mit welchem Anna schmeichelnd ihre Hand umschloß, rief sie aus ihrem Brüten wach, und als sie in die lieben, treuen Augen schaute, in welchen sie nur den einzigen Ausdruck rührender, inniger Theilnahme entdeckte, nahm sie den Faden ihrer Erzählung wieder auf.
»Es war ein entsetzlicher Tag,« begann sie eintönig, »ein entsetzlicher Tag, an welchem Alvens wieder einmal eintraf und zufällig meinen Mann, mich und unsern Sohn beisammen fand.
»Nach seiner gewöhnlichen Einleitung lobte er, daß unser Haus noch immer seine alte, kleinbürgerliche Einrichtung bewahrt habe, dann aber rieth er uns, zu meinem namenlosen Schrecken, mehr auf unsern Eberhard zu achten. »Mag er lernen, so viel er will,« sprach er tadelnd, »wenn er indessen fortfährt, in auffälligster Weise den großen Herrn zu spielen, so fürchte ich, daß sein Verwandter sich gänzlich von Ihnen und von ihm zurückzieht. Verdenken kann man Ihrem Herrn Bruder nicht,« schloß er, zu meinem Mann gewendet, »wenn er sichere Bürgschaft zu haben wünscht, daß sein sauer erworbenes Vermögen nach seinem Tode nicht leichtsinnig vergeudet werde; und Ihr Herr Sohn scheint es ganz darauf abgesehen zu haben, durch sein Auftreten derartige Befürchtungen zu erwecken.«
»Die niederschmetternde Kunde, daß Eberhard auf dem besten Wege sei, ein Verschwender zu werden, traf meinen armen Mann bis in's Herz hinein. Lange dauerte es, bevor er Worte fand, dann aber seine treuen Augen fest auf unsern Sohn richtend, rief er aus:
»Eberhard, bis jetzt habe ich immer Deinen Worten unbedingten Glauben geschenkt, sage mir daher auch jetzt aufrichtig: Ist es wahr, was der Herr von Dir behauptet?«
»Eberhard sprang empor. »Habe ich jemals Wohlthaten von meinem Herrn Onkel empfangen?« fragte er wild und beleidigt, und seine prächtigen Augen schienen den Rechtsanwalt zermalmen zu wollen, »habe ich jemals auch nur eines Pfennigs Werth von ihm erhalten, daß er sich anmaßen dürfte, meine Eltern und mich und unsere Handlungen durch Sie überwachen zu lassen?«
»Er beabsichtigt ihr Bestes,« suchte Alvens ihn zu beruhigen; allein Eberhard hörte nicht auf ihn, noch achtete er auf meine flehenden Blicke oder auf seines Vaters schmerzliches Erstaunen.
»Für mein Bestes bin ich selbst verantwortlich, nicht mein Herr Onkel!« rief er zornig aus, und dabei richtete er sich empor, als sei er der Gebieter der ganzen Welt gewesen, »was mein Onkel verstanden hat, das verstehe auch ich, und vielleicht noch mehr. Beweisen will ich ihm, daß ich auf sein Geld nicht warte, beweisen ihm und Allen, die es wissen wollen, daß ich meine Freiheit nicht um alle Schätze der Erde verkaufe! Zu stolz, um zu bestreiten, daß ich bisweilen mit Behagen an den mir einst vielleicht zufallenden Reichthum dachte, bin ich es jetzt müde, meine Neigungen und Liebhabereien, zu deren Ausführung ich die Mittel meinen Eltern verdankte, zu verheimlichen. Meine Antwort aber auf den Vorwurf des Verschwendens? O, meine Eltern sollen nicht unter den Folgen des mir angedichteten Leichtsinnes leiden; ich bin Mannes genug, für mich selbst zu sorgen, und die Zeit wird kommen, in welcher ich mitleidig auf meinen Herrn Onkel sammt seinen Schätzen niederblicke!«
»Er stürmte auf die Straße hinaus, und unbekümmert um die verwunderten, spöttischen Blicke einzelner Nachbarn, die seinem schrecklich veränderten Aussehen galten, schritt er davon.
»Für dieses Mal habe ich hier weiter nichts zu thun,« sagte Alvens, sobald die Thür sich hinter Eberhard geschlossen hatte; »lassen wir ihn nur gewähren; wenn seine Hitze verraucht ist, wird er allmälig verständiger über Alles nachdenken;« dann empfahl er sich.
»Was mein Mann und ich sprachen, sobald wir uns allein sahen, wiederhole ich nicht; nur so viel erwähne ich, daß kein Wort des Vorwurfs über seine Lippen kam. Er begriff, daß allein die zärtlichste Liebe zu unserm Kinde mich verblendet hatte. Unserm Eberhard dagegen erklärte er, als derselbe erst spät Abends heimkehrte, daß eine Aenderung in seiner Lebensweise eintreten müsse. Er bedeutete ihn, daß ihm fortan nicht mehr die Mittel zu seinem vornehmen Auftreten zu Gebote stehen würden, und zwar nicht des Onkels und seiner Bedingungen wegen, sondern um seiner selbst willen und weil er sich gewöhnen müsse, auf seine eigenen Kräfte zu bauen.
»Gegen alles Erwarten setzte Eberhard den ernsten Vorstellungen seines Vaters die größte Bereitwilligkeit entgegen, die mich freudig überraschte und mein Herz erleichterte, um so mehr, als ich einen leidenschaftlichen Ausbruch seines gekränkten Stolzes befürchtet hatte.
»Du sollst fortan keinen Grund mehr haben, Dich über meinen Leichtsinn zu beklagen,« das waren seine letzten Worte; dann drückte er seinem Vater die Hand, mich küßte er zärtlich, worauf er sich tief bewegt, wie ich deutlich gewahrte, nach seinem Zimmer begab. –
»Ach, daß ich ihn doch begleitet hätte und die Nacht hindurch nicht von seiner Seite gewichen wäre, vielleicht wäre es anders gekommen,« seufzte Frau Kathrin, ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckend.
Anna, durch den Schmerz ihrer mütterlichen Freundin tief erschüttert, blickte besorgt auf die regungslose Gestalt, die weder durch Schluchzen noch durch Seufzen Leben verrieth. Als sie aber leise, jedoch mit unbeschreiblicher Innigkeit deren Namen aussprach, sanken die Hände von dem erschreckend bleichen Antlitz nieder, und wie von einem Traume umfangen, lispelten die schmalen, farblosen Lippen:
»Ruhig, getröstet und von der Zukunft das Beste hoffend, schlief ich an jenem Abende ein, während nur wenige Schritte von mir das entsetzliche Unglück über uns hereinbrach.
»Erst als Braun und ich uns zum Frühstück niedersetzten, bemerkten wir mit Befremden, daß Eberhard noch nicht aufgestanden sei. Ich begab mich sogleich in sein Zimmer, um ihn zu wecken, fand aber zu meinem namenlosen Schrecken sein Bett unberührt, und auf demselben einen von seiner Hand geschriebenen Brief folgenden Inhaltes:
»Theure, heißgeliebte Eltern, ich stehe im Begriff, einen Frevel an Euch zu begehen; doch ich bin und bleibe Euer Sohn und Ihr werdet Eurem armen Kinde verzeihen! Die Abhängigkeit, in welcher ich leben soll, der Schein, als hätte die Hoffnung, meinen Onkel zu beerben, eine Umgestaltung meiner Pläne bewirkt, ist mehr, als ich zu tragen vermag. Euch zu Liebe hätte ich mich zu manchem Opfer verstanden, hätte ich dem Verkehr mit meinen Studiengenossen entsagt, hätte ich mich zurückgezogen von Allem, was mich bisher erfreute und mich zu kühnem Ringen anspornte, hätte ich sogar dem Fürchterlichsten, dem mich treffenden Spotte die Stirne geboten, allein den unverdienten Vorwurf hinterlistiger Erbschleicherei auf mich zu laden, das werdet selbst Ihr nicht von mir verlangen. Ich habe mich daher entschlossen, das Weite zu suchen. Wohin ich mich wende, weiß ich noch nicht, aber getrost und zuversichtlich blicke ich in die Zukunft. Die Schätze des Wissens, welche ich Eurer treuen Fürsorge verdanke, werden mir überall einen Weg bahnen. Solltet Ihr in nächster Zeit keine Nachricht von mir erhalten, so betrübt und beunruhigt Euch deshalb nicht; ich muß mich stählen zu dem Kampfe mit einem wetterwendischen Geschick, und das gelingt mir nur, wenn ich den Verkehr mit der Heimat vorläufig ganz abbreche. Hört Ihr nichts von mir, dann seid Ihr zu den besten Hoffnungen berechtigt. Zurückkehren werde ich nur dann, wenn ich unabhängig und mit Ehren aufzutreten vermag. Noch einmal bitte ich Euch um Verzeihung für den Kummer, welchen ich Euch bereite, aber bleiben kann ich nicht, wenn ich nicht dem Wahnsinn anheimfallen soll –«
Hier stockte Frau Kathrin. Der Brief, welchen sie allmälig auswendig gelernt hatte, schien ihre schmerzlichen Erinnerungen doppelt angeregt, ihren Geist förmlich gebrochen zu haben. Die großen blauen Augen aber blieben trocken, nur daß sie, wie der Sehkraft beraubt, ins Leere starrten.
»Auch von seiner Dankbarkeit hat das arme Kind noch geschrieben und von seiner zärtlichen Liebe,« fuhr sie endlich wieder fort, als ob sie die Worte einzeln mühsam von der ihr gegenüberliegenden Wand abgelesen hätte; »allein was helfen mir Liebe und Dankbarkeit, wenn mein einziges Kind, mein Sohn todt für mich ist? Ja, todt, denn er war und blieb verschwunden und über sechs Jahre sind verstrichen seit jenem verhängnißvollen Tage, ohne daß ich auch nur eine Silbe von ihm oder über ihn erfuhr. Wir wissen nicht, wohin er sich wendete, nur so viel scheint unzweifelhaft, daß er außer Landes gegangen ist. Ach er ist todt! Ich kann mich dieses traurigen Gedankens nicht erwehren; das Meer hat ihn verschlungen, so daß nicht einmal die Kunde von seinem Ende uns erreichen konnte!«
»Aber sein Onkel, Ihr Schwager, liebe Frau Kathrin, auch er galt lange für todt und verschollen,« wendete Anna schüchtern und theilnahmvoll ein.
»Du meinst es gut,« antwortete die Kärrnerfrau, und wie unbewußt streichelte sie dann die dunkeln Locken, »ja, du meinst es herzlich gut, Kind, und ich danke Dir dafür, aber neue Hoffnungen in mir zu erwecken, das vermagst selbst Du nicht. Wie indessen die Hoffnung einer Mutter nie ganz abstirbt, ebenso sind die Ahnungen und Befürchtungen einer Mutter immer die schwärzesten. Nichts blieb unversucht, den Aufenthalt meines Sohnes zu entdecken; Alvens und mein Schwager boten ihr Aeußerstes auf und scheuten weder Geld noch Zeit – und dennoch kann ich nicht glauben, daß Gott meinen armen Mann – ich selbst verdiene wohl mein Unglück – so hart strafen würde, ihn, der nur Wohlwollen, Redlichkeit und Treue gegen seine Mitmenschen kennt. Ja, mein liebes Kind, ein schwacher Hoffnungsfunke glimmt noch in meinem Herzen, und dieser und die Achtung vor dem Willen meines Mannes sind es allein, was mich abhält, meinem Schwager zum Trotz, dem Rechtsanwalt endlich einmal mein Haus zu verbieten; und hätte mein Schwager hunderttausend Thaler auf uns zu vererben, was sollte ich damit, ich, die kinderlose Frau? Mag er sein Geld vergraben oder ins Wasser werfen, mich soll's nicht kümmern. Und dieser Alvens, niemals habe ich seinen glatten Worten getraut; seit jenem furchtbaren Tage aber ist er mir verhaßt geworden. Scheint es mir doch, als hohnlache er innerlich, daß zu der Erbschaft dermaleinst kein Anderer da sein wird, als die beiden schwarzen Kreuze, unter welchen mein guter Braun und ich nach einem kummervollen Erdenleben ausruhen. Darum, Schätzchen, ist es mir auch widerwärtig, wenn Alvens und sein schrecklicher Schreiber sich so sehr angelegentlich nach Dir erkundigen und Dir Geldmittel zur Verfügung stellen; gerade, als ob wir nicht im Stande wären, ausreichend für Dich zu sorgen! Und, nicht wahr, Du sehnst Dich nicht nach dem Schutz des Herrn Alvens? Du bist zufrieden mit Deiner jetzigen Lage und gehst nicht wieder von uns – denn verließest Du mich, dann nähmest Du einen reichen Trost mit fort, welchen Du in unser Haus brachtest; ich glaube, mein armer Christian wäre unglücklich, wolltest Du nicht länger bei uns bleiben.«
»Ich fühle mich ja so wohl bei Ihnen,« antwortete Anna zutraulich, und die hellen Thränen rannen aus ihren Augen, »so wohl, daß ich es gar nicht beschreiben kann – und dann weiß ich auch nur einen einzigen Menschen, der mich ebenso liebt –«
»Richtig, Schätzchen, der arme Johannes,« fiel Frau Kathrin ein, und die hagere Hand ordnete wiederum leicht die unter Anna's Häubchen hervorquellenden Locken, »ja, das ist ein braver Mensch; wenn er Dich nur öfter besuchte; aber ich ahne, er scheut die alte, grämliche Kärrnerfrau.«
»Nein, o nein, Frau Kathrin,« warf sich Anna mit Eifer zur Vertheidigerin ihres geliebten Johannes auf, »glauben Sie das nicht, ihn fesseln nur seine Studien, außerdem befindet er sich in der Lage, durch Unterrichten für seinen und seiner Mutter Unterhalt sorgen zu müssen.«
»Ich glaube Deinem Wort, Schätzchen, wenn ich aber den Menschen eine gewisse Scheu vor mir zutraue, so irre ich mich in den wenigsten Fällen. O, wie haben sie mich zu allem meinem Herzeleid gequält und gemartert, bis ich mich endlich ganz von ihnen absonderte! Ich verschloß den Kummer in meine Brust, ich mißgönnte ihnen, die mich einst beneideten und jetzt frohlockten, ebenso ängstlich den Anblick meines verhaltenen Schmerzes, wie einer Regung der Freude. Ich wollte für alle ohne Gefühl sein, und ich blieb meinem Vorsatze treu, bis ich endlich zu meiner Genugthuung entdeckte, daß man mir mißtrauisch auswich und sich fürchtet, mich anzureden.«
Ein feindseliger Ausdruck begleitete Frau Kathrins letzte Worte, dann versank sie wieder in schmerzliches Brüten.
Dumpf heulend fuhr der Wind in den geräumigen Schlot, der in der Küche über dem Feuerherde mündete. Prasselnd schlug der Regen gegen die kleinen in Blei gefaßten Scheiben des Giebelfensters. Eine große Fliege, die vielleicht in Anna's Stube zu überwintern gedachte, summte geräuschvoll um die grüne Schirmlampe. Zur Abwechselung stieß sie sich den Kopf an der Zimmerdecke, wo gerade über der Lampe ein runder, heller Schein sich auszeichnete, welcher von dem dummen Thier ohne Zweifel für das Thor eines ewig sommerlichen Himmels angesehen wurde. Briefsiegel bildeten sich an dem breiten, vernachlässigten Docht; einzelne wiesen auf Anna, andere wieder auf Frau Kathrin, doch Niemand achtete ihrer; die Zeit lag ja so fern, in welcher Frau Kathrin derartige Siegel mit Theilnahme betrachtete und am folgenden Morgen ungeduldig und mit heimlichem Beben den Mann mit dem orangegelben Rockkragen beobachtete, wie derselbe sich im Zickzack, überall ankehrend und vor jeder Thür ein Wörtchen plaudernd, ihrem Gehöft näherte und gleichgültig vorüberschritt. Wo waren die Tage, in welchen sie noch glaubte, auf Nachricht von ihrem Sohne hoffen zu dürfen! Und Anna? Von wem hätte sie Briefe erwarten sollen?
Die kleinen Fensterscheiben klirrten wieder geheimnißvoll unter einer Ladung sie mit Heftigkeit treffender Regentropfen.
»Der arme Vater Braun, ob er sein Tagesziel wohl schon erreicht hat?« fragte Anna mit freundlich hervorklingender Besorgniß.
»Schon vor einer Stunde,« antwortete Frau Kathrin lebhaft, denn sie kannte die Reiserouten ihres Mannes so genau, daß sie zu jeder Tageszeit anzugeben vermochte, wo er sich befand, »er hat längst abgefüttert und liegt auf der Streu zwischen den Holsteinern, oder auch im Wagen selbst.«
»Es bleibt doch ein mühevolles Gewerbe, bei Sturm und Unwetter, dazu noch bei einbrechender Nacht auf der Landstraße einherzuziehen,« versetzte Anna bedauernd und zugleich froh, Gelegenheit gefunden zu haben, Frau Kathrins Gedanken weniger schmerzlichen Bildern zuzuwenden.
»Nenne mir eine Arbeit, die mühelos wäre; und Wind und Wetter? O, die haben auf die eiserne Natur meines Mannes keinen Einfluß; oft erscheint es mir sogar, als ob er sich behaglich fühle, wenn der Sturm ihm nach Herzenslust um die Schläfen weht. Wie viel trauriger ergeht es dagegen Leuten, deren Körper den sich ihnen bietenden Mühen und Beschwerden nicht gewachsen ist, und die dennoch angestrengt arbeiten müssen. Ich denke dabei an Deinen armen kränklichen Freund; der sieht nicht aus, als ob er sich des Abends nur niederzulegen brauche, um die ersehnte Ruhe zu finden.«
»Der arme Johannes,« sprach Anna unbeschreiblich traurig, »wenn andere Menschen längst schlafen, sitzt er noch vor seinen Büchern, um das nachzuholen, was er am Tage durch Unterrichtertheilen versäumte.«
»Und vielleicht im ungeheizten Kämmerchen, und, was noch weit schlimmer, ohne seinem schwächlichen Körper die entsprechende Nahrung geboten zu haben,« fügte Frau Kathrin wie im Selbstgespräch hinzu.
»Entsetzlich,« flüsterte Anna erschreckt, denn bis jetzt hatte sie noch nie an eine solche Möglichkeit gedacht, »ich weiß, er kämpft oft gegen Mangel, allein vor solchem Elend möge Gott ihn bewahren; er ist ja ein so opferwilliger Sohn, ein so treuer Freund –«
»Was frägt das Geschick nach Opferwilligkeit und Treue?« fiel Frau Kathrin bitter ein, sogleich aber den Ton ihrer Stimme mildernd, fuhr sie fort: »Wenn man ihm nur helfen oder ihm Erleichterung verschaffen könnte; doch das hält schwer, wie ich ihn beurtheile. Mit welcher Entschiedenheit verschmähte er, sich an unserem Mahl zu betheiligen; und obwohl er vorgab, bereits gegessen zu haben, machte er nicht den Eindruck eines Menschen, der den Tag über warme Speisen zu sich genommen.«
»Wenn man ihm nur helfen könnte,« wiederholte Anna noch leiser, denn das Bild des geliebten, leidenden Freundes war lebhaft vor ihre Seele getreten, »aber ich bezweifle, daß dies auf gewöhnlichem Wege möglich ist; o, wie würde es mich beglücken, von meinem eigenen Verdienst –«
»Gebrauchst Du selbst am notwendigsten,« ertönte es kalt von den bleichen Lippen zurück, »und wozu sollten ihm die paar Pfennige helfen? Nein, nein, Kind, das ist nichts, wir müssen etwas Anderes ersinnen; vielleicht daß der Herr Professor – doch es ist schon spät und Du bist müde. Gute Nacht daher, Schätzchen, und wenn Du an das denkst, was ich Dir eben anvertraute, dann vergiß nicht, daß es auf der ganzen Welt keine zweite Seele giebt, der ich einen Blick in mein Herz gestatten möchte. Vielleicht wandelt Dich gelegentlich die Lust an, der armen, alten Kärrnerfrau Das, was sie vor Dir enthüllte, in Deiner wunderbaren Musik wieder zu erzählen. Es klingt so süß und tröstlich, wenn ich mein Leid aus all' den schönen Melodieen und Tönen heraushöre.«
Dann neigte sie sich zu Anna nieder, um sie zu küssen. Anna aber schlang ihre Arme um Frau Kathrins Hals, und wohl eine Minute verstrich, bevor diese sich mit gerötheten Augen erhob und, die Lampe nehmend, der Thüre zuschritt.
»Gute Nacht, Schätzchen,« tönte es noch einmal gedämpft zurück.
»Gute Nacht, liebe, liebe Frau Kathrin,« antwortete Anna, und still und dunkel wurde es in dem Gemach des jungen Mädchens.
Frau Kathrin hatte kaum die Schwelle überschritten, da trug das hagere Antlitz wieder den kalten, theilnahmlosen Ausdruck. Im Vorbeigehen warf sie einen streng prüfenden Blick in die Küche; schnurrend zog sie die an messingenen Ketten hängenden Gewichte der in der Wohnstube befindlichen und beinahe abgelaufenen schwarzwälder Uhr empor, dann schlich sie leise in den mit blau gestreiften Gardinen verhangenen Alkoven des Nebenzimmers.
Einige Minuten später erlosch die grüne Schirmlampe und geisterhafte Stille herrschte in des Kärrners Behausung.
Der Wind hatte sich verstärkt. Tiefer und durchdringender heulte er in den offenen Schlot hinein; prasselnd schlugen die Regentropfen gegen die Fensterscheiben. In Anna's Gemach gesellte sich zu dem Knistern noch das unregelmäßige Ticken, mit welchem eine lose haftende Scheibe bald nach Innen, bald nach Außen gegen das Bleirähmchen schlug. Das eigenthümliche Knistern hatte das treue, liebe Wesen schnell eingeschläfert; mit einem Gebet auf den Lippen war Anna in das Reich der Träume eingetreten. Das Ticken hörte sie indessen noch lange; bald ging es von dem Kärrner aus, der mit einem verschmitzten: »Immer successive!« harmlos mit der Peitsche nach den geduldigen Holsteinern knallte; bald von dem Professor, der zu ihrem Klavierspiel mit einem dem Orang-Outang-Skelett entlehnten Beinknochen den Tact schlug und dabei gutmüthig lächelte, bald wieder von Frau Kathrin, die schwermüthig vor sich niederschaute und vier fürchterlich lange, in einem Riesenstrumpfe steckende Stricknadeln an einander klirrte.
Ob Frau Kathrin schlief? Wer konnte es wissen? Wenn es aber dem Geiste vergönnt ist, während der Körper in den Fesseln des Schlummers rastet, frei in unbegrenzter Ferne umherzuschweifen und das Gesehene als Erinnerung an Traumbilder wieder mit ins Leben hineinzunehmen, dann wanderte Frau Kathrins Seele gewiß über den ganzen Erdball, ängstlich suchend und forschend nach einem theuren Verschollenen, um endlich traurig, enttäuscht und ermüdet zurückzukehren und Trost zu suchen bei ihrem biederen, treuen Lebensgefährten, bei der unter ihrem Schutze befindlichen, dankbaren Waise, und endlich bei dem wunderlichen Professor, der in seinen Lebensanschauungen so außerordentlich mit ihr übereinstimmte.