Balduin Möllhausen
Der Piratenlieutenant - Teil 1
Balduin Möllhausen

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Elftes Capitel.

Auf dem Holzhofe.

Wenn der Wind den Regen prasselnd gegen die Fenster trieb, die nassen Dächer fegte und abwechselnd in Schornsteine und blecherne Wasserröhren, wie auf ebenso vielen riesenhaften Orgelpfeifen und Posaunen blies, so war das nichts im Vergleich mit der Gewalt, mit welcher er einen einsamen Fußgänger traf, als derselbe, aus dem Süd-Thore der Residenz tretend, sich sogleich seitwärts wendete und dicht an der theilweise abgetragenen Stadtmauer hin dem Unwetter entgegenschritt. Er hatte zwar einen Regenrock um sich geschlagen und einen breitrandigen Filzhut tief über die Stirn gezogen, doch was fruchteten diese Vorkehrungen einem Feinde gegenüber, der es so prächtig verstand, nicht nur die Schöße seines leichten, echt amerikanischen Regenmantels weit auseinander zu bauschen, sondern auch die allerverborgensten Winkelchen aufzufinden, Gaslaternen auszulöschen, offene Thüren zuzuschlagen, schlecht befestigte Fensterladen loszureißen, Barbierbecken voller Beulen zu klopfen, Herbergsschilder und Wetterfahnen zu martern, daß sie vor Verzweiflung laut aufkreischten, und wer weiß, was sonst noch für schändlichen Unfug zu treiben.

An dem einsamen nächtlichen Wanderer hatte er indessen einen ebenbürtigen Gegner gefunden, denn mit aller Anstrengung erreichte der tückische Wind doch weiter nichts, als daß jener hin und wieder das Wasser von sich abschüttelte, den Regenmantel durch kurzes Umdrehen um sich selbst von neuem ordnete und höchstens einmal den wenig christlichen Wunsch aussprach, daß der Sturm sammt seinem Verbündeten, dem kalten Regen, zur Hölle und zu allen Teufeln fahren möge. Dabei kam er aber verhältnißmäßig schnell von der Stelle, denn noch keine Viertelstunde hatte er sich im Schatten der Mauer einherbewegt, als der in der Ferne auftauchende Schein zweier flackernden Laternen ihm die Lage eines andern Thores verrieth.

Etwa hundert Schritte weit verfolgte er noch seine alte Richtung, dann begab er sich nach der anderen Seite hinüber, wo sich eine breite Straße des neu erbauten Stadttheils vor ihm öffnete.

Ohne zu zögern, bog er in die spärlich erleuchtete Straße ein, die auf beiden Seiten von neuen, hohen Häusern begrenzt wurde, und nachdem er in derselben fünf Minuten mit ungeschwächter Eile fortgeschritten war, gelangte er bis dahin, wo statt der neuen Häuser, dürftig eingefriedigte Baustellen sich ausdehnten und Holzhöfe und Steinkohlenlager mit einander abwechselten.

Ungefähr zweihundert Schritte weit lagen die letzten Häuser hinter ihm, als seine Blicke nicht mehr von der Bretterwand abwichen, welche neben ihm die Straße von den Bauplätzen schied. Er suchte offenbar eine Thoröffnung, welche leicht zu entdecken, die unzureichende Beleuchtung ihn hinderte.

Plötzlich blieb er stehen. Zwei Querbalken bezeichneten ihm das geschlossene Thor, und sich an denselben hintastend, gerieth der Griff zu einer Klingel in seine Hand, welchen er sogleich vorsichtig anzog, ein schwaches Läuten auf der andern Seite erzeugend.

Die Zeit bis zum Oeffnen einer schmalen Seitenpforte benutzte er dazu, durch eine Spalte in der Bretterwand in den hinter derselben liegenden Hof hineinzuspähen, wo ein matt erhelltes Fenster die Lage eines hüttenartigen Häuschens verrieth.

Nur flüchtig bemerkte er den Schimmer, indem das Licht, von welchem derselbe ausging, wahrscheinlich in Folge des Klingelns, ausgelöscht wurde. Bald darauf öffnete sich die Thür des Häuschens, und bei dem durch dieselbe fallenden röthlichen Schein, der von einem stark geheizten eisernen Ofen herrührte, gewahrte er, daß mehrere Gestalten in's Freie hinaus schlichen, ihre Rücken, Einer dem Andern helfend, mit schweren Lasten beluden und dann geräuschlos in den Schatten einer nahen Steinkohlenanhäufung traten.

»Ein kleiner Nebenverdienst für den gewissenhaften Wärter,« dachte der geheimnißvolle Wanderer und kehrte sich ab, um das Oeffnen der Pforte abzuwarten.

Eine Minute dauerte es noch, bis er das Plätschern vernahm, mit welchem sich Jemand auf dem schlüpfrig gewordenen Pfade näherte; gleich darauf wurden von innen zwei Riegel zurückgeschoben.

»Wer ist da?« fragte eine gedämpfte Stimme, und ein in einen Schafpelz gehüllter Mann drängte sich zu ihm heraus.

»Der Schreiber des Briefes an den früheren Polizeiagenten,« hieß es kurz und bestimmt zurück, auf welche Antwort der Mann im Schafspelz sogleich den Eingang frei machte und den Fremden aufforderte, einzutreten.

»Bemühen Sie sich nach meiner Wohnung, die Thür ist offen,« fügte er leise hinzu, »ich will unterdessen einen Blick auf die Straße werfen und mich überzeugen, daß wir ungestört bleiben.«

Der Fremde leistete der Einladung Folge, doch nicht so schnell, daß er nicht, von der Hütte aus zurückschauend, mehrere Schatten bemerkt hätte, welche durch die Pforte auf die Straße hinausschlüpften und lautlos verschwanden.

Die Riegel glitten wieder in ihre Haften und gleich darauf trat der Holzwärter zu seinem Gast in das einzige Gemach des Häuschens.

»Wollen Sie nicht ein Licht anzünden?« fragte der Fremde, indem er den Regenrock auszog.

»Nein, nein,« antwortete der Wärter vorsichtig, »ich brauche nur die Ofenthür zu öffnen, und es ist hell genug für das Geschäft, welches wir mit einander abzuwickeln haben können.«

So sprechend schlug er die angelehnte Ofenthür zurück, aus welcher alsbald nicht nur die sengende Gluth eines verschwenderisch genährten Kohlenfeuers, sondern auch ein grelles, rothes Licht hervorströmte.

»Wundern Sie sich nicht über mein Verfahren,« fuhr er fort, »ich bin aber darauf angewiesen, meinen ehrlichen Namen fleckenlos zu erhalten, und das vermag ich nur, wenn ich nicht durch nächtlichen, heimlichen Besuch einen Schein von Unredlichkeit auf mich lade. Man weiß oft nicht, von wem man beobachtet wird, und der Verlust dieser Stelle würde mich und die Meinigen in's Elend stürzen.«

»Wohl eine einträgliche Stelle,« bemerkte der Fremde spöttisch, indem er seinen triefenden Regenrock an einen Nagel hing und dann, in die rothe Beleuchtung tretend, die eingeknickte, bewegliche Nase und die lauernden Augen des Deutsch-Amerikaners Lukas zeigte.

»Sie ernährt mich nothdürftig,« erklärte der Aufseher, zwei Schemel in die Nähe des glühenden Ofens ziehend, worauf er, ohne seinen Pelz abzulegen, auf dem einen Platz nahm und es Lukas überließ, sich des andern zu bedienen.

»Nothdürftig, hm,« versetzte dieser wiederum spöttisch, »das Nothdürftigste ist ausreichend, so lange sich Gelegenheit bietet, durch einen kleinen Nebenhandel mit Steinkohlen nachzuhelfen.«

Der Aufseher sah unangenehm überrascht empor. Es ruhte eine gefährliche Entschlossenheit auf dem knochigen, von einem theilweise ergrauten, dünnen Vollbarte eingerahmten Gesicht und in den geschlitzten Augen, die eigentlich grün, bei der unbestimmten Beleuchtung dagegen schwarz und stechend erschienen.

Er sann ohne Zweifel über eine auf die mittelbare Anklage zu ertheilende Antwort nach; denn erst nach mehreren Sekunden und nachdem er, wie um seinen gedrungenen, kräftigen Körperbau in's rechte Licht zu stellen, den oberen Theil seines zottigen Pelzes zurückgeworfen hatte, erwiderte er, seine Brauen drohend zusammenziehend:

»Was Sie von mir wollen, errathe ich nicht; dagegen möge Ihnen zur Nachricht dienen, nicht zu scharf zu sehen und zu hören, wo Ihre Aufmerksamkeit nicht verlangt wird, es sei denn, Sie scheuten sich nicht, fremde Hände in Ihren Haaren zu fühlen.«

»Oder fremde Fäuste an meiner Kehle,« spöttelte Lukas.

»Die so lange drücken, bis es mehr, als der Hülfe eines Doctors, bedarf, um die zusammengeschrumpfte Windpfeife wieder zu öffnen,« fügte der Wärter noch feindseliger hinzu.

»Gut, gut, Sie sind der Mann, den ich suche,« versetzte Lukas ruhig, und die eingeknickte Nase zog sich durch eine eigentümliche Bewegung der Lippen seitwärts, »ich wollte Ihnen nur verständlich machen, daß ich ziemlich vertraut mit Ihrem Charakter sei; vielleicht trägt das dazu bei, eine schnellere Einigung zwischen uns herbeizuführen.

Der Aufseher zuckte geringschätzig die Achseln.

»Daß ich früher Polizist gewesen bin, kann Ihnen nur der Teufel verrathen haben,« hob er an, doch fiel Lukas ihm schnell in's Wort:

»Nicht der Teufel, sondern die alten Polizeiregister, in welchen von einem früheren Sergeanten und sehr brauchbaren Spion, Namens Schweifer, die Rede ist, der wegen Einverständnisses mit Hehlern mit einem Jahr Gefängniß und Entlassung aus dem Dienste belohnt wurde.«

»Verdammt, was kümmert mich Ihr Schweifer? Ich heiße Sachse.«

»Auch das wußte man in den Bureaus; man gönnt Ihnen indessen Ihre Brodstelle, so lange man keine Veranlassung findet, Ihre Rechtschaffenheit in Zweifel zu ziehen. Doch Sie selbst müssen ja die Polizei am besten kennen.«

»Ja, ja, sie drückt zuweilen ein Auge zu,« versetzte der Wärter mürrisch, und eine auf dem Kohlenkasten liegende, halb aufgerauchte Cigarre nehmend, hielt er dieselbe mit dem angebrannten Ende so lange an eine fast weiß glühende Stelle des Ofens, bis sie hell glimmte. Nachdem er sodann einige Züge geraucht hatte, scheinbar ohne die spähenden Blicke seines Gastes zu beachten, fuhr er fort: »hätte nicht geglaubt, daß man mich auf der Liste behalten würde – nun, man wird schwerlich jemals Ursache haben, meine Rechtschaffenheit anzuzweifeln, und das Vergangene? Pah! Doch wie kommen Sie zur Polizei und was bewegt Sie dazu, den vergessenen Schweifer so beharrlich aufzusuchen? Geringfügige Umstände können's nicht sein, und dennoch entsinne ich mich nicht, Sie jemals gesehen zu haben.«

»Gesehen haben Sie mich freilich ebenso wenig, wie ich Sie,« gab Lukas zu, »und daß Sie derselbe Schweifer sind, der vor sechs Jahren auf die Spur eines flüchtigen jungen Mannes gesetzt wurde und diesen bis nach Bremen verfolgte, ist eben der wunderlichen Laune des Zufalls zu verdanken.«

»Ich spürte manchem Flüchtlinge nach und brachte auch manchen in Numero Sicher,« bemerkte der Aufseher zögernd, denn er grübelte darüber nach, auf welche Persönlichkeit die Nachforschungen seines Gastes sich beziehen könnten.

»Ich meine den jungen Mann der, ohne eine strafbare Handlung begangen zu haben, seinen Eltern entlief, und für dessen Habhaftwerdung ein gewisser Alvens, ein Rechtsanwalt, sich so überaus lebhaft interessirte.«

»O, ich entsinne mich, dieser Alvens hatte sich an die Polizei gewendet, welche sich auf seinen Antrag doppelte Mühe gab, den Flüchtling einzufangen.«

»Und sie gehörten zu denjenigen, welche hinter ihm hergeschickt wurden?«

»Ich sollte denken, ja; die Geschichte ist mir indessen nicht mehr recht klar – ich sehe überhaupt keinen Grund, Ihre Fragen zu beantworten, ohne dabei zu wissen, um was es sich handelt.«

»Nun, es handelt sich für Sie darum, durch wahrheitsgetreue Mittheilungen mindestens doppelt so viel zu verdienen, wie Ihnen die vier oder fünf Säcke Kohlen und gespaltenes Holz einbrachten, die eben erst durch die Pforte auf die Straße hinausgeschmuggelt wurden.«

»Ich wiederhole Ihnen noch einmal, kümmern Sie sich nicht um meine Privatangelegenheiten, und was den Verdienst anbetrifft, da zeigen Sie mir zuvor Geld, und Sie sollen sehen, daß ich zu sprechen weiß.«

Lukas zog zwei harte Thaler hervor und reichte sie dem Aufseher.

»Betrachten Sie dies als Handgeld,« sprach er ernst, und die bewegliche Nase zuckte wieder seitwärts, »mögen Ihre Antworten nun ausfallen, wie sie wollen, von deren Glaubwürdigkeit hängt die Höhe Ihres Gewinnes ab.«

»Fragen Sie,« entgegnete der Aufseher, das Geld sorglos in die Westentasche schiebend, »an mir soll's nicht liegen, wenn Sie mir beim Abschied nicht dreimal so viel einhändigen.«

»Wir wollen sehen. – Als Sie beauftragt wurden, dem jungen Manne nachzuspüren, rüstete man Sie mit einem ausführlichen Steckbriefe aus?«

»Ganz recht, derselbe wurde mir aber nach meiner Heimkehr wieder abgefordert.«

»Was ich gern glaube; dagegen läßt sich voraussetzen, daß Sie nicht mit dem Signalement in der Hand den Ihnen verdächtig scheinenden Leuten nachliefen, sondern dasselbe auswendig gelernt hatten.«

»Ja, ich lernte es auswendig, und zwar so gut, daß ich auf hundert Schritte meinen Mann herausgefunden hätte.«

»Haben Sie das Signalement noch im Kopfe? Ich meine, so genau, daß Sie es dictiren können?«

Der Aufseher sann eine Weile nach und blickte zweifelnd auf Lukas.

»Es möchte wohl gehen,« bemerkte er vorsichtig, »denn meine Reise war von Umständen begleitet, welche dazu dienten, gerade diesen Fall meinem Gedächtniß fester einzuprägen. Warum wenden Sie sich aber nicht an Herrn Alvens, der den jungen Mann persönlich gekannt haben muß, oder lieber gleich an die Eltern?«

»Ich könnte es wohl, allein ich will nicht, das muß Ihnen genügen.«

»Erlauben Sie mir zuvor noch eine Gegenfrage: Warum kommen Sie gerade zu mir und nicht zu einem der andern Polizisten, die, gleich mir, mit Steckbriefen ausgerüstet wurden?«

»Weil diese noch im Dienst stehen und daher –«

»Und Sie nicht gern mit der Polizei in Geschäftsverbindung treten,« fiel der Aufseher hämisch lachend ein, »o, das spricht für Sie, und ich bin daher bereit, Ihnen jede gewünschte Auskunft zu ertheilen; also das Signalement.«

Dann zögerte er, bis Lukas eine Brieftasche hervorgezogen hatte und sich anschickte, die einzelnen Bemerkungen niederzuschreiben, worauf er wieder anhob:

»Eberhard Braun; Höhe: fünf Fuß neun Zoll. Körperbau: sehr kräftig. Haar: dunkelblond. Augen: blau und groß. Nase: gebogen. Lippen: etwas aufgeworfen. Gesichtsfarbe: gesund und sehr klar. Bart: im Entstehen und von röthlicher Farbe. Heute, wenn er noch lebt, wächst ihm jedenfalls ein so starker, rothbrauner Bart um's Kinn, wie nur je einer das Gesicht eines fünfundzwanzigjährigen Burschen schmückte, und fünfundzwanzig Jahre werden ungefähr hinter ihm liegen, indem er damals deren achtzehn zählte. Bekleidet war er –«

»Die Kleider von damals dürften wohl kaum noch vorhanden sein,« bemerkte Lukas schreibend und ohne aufzuschauen, »sagen Sie mir lieber, ob er besondere Kennzeichen hatte.«

»Besondere Kennzeichen? Hm, daß ich nicht wüßte; höchstens seine Hände, die waren nämlich so weiß und fein, als sei er in einem gräflichen Hause geboren und erzogen worden, und das Merkwürdigste, wenn er sprach, gleichviel ob erregt oder ruhig, dann zog er die Brauen leicht zusammen, und die Worte folgten so ernst und gemessen aufeinander –«

Hier stockte der Aufseher erschreckt; zufällig seitwärts blickend hatte er bemerkt, daß Lukas ihn erstaunt betrachtete und plötzlich das Niederschreiben vergessen zu haben schien. Kaum aber schwieg der Aufseher, da richtete Lukas sich empor, und Jenen an der Schulter fassend, rief er aus:

»Sie kennen den Eberhard Braun, Sie haben ihn gesehen und gesprochen!«

Eine Weile saß der Aufseher verwirrt da; er erörterte in Gedanken die Frage, ob er die Wahrheit eingestehen oder ausweichend antworten sollte, als Lukas eine schnelle Entscheidung herbeiführte.

»Haben Sie ihn wirklich gesehen und gesprochen,« beruhigte er mit seltsamer Spannung, »so verdoppelt das natürlich den Werth Ihrer Aussagen, vorausgesetzt, ich darf mich der ungeschminkten Wahrheit derselben versichert halten.«

»Verdammt! Da habe ich mich schön festgefahren,« versetzte der Aufseher nach einem mißlungenen Versuche, gleichgültig zu erscheinen; »doch der Schaden ist nun einmal geschehen, und da bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als frei von der Leber zu sprechen. Ihnen bringt's vielleicht Vortheil, und mir schadet's nicht, seit ich den Polizeirock nicht mehr trage – nun ja, ich habe den jungen Mann gesehen, und was weiter?«

»Weiter nichts; die Hauptsache bleibt das Signalement,« antwortete Lukas nachdenklich, »doch fahren Sie fort, welchen Umständen verdankten Sie die Zusammenkunft?«

»Das ist bald erklärt. Ich war also nach Bremen abgeschickt worden, um dort nach dem Verschwundenen zu forschen. In der Ueberzeugung, daß in den Gasthäusern alle Erkundigungen erfolglos sein würden, verschaffte ich mir eine Liste aller Schiffe, die segelfertig im Hafen lagen und in den nächsten Tagen auslaufen sollten. Für einen mit den entsprechenden Papieren versehenen Polizeiagenten ist es nicht schwer, Zutritt zu allen Fahrzeugen zu erhalten, und so machte auch ich die Runde, ohne auf die geringsten Schwierigkeiten zu stoßen. Eins der letzten Schiffe, welches ich noch zu besuchen gedachte, lag bereits im Strome, um mit Eintritt der Ebbe die Anker zu heben. Es war ein amerikanisches Kauffahrteischiff, und mehr um meine Pflicht zu erfüllen, als daß ich wirklich auf Erfolg gerechnet hätte, ließ ich mich hinüberrudern. Da man meine Absicht und meine Stellung als Polizeiagent nicht kannte, gestattete man mir ziemlich bereitwillig an Bord zu kommen, wo es von Seiten der Seeleute an englischen Spottreden auf mich einregnete. Um die Spöttereien kümmerte ich mich nicht; doch als ich mich eben an den Kapitain wenden wollte, der aus der Ferne hochmüthig über mich fortsah, streiften meine Blicke einen beinahe sechs Fuß hohen jungen Matrosen, der sich nachlässig an die Brüstung lehnte und über dieselbe in's Wasser hinabschaute. Sein Haar war dunkelblond, und indem er den Kopf sinnend auf die eine Hand stützte, bemerkte ich, daß die Finger, die sich halb in die Locken vergraben hatten, so weiß, wie die Hand eines verzogenen jungen Mädchens schimmerten und nicht im Entferntesten Aehnlichkeit mit der Faust eines Mannes trugen, der gewohnt ist, theerige Taue und Stricke durch dieselbe gleiten zu lassen.

»Schnell entschlossen trat ich zu dem jungen Manne heran, und meinen Hut höflich ziehend, sagte ich auf gut Glück im vertraulichsten Tone: Ihr ergebener Diener, Herr Eberhard Braun. Ich wollte noch einige Worte hinzufügen, als ich bereits den untrüglichen Beweis erhielt, daß ich an die rechte Thüre gekommen sei. Der Angeredete, der mich offenbar für einen Geschäftsmann gehalten und daher kaum beachtet hatte, kehrte sich nämlich schnell nach mir um, und nie in meinem Leben werde ich den Ausdruck des Entsetzens auf seinem Gesicht vergessen, als ich ihm meine Legitimation vorzeigte und ihn ersuchte, mich nach seinem elterlichen Hause zurückzubegleiten.

»Sie irren sich,« brachte er endlich mühsam hervor, und bevor ich noch Zeit gewann, mit meinen Erklärungen fortzufahren, wurden wir Beide vor den Kapitain beschieden, welcher die ganze Scene mit versteckter Neugierde beobachtet hatte. Meine Person würdigte der hochmüthige Amerikaner keines Wortes, dagegen sprach er längere Zeit sehr angelegentlich mit dem jungen Manne, wovon ich natürlich nichts verstand. Nachdem Beide mit einander einig geworden waren, rief der Kapitain einen deutsch sprechenden Matrosen, den er beauftragte, mich zu fragen, welches Verbrechen dem Flüchtlinge zur Last gelegt werde, daß man es wage, ihn bis auf einen Boden zu verfolgen, auf welchem allein die Gesetze der Vereinigten Staaten maßgebend seien.

»Ich erklärte natürlich, daß der Flüchtling gar kein Verbrechen begangen habe und man ihn nur mit Güte oder Gewalt am Auswandern hindern wolle.

»Der Dollmetscher verkündete mir darauf im Namen des Kapitains, daß ich auf dem Schiffe nichts mehr zu suchen habe, als Eberhard Braun plötzlich vermittelnd auftrat und nach einigen englischen Worten an den Kapitain sich mir zuwendete.

»Sie sehen, hob er an, ihre Macht erreicht hier ihr Ende, und nichts vermag meine beschlossene Reise zu hintertreiben. Da es indessen in meinem Plane liegt, spurlos zu verschwinden, so frage ich Sie, ob sie geneigt sind und ob es sich mit Ihrem Pflichtgefühl verträgt, zu verschweigen, daß Sie mich überhaupt gesehen haben?

»Diese Frage zog ich ernst in Betracht. Ich erwog, ob ich für Nachlässigkeit im Dienst zu Rechenschaft gezogen werden könne, und da er sich keiner strafbaren Handlung schuldig gemacht hatte, die eifrige Verfolgung nur auf Anstiften von Privatpersonen in's Werk gesetzt worden war, er mich aber unter keiner Bedingung zurückbegleitet hätte, so antwortete ich nicht verneinend, aber auch nicht zustimmend.

»Wie wäre es, wenn ich Sie für Ihre Mühe entschädigte? fragte der junge Mann darauf weiter.

Ich spähte um mich; nirgend bemerkte ich Jemand, von dem ich Verrath zu befürchten gehabt hätte, und da ein Polizist im Grunde nur kümmerlich besoldet ist, so – nun – das Ende vom Liede war, daß er wieder mit dem Kapitain sprach – ich glaube, er selbst besaß kein Geld – der mir zwanzig Thaler einhändigte, zugleich aber durch den Dollmetscher ankündigte, daß ich durch die Annahme des Geldes strafbar geworden sei und daher alle Ursache habe, fortan das tiefste Geheimniß über den Hergang der Sache zu bewahren. Der junge Braun ließ mich noch eine Quittung unterschreiben, zu seiner eigenen Sicherstellung, wie er sagte, und einige Minuten später saß ich wieder in dem Boot, wo es mir leicht gelang, den Ruderern vorzuspiegeln, daß mein Besuch an Bord des Amerikaners ebenso nutzlos gewesen sei, wie alle vorhergegangenen. Um den Schein aufrecht zu erhalten, ließ ich mich sogar noch in derselben Stunde nach einem andern Schiff zum Zweck erneuter Nachforschungen hinrudern.

Am folgenden Morgen, nachdem ich mich überzeugt hatte, daß der Amerikaner verschwunden war, mir also keine Gefahr mehr drohte, kehrte ich hierher zurück, wo mein Rapport: keine Spur von dem Entflohenen entdeckt zu haben, den willigsten Glauben fand.

»Was später aus dem jungen Menschen geworden ist, weiß ich nicht; ich selbst hatte am wenigsten Grund, mich darnach zu erkundigen. Ihr Besuch scheint indessen anzudeuten, daß er verschollen ist. Mir sollte es leid thun, denn er war ein schöner Jüngling, der das blaue Matrosenhemde und den Oelhut mit einem Anstande trug, als sei er mindestens der Sohn eines Admirals gewesen. Und dabei hatte er doch etwas außerordentlich Wohlwollendes in seinem Wesen, was durch die Besorgniß, die ihn offenbar erfüllte, und wahrscheinlich auch den Schmerz der Trennung von den Seinigen nicht ganz verdrängt werden konnte.«

Sie sind ein scharfer Beobachter,« versetzte Lukas, sobald der frühere Polizeiagent schwieg, und wiederum trug er einige Notizen in sein Taschenbuch ein.

»Man lernt bei täglicher Uebung,« erwiderte der Aufseher, eine neue, stark nach Kohlblättern duftende Cigarre an dem glühenden Ofen anzündend, »ja ja, das Polizeiwesen ist eigentlich mein Fach, und zu bedauern bleibt's, daß ich davon abging, 's läßt sich aber nicht mehr ändern, man muß eben zusehen, wie man sich durchschlägt. Hätte übrigens nie gedacht, daß mir jenes halbvergessene Ereigniß heute noch, also beinah sieben Jahre später, etwas eintragen würde.«

Lukas, den Wink des Aufsehers beachtend, zählte diesem noch zehn Thaler in die Hand.

»Ich hoffe, Sie sind damit zufrieden,« sprach er, indem er sich erhob und seinen Regenrock anzog.

»Vollkommen zufrieden, vorausgesetzt, mir erwachsen aus unserm Geschäft keine Unbequemlichkeiten,« antwortete der Aufseher, die in seiner Hand befindliche Summe wohlgefällig wiegend.

»Woher sollten die Unbequemlichkeiten kommen?« fragte Lukas mit einem Anfluge von Heiterkeit, »außer mir lebt schwerlich noch Jemand, der das geringste Interesse an der alten Geschichte haben könnte – und dennoch – Sie kennen den Rechtsanwalt Alvens?«

Der Aufseher blickte Lukas scharf an, als hätte er in seinem Innern lesen mögen; dann antwortete er zögernd: »Ja, den kenne ich, das heißt, ich entsinne mich seiner dunkel; als ich noch in Polizeidiensten stand, richtete ich zuweilen Aufträge für ihn aus.«

»Ueber den jungen Braun hat er Sie niemals befragt?«

»Niemals, noch weniger habe ich selbst davon angefangen. Ich glaube, er weiß nicht einmal, daß ich mich an der Verfolgung betheiligte.«

»Das schließt die Möglichkeit nicht aus, daß er auf den Gedanken geräth, Nachforschungen nach ihm anzustellen. In einem solchen Falle muß ich darauf bauen können, daß Sie jede Mitwissenschaft standhaft ableugnen.«

»Bauen Sie unbedingt darauf,« entgegnete der Aufseher, der nach dem Empfange des Geldes höflicher geworden war; »liegt's doch mit in meinem eigenen Vortheil, daß Niemand um die kleinen Verstöße gegen meine Obliegenheiten weiß.«

»Aber auch mein Besuch bei Ihnen muß für Jedermann ein Geheimniß bleiben, ebenso gut, wie die kleinen Vortheile, welche der nächtliche Kohlenhandel abwirft – still, still, von meiner Discretion haben Sie nichts zu befürchten, so lange – doch wir verstehen uns. Zu Ihrer ferneren Beruhigung mag dienen, daß der Eberhard Braun wirklich verschollen ist, und nur um dies rechtskräftig zu bestätigen, unterziehe ich mich der namenlosen Mühe, die vorhandenen Spuren unter der Hand noch einmal bis an ihr Ende zu verfolgen. Den Namen jenes amerikanischen Schiffes haben Sie wohl vergessen?«

»Ich dachte nicht daran, mich nach demselben zu erkundigen.«

»Nun, das ist unwesentlich; jedenfalls werde ich durch die Consulate näheren Aufschluß darüber erlangen, und daher Gott befohlen.«

So sprechend trat er auf den Hof hinaus. – Der Aufseher begleitet ihn nach der Pforte, und nachdem er eine Weile gelauscht hatte, schob er vorsichtig die Riegel zurück.

Noch immer strömte der Regen vom Himmel nieder; noch immer fegte der Wind die Dächer, klappte er mit invaliden Fensterladen hoch oben vor unbewohnten Speicherräumen, und peinigte er Wetterfahnen, Herbergsschilder und Barbierbecken.

Unempfindlich gegen das Wetter eilte Lukas durch die verödeten Straßen. Sein Geist arbeitet ununterbrochen. Pläne der verwegensten und abenteuerlichsten Art wogten in seinem Kopfe; die Mittheilungen des verbrecherischen Aufsehers hatten ihn mächtig aufgeregt; vor seiner Phantasie tauchten goldene Berge auf, nach welchen er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie in seinen Besitz zu bringen.

Der Aufseher berechnete und zählte unterdessen seine Tageseinnahme. Er hatte neue Kohlen in den Ofen geworfen und die Thür desselben geschlossen, sich mit der von dem glühenden Eisen ausströmenden Helligkeit begnügend. Für ihn war das Heulen des Windes und das Plätschern des Regens eine angenehme Musik. Er fühlte sich so unendlich behaglich in der mit Kohlendunst und Tabaksrauch erfüllten, zum Ersticken heißen Atmosphäre, daß er es gar nicht über sich gewinnen konnte, den Schafspelz abzulegen. Er schnürte denselben daher fester um sich zusammen, und mit ganzer Schwere warf er sich oben auf sein Lager in der von einfachen Brettern zusammengeschlagenen Bettstelle.

»Solcher Kunden könnten wir mehr gebrauchen,« murmelte er mit einem tiefen Seufzer unbeschreiblicher Zufriedenheit; dann begann er zu schnarchen, als hätte sich eine fleißig arbeitende Sägemaschine in dem Wärterhäuschen befunden.

Ja, das war noch ein gesunder Schlaf, ein Schlaf, um welchen ihn mancher Gerechte hätte beneiden mögen!

 


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