Balduin Möllhausen
Der Piratenlieutenant - Teil 1
Balduin Möllhausen

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Vierzehntes Capitel.

Aus dem Familienleben eines Schreibers.

Die Nebel, die während des Tages und gegen Abend in der Luft gehangen hatten, verdichteten sich mit dem Vorschreiten der Nacht, wie um dem geheimnißvoll einherschleichenden Verbrechen die Arbeit zu erleichtern und seine Spuren zu verbergen. Nur in geringem Umkreise durchdrangen die Lichtstrahlen der brennenden Laternen die dunsterfüllte Atmosphäre. Es war eine Nacht, so recht dazu geeignet, in wohldurchheizten Räumen nach vollbrachtem Tagewerk sorglos zu rasten, mit einem Gefühl unendlicher Sicherheit allen Gefahren und Abenteuern wirrer Träume zu begegnen, oder auch zu schwelgen in den duftigen Bildern, welche die mechanisch schaffende und webende Phantasie vor die planlos umherirrenden geistigen Blicke hinzauberte.

Es war eine Nacht, doppelt traurig für Diejenigen, welche vergeblich im Schlafe Vergessenheit suchten für ihre oft genug unverschuldete, trostlose Lage. Traurig für Diejenigen, welchen die Mittel fehlten, die dringendsten Lebensbedürfnisse zu befriedigen.

Zu diesen im ewigen Kampfe um eine elende Existenz lebenden Menschen gehörten Beltram und seine bei ihm wohnende Mutter. Die geringe Besoldung, welche er von Alvens bezog, und die wenigen Groschen, welche die alte Frau bei ihrem Hausirhandel mit Schwefelhölzchen erübrigte, reichten bei weitem nicht aus, sie gegen Noth zu schützen, und manchen Entbehrungen mußten sie sich unterwerfen, um pünktlich am Ersten jeden Monats die fällige Miethe für eine feuchte, stallartige Wohnung im Erdgeschoß eines baufälligen, von zahlreichen armen Familien bewohnten Hauses im Voraus zu entrichten.

Vor einem offenen Kamin, welches zugleich die Stelle eines Ofens und eines Kochherdes vertrat, saß Beltram auf einem gebrechlichen Holzstuhle, mittelst spärlich angelegter Späne ein kleines Feuer unterhaltend. Dasselbe diente zur Erhellung des düsteren Raumes, wie Beltram selbst sich an den munter emporflackernden Flammen zu erwärmen suchte.

Seine Mutter lag in einer der beiden schmalen Bettstellen, welche, nur mit Strohsäcken und zerlumpten Steppdecken versehen, die Hauptmöbel der elenden Wohnung bildeten. Sie hatte die Decke bis an's Kinn heraufgezogen; man bemerkte daher nicht gleich, daß sie für überflüssig gehalten, sich zu entkleiden. Die zerknitterte Haube, unter welcher ungeordnete, gelbrothe und ergraute Haarsträhnen widerwärtig hervorquollen, deutete nur leicht darauf hin. Ihr breites, knochiges Gesicht hatte sie dem Sohne zugekehrt, seine Bewegungen mit einem eigenthümlichen Gemisch von Mißtrauen und Bosheit verfolgend. Auch ihre Augen waren entzündet und geröthet, ebenso die scharf vorspringende, häßlich geformte Nase, doch schien diese unnatürliche Farbe mehr die Folge eines unmäßigen Lebenswandels, als der Kälte und des ätzenden Rauches zu sein. Ereignete es sich doch mehrfach, daß sie eine breite grüne Flasche unter der Bettdecke hervorzog, dieselbe auf einige Sekunden an die Lippen führte und demnächst schnell wieder verbarg.

»Wie viel Uhr ist es?« unterbrach die alte Frau nach einem solchen verstohlenen Angriff auf ihre Flasche plötzlich die in dem feuchten Kellerraum herrschende trostlose Stille.

Beltram antwortete nicht. Grübelnd stierte er in die Flammen, die mit ihrer flackernden Beleuchtung seinen riesenhaften Schatten auf der Wand tanzen machten, daß es sich ausnahm, als sei derselbe mittelst eines Strickes an der Decke befestigt und in den letzten Todeszuckungen begriffen gewesen.

»Leberecht, ich frage Dich, wie viel Uhr es ist? Kannst Du nicht antworten, Du Unglücksrabe, oder bist Du taub geworden?« fragte die Mutter mit gehobener Stimme.

»Wenn Deine Ohren nicht schlechter sind, als die meinigen, mußt Du gehört haben, daß es eben halb zwölf schlug,« antwortete Beltram endlich, ohne seine Haltung zu verändern, »ich wundere mich, daß Du dergleichen fragst; die Zeit, in welcher ich goldene Uhren trage, ist noch nicht gekommen.«

»Wird auch nicht kommen, so lange Du Dich nicht über die Stellung eines elenden Actenschmierers zu erheben vermagst,« keifte die Mutter weiter, »und dabei läßt Du mich hungern und frieren und im Elend untergehen, Du ungerathene, treulose Brut, als ob Du das, was Dich zu Deiner Stellung befähigt, nur Dir selbst verdanktest.«

Beltram zuckte ungeduldig die Achseln. »Mutter,« begann er nach kurzem Sinnen, »wem ich's verdanke, weiß ich selbst am besten; übrigens ist es unnöthig, nur ein einziges Wort darüber zu verlieren; fährst Du indessen fort, mich in einer solchen Weise zu belästigen, so bin ich gezwungen, mich von Dir zu trennen, und Du magst dann zusehen, wie Du Dich durchschlägst.«

Diese Drohung blieb nicht ohne Wirkung auf die boshafte Megäre, denn anstatt über die krasse Lieblosigkeit in erhöhte Wuth zu gerathen, zeigte das häßliche Antlitz plötzlich den Ausdruck großer Besorgniß.

»Du wolltest Dich von mir trennen?« fragte sie mit weinerlicher Stimme, während ihre Finger die verborgene Flasche krampfhaft umschlossen, »von mir, Deiner Mutter, dem einzigen lebendigen Wesen, welches noch mit Zärtlichkeit an Dir hängt? Oder bildest Du Dir etwa ein, daß außer mir noch Jemand in der Welt Freundschaft und Theilnahme für Dich, den häßlichen, niedrigen und verachteten Schreiber hege?«

»Ob häßlich oder nicht, ob reich oder arm, ob verachtet oder geehrt,« entgegnete Beltram mürrisch, »auch meine Zeit muß kommen, eine Zeit, in welcher mir mehr Liebe und Ehre zu Gebote stehen, als ich gebrauche.«

»Ich trau' Dir's schon zu,« fuhr die Mutter eifrig fort, »denn Du bist klug, ausnehmend klug und weißt jede Gelegenheit zu Deinem Vortheil auszunutzen, und wenn Du erst den Anfang gemacht hast, wirst Du nicht auf derselben Stelle stehen bleiben –«

»Der Anfang ist längst gemacht,« fiel Beltram unwirsch ein, und indem er das Feuer schürte, beleuchteten die Flammen ein Antlitz, auf welchem die Dämonen rasender Leidenschaften ihr unheimliches Spiel trieben.

»Und wenn Du den Anfang gemacht hast,« nahm die Mutter alsbald wieder das Wort, »warum leben wir denn noch immer in Noth und Elend? Aber ich errathe, Du möchtest Alles für Dich behalten, und mich willst Du verstoßen; ich sehe Dich schon, wie Du in einer feinen Karosse bei mir vorüberfährst und dem alten Bettelweibe, welches Du nicht mehr als Deine Mutter anerkennst, ein paar Pfennige zuwirfst.«

»Störe mich nicht mit Deinen Klageliedern,« schnitt Beltram die Rede seiner Mutter ab; »daß ich Dich nicht verhungern lasse, versteht sich von selbst; Du sollst sogar Dein gutes und reichliches Brod und eine wohleingerichtete, warme Stube haben, wenn Du meine Anordnungen pünktlich erfüllst.«

»Alles, Alles will ich thun für gutes Brod, warmes Obdach und vielleicht noch ein kleines Taschengeld zu Nebenausgaben, wenn die Bedingungen nicht zu schwer sind. Ich weiß, Du verlangst Schweigen; als ob ich einfältig genug wäre, durch Plaudern uns Beide in's Unglück zu stürzen!«

»Ich verlange mehr, als Schweigen,« versetzte Beltram hart, »ich verlange, daß Du, nachdem wir uns getrennt haben, niemals die Schwelle meines Hauses überschreitest – wir müssen vollständig geschieden von einander leben, ja, Einer den Andern bei einer zufälligen Begegnung nicht einmal kennen. Dagegen verspreche ich Dir, daß es Dir an nichts fehlen soll; ich werde Dich regelmäßig besuchen, um mich von Deinem Ergehen zu überzeugen; doch vergiß nicht: das geringste Zuwiderhandeln gegen meinen Willen, und im Arbeitshause ist eine Stelle für Dich offen.« –

Aus den blöden Augen der alten Frau schoß ein Blitz des giftigsten Hasses auf ihren Sohn; sie beherrschte sich aber, und einen sie vernichtenden Schmerz erheuchelnd, rief sie jammernd aus:

»Mein eigen Kind schämt sich seiner Mutter! Doch ich will mich trösten, ich will Alles thun, was Du verlangst, wenn ich dafür nicht mehr mit Schwefelhölzchen durch die Straßen zu schleichen brauche und trotzdem mein gutes Brod und etwas Geld zu Nebenausgaben habe –«

Dumpf tönten aus der Ferne die Glockenschläge herüber, welche Mitternacht verkündigten.

»Es ist Zeit,« sprach Beltram, bevor seine Mutter die unterbrochenen Klagen wieder aufgenommen hatte, »beeile Dich daher, Du weißt, binnen höchstens drei Stunden muß Alles beendigt sein.«

Wie electrisirt sprang die alte Frau aus dem Bett, und in ein Paar vor demselben stehende Schuhe tretend, schüttelte sie ihre zerlumpten, unsaubern Röcke, die sich beim Liegen unter der Decke verschoben hatten. Mit zitternden Händen ergriff sie ein auf dem Fußende ihres Bettes liegendes Umschlagetuch, und ihren Oberkörper fest in dasselbe einhüllend, trat sie hastig neben ihren Sohn hin.

»Ich bin bereit,« flüstere sie geheimnißvoll, und ihr scheußlich verzerrtes Gesicht glühte gespenstisch im Schein der rothen Flammen, »ich bin bereit, und Du rührst Dich nicht von der Stelle?«

Beltram bohrte seine Blicke gleichsam in die Augen der Mutter; es war, als ob er dadurch einen bannenden Zauber auf sie ausgeübt hätte, denn sie schauderte, ohne die Kraft zu besitzen, den seltsamen Blicken auszuweichen.

»Du kennst meine Bedingung,« sprach er hohl und seine Stimme vorsichtig dämpfend, »Du folgst meinem Willen blindlings und greifst mir in keiner Weise vor.«

»Nur einen einzigen Thaler erlaube mir,« flehte die Mutter von den Leidenschaften der Habsucht und thierischer Unersättlichkeit bis auf die Grenze des Wahnsinns getrieben.

»Nicht einen Silbergroschen,« entschied Beltram, die Richtung seiner Blicke immer noch nicht ändernd.

»Wir haben heute noch nichts Warmes genossen, erbarme Dich daher.«

»Und müßten wir in dieser Stunde verhungern, würde ich dennoch sagen: Keinen Pfennig! Oder möchtest Du lieber, daß ich meine glänzenden Aussichten mit einem langjährigen Aufenthalt im Gefängniß vertauschte? Was ich will, weiß ich; anderer Leute Geheimnisse können ebenso gut meine Geheimnisse sein – aber Geld? Nein! Vielleicht später; schon einmal habe ich mich auf Deinen Rath in's Unglück gestürzt, und außerdem giebt's da, wohin ich gehe, kein baares Geld.«

»Doch, doch, ich weiß es,« lispelte die Mutter, unfähig, ihre Gier zu bezähmen, und schmeichelnd fuhr ihre Hand über das eigentümlich trockne Haar ihres Sohnes, »Du hast's selbst gesagt, die kleine Geschäftskasse ist nie ganz leer; es bedarf nur des Zulangens, und wir können morgen leben, wie die Könige, und merken kann's Niemand, wenn Du dabei recht bescheiden – nein, bescheiden nicht, ich meine, recht vorsichtig zu Werke gehst.«

Sie schwieg bebend; die Hand glitt von dem gedörrten Haar, ihre Gestalt schien sich zu verkleinern unter dem starren Blick aus den grünlichen, roth eingerahmten Augen.

»Noch ein solches Wort, und Du magst Dich ebenso gut wieder zu Bette legen,« sprach Beltram mit eisiger Kälte, »denn mein Verkehr mit Dir hat sein Ende erreicht. Willst Du also, oder willst Du nicht? Sage es jetzt, denn an Ort und Stelle ist es zu spät zu Erörterungen.«

»Ich will, ich will Alles thun, was Du von mir forderst,« erwiderte die Mutter, sich fröstelnd fester in ihr Tuch hüllend, »ich verspreche Dir, geduldig zu sein und zu warten; Du bist ja so klug und mußt Alles so viel besser wissen, als Deine arme, alte Mutter.«

»Zünde die Lampe an,« befahl Beltram, der sich nunmehr der sklavischen Unterwürfigkeit seiner Mutter versichert hielt.

Die Angeredete ergriff einen flackernden Span und näherte ihn dem schwarzen Dochte einer beinahe trockenen Küchenlampe. Bevor dieselbe aber noch brannte, hatte Beltram das Feuer auseinander gestoßen und aus einem auf dem Herde stehenden Wasserbehälter die glimmenden und zischenden Kohlen getödtet.

Lange kämpfte das blaue Flämmchen des verkohlten Dochtes um sein Leben; mit angehaltenem Athem beobachteten Mutter und Sohn das allmälige Wachsen desselben. Beide hatten die Augen gesenkt; indem die bläuliche Beleuchtung aber ihre Physiognomien traf und todtenbleich färbte, glichen sie in ihrer Regungslosigkeit grübelnden Höllengeistern, die heimlich auf die Oberwelt geschlichen, um unter den Sterblichen Gift und Galle auszusäen.

Das Flämmchen war zur Flamme geworden, und schweigend und mit ängstlicher Hast folgte die Mutter den Zeichen und stummen Anweisungen ihres Sohnes. Sie leuchtete ihm, als er aus einem Schlüsselvorrath diejenigen auswählte, die er mitzunehmen beabsichtigte, und dann, nachdem sie die Lampe ausgelöscht hatte, schlichen sie auf die kleine Flur und von da über die sechs schlüpfrigen Stufen auf die Straße hinaus. Eine schmale, unsaubere Gasse erstreckte sich zu beiden Seiten von ihnen weit in die Nacht hinaus; verödet und vereinsamt lag sie da. Selbst die Häuser, welche dieselbe bildeten, lauter morsche Baracken, schienen ausgestorben und unbewohnt zu sein, denn nirgend zeigte sich ein Licht, welches die Anwesenheit von Menschen verrathen hätte.

In weiten Zwischenräumen rang der Schein vereinzelter, sehr sparsam genährter Gasflammen nach besten Kräften mit dem dichten, übelriechenden Nebel. Die oberen Stockwerke und Dächer fielen mit dem Nebel vollständig zusammen, als ob sie bis in den Himmel hineingereicht, oder der Himmel sich träge auf die schlummernde Stadt gesenkt hätte. –

Kurze Zeit blieben Beltram und seine Mutter vor ihrer stillen Wohnung stehen; dann schlugen sie eiligst die Richtung nach einem der reicheren Stadtviertel ein. Arm in Arm, wie ehrsame Bürgersleute, wanderten sie dahin; Niemand sah der bedächtig einherschreitenden und von ihrem Sohne geführten alten Frau an, wo sie wohnte und welches Haus sie verlassen hatte, noch weniger aber vermochte man die Zwecke zu errathen, welche Beide verfolgten. Sie konnten ebenso gut von einem Kranken kommen, an dessen Schmerzenslager Menschenfreundlichkeit sie so lange zurückgehalten hatte, wie von einer Beschäftigung, bei welcher sie durch einige nächtliche Arbeitsstunden ausreichender für ihren kümmerlichen Unterhalt zu sorgen gedachten. Sicher traute ihnen Niemand etwas Schlechtes zu, so ehrbar und achtungswerth bewegten sie sich durch die verödeten Straßen. – –

Halb eins hatte es eben geschlagen, als das zu Alvens' Wohnung führende Portal mit so sicherem Griff aufgeschlossen wurde, wie nur Jemand thun kann, der sich auf heimischem Boden befindet und sich seines guten Rechtes bewußt ist.

Ebenso hallten die festen Schritte eines einzelnen Mannes durch den geräumigen Flurgang, sich allmälig auf dem Hofe verlierend. Wer im Hause das Geräusch vielleicht hörte, bezweifelte keinen Augenblick, daß ein Bewohner des Hintergebäudes sich etwas verspätet habe. Niemand ahnte, daß es ihrer zwei waren, die in das Haus eindrangen; denn die gekrümmte Gestalt, welche sich beständig an der Seite des hart auftretenden hochgewachsenen Mannes hielt, schlich, trotz ihrer unbeholfenen Bewegungen so leise einher, als wäre sie von den Flügeln einer das Licht scheuenden Fledermaus getragen worden.

Vor der Eingangsthür des Hinterhauses angekommen, erstieg Beltram sogleich die nach oben führende Treppe, es seiner Mutter anheimstellend, ihm in einiger Entfernung nachzufolgen. Als diese bei ihm eintraf, hatte er bereits die Bureauthüre aufgeschlossen und so weit nach innen gedrückt, daß die eiserne Sicherheitsstange von der Krampe glitt, jedoch nicht tiefer sank, als die sie tragende Schnur gestattete.

Eine Weile lauschten Beide mit angehaltenem Athem; das Knirschen des Schlosses und der Stangen hatte sie erschreckt; Alles um sie her blieb still, für sie das Zeichen, schnell einzutreten und die Thüre hinter sich zu verriegeln. Beltram zündete darauf seine Blendlaterne an, doch bevor die beiden würdigen Verwandten ihren Gang durch die Bureauräume antraten, entledigten sie sich ihrer Schuhe. Ein flüchtiger Blitz aus der Laterne auf die nächste Thüre vergewisserte sie über die einzuschlagende Richtung, und in derselben Weise, wie sie in das zweite Gemach gelangt waren, erreichten sie auch das dritte, in welchem Beltram sich am heimischsten fühlte und ihn nur noch eine Thür von Alvens' Cabinet trennte.

Hier nun reichte er seiner Mutter die Laterne, sie zugleich anweisend, wie sie dieselbe, um ihm zu nutzen, zu halten habe. Vorsichtig öffnete er die letzte Thür, worauf er den Vorhang so weit zurückschob, als nothwendig war, den auf geringem Umfang beschränkten Schein der Laterne nach jedem beliebigen Punkte des Cabinets entsenden zu können. Nachdem er das runde Lichtfeld auf eine besondere Thüre des Schreibtischaufsatzes gerichtet und seiner Mutter noch einmal die größte Aufmerksamkeit eingeschärft hatte, trat er in das Cabinet ein. Unhörbar, wie seine Füße den dicken türkischen Teppich berührten, glitt auch der bereit gehaltene Schlüssel in die ihm bestimmte Oeffnung und schlug das Thürchen zurück.

Beltram stand seitwärts, so daß er die Beleuchtung nicht störte, – zugleich aber zwischen den vor ihm liegenden Papieren zu suchen und zu wählen vermochte. Ein Theil seines Gesichtes wurde von dem Lichtstrahl getroffen, wodurch dasselbe einen Ausdruck erhielt, daß jeder andere Mensch, als gerade seine im Laster verhärtete Mutter, hätte von Grausen ergriffen werden müssen. Sein Gesicht war todtenbleich; es prägte sich auf demselben Alles aus, was er empfand; der unauslöschliche Haß gegen seinen Brodherrn, wie die krankhafte Sehnsucht nach dem ihm in unbestimmten Formen vorschwebenden unabhängigen Leben und die seine Sinne fast verwirrende Furcht vor Entdeckung. Der Schweiß perlte ihm auf der Stirne; die nicht mehr durch Brillengläser geschützten Augen zeigten, trotz ihrer Unstetigkeit, eine gewisse Starrheit, und fest bissen die Zähne auf die unnatürlich in die Breite gezogenen Lippen. Eine gefährliche Entschlossenheit sprach aus seinen Bewegungen; er rief den Eindruck hervor, als ob er nicht gezögert haben würde, im entscheidenden Augenblick eine Katastrophe herbeizuführen, in welcher er seine Freiheit mit seinem Leben verkaufte.

Seine Mutter, auf den Knien liegend und den Lichtstrahl sorgfältig lenkend, achtete nicht auf das Aussehen ihres Sohnes. Den Oberkörper vorn über geneigt, den Mund geöffnet und mit scheinbar aus ihren Höhlen quellenden Augen bewachte sie die Hände, die zwischen den Papieren kramten. Der aus den Luftlöchern der Laterne sich hervorstehlende Schimmer traf ihr Gesicht von unten, demselben, durch die seltsame Vertheilung von Schatten und Licht, den äußeren Character eines entsetzlichen Todtenkopfes verleihend, in welchem nur noch die teuflisch stierenden Augen von der allgemeinen Verwesung verschont geblieben. –

Mehrere Minuten suchte Beltram zwischen den Papieren; dann zog er einen zusammengefalteten Bogen hervor, welchen er nach flüchtiger Prüfung in seine Brusttasche schob. Er wollte eben die Thür wieder schließen, als ein schmerzlicher Seufzer sein Ohr traf und ihn veranlaßte sich nach seiner Mutter umzuschauen.

Diese nämlich, sobald sie inne wurde, daß ihr Sohn, anstatt nach Geld oder Geldeswerth zu greifen, sich mit einem Blatt Papier begnügte, schien ihre letzte Lebenskraft verloren zu haben. Ein wahrhaft scheußliches Bild darbietend, stützte sie sich mit der linken Hand auf den Fußboden, während sie mit der rechten schwankend und zitternd die Laterne hielt.

Beltrams Augen sprühten bei diesem Anblick; seine Zähne knirschten hörbar aufeinander; seine Faust streckte sich aus, wie um die Frau an der Kehle zu ergreifen, dann aber legte er die gespreizten Finger an die Klingelschnur, als hätte er den festen Willen gehabt, das ganze Haus zu alarmiren.

Ein noch schmerzlicherer Seufzer, als der erste, entwand sich der Brust seiner Mutter, und sie war wieder seine willenlose Sklavin.

Auf seinen Wink ließ sie das Lichtfeld so weit herumgleiten, bis es die Thüre des Wandschrankes traf, und nur noch ein leises Zittern des hellen Kreises auf der dunkeln Tapete verrieth hinfort, daß die wahnsinnige Gier, sich fremdes Gut anzueignen, marternd und quälend in ihr fortlebte.

Etwas länger, als er sich am Schreibtisch aufgehalten hatte, dauerte es, bis er die gesuchten Papiere aus dem Wandschrank herausfand. Dann aber begab er sich zu seiner Mutter zurück den Vorhang behutsam niederlassend und ebenso die Thür herandrückend.

Wie eine Berauschte leistete die alte Megäre Folge, als Beltram sie anwies, den Rücken dem verhangenen Fenster zugekehrt, vor den Sophatisch zu treten und den begrenzten Schein auf die Stelle fallen zu lassen, auf welcher Papier und Schreibzeug zum sofortigen Gebrauch bereit lagen. Er selbst setzt sich auf das Sopha, und die beiden zuletzt entwendeten Briefe vor sich auseinander breitend, begann er mit großer Schnelligkeit sie zu copiren.

Beide Briefe, von derselben Hand geschrieben, waren in sehr bestimmten Ausdrücken abgefaßt. Der erste, von älterem Datum, sprach davon, daß es ein großes Glück sei, wenn noch ein Nachkomme der verstorbenen Frau Werth lebe, und daß weder Mühe noch Geld gespart werden sollten, denselben zu entdecken.

In dem anderen Briefe dagegen, der kaum vierzehn Tage alt, war die innigste Freude darüber ausgedrückt, daß es den Bemühungen Alvens' gelungen sei, die einzige überlebende Tochter der Frau Werth aufzufinden. Dann wurde Alvens' Vorschlag: die Vormundschaft über die junge Waise zu übernehmen, gebilligt, woran sich der unverhohlen erklärte Wille schloß, derselben ein Unterkommen zu verschaffen, wie es den Plänen, welche der Verfasser des Briefes mit ihr habe, entspreche, und wo sie Gelegenheit finde, ihre bereits genossene sorgfältige Erziehung in glänzendster Weise zu vervollständigen.

»Die Hoffnung, eine Spur von dem armen Eberhard zu entdecken, habe ich leider nach unsäglicher Mühe aufgeben müssen,« hieß es in dem Briefe weiter, »sogar bis nach Australien dehnte ich meine Forschungen aus, allein Alles vergeblich. Ich beklage die armen Eltern und bedaure zugleich, daß sie ihre alte, patriarchalische Lebensweise änderten, anstatt meinen redlichen und wohlgemeinten Wünschen Rechnung zu tragen. Gegen Noth sollen sie stets geschützt sein, allein meine ohnehin schwache Absicht, noch einmal nach Europa zurückzukehren, ist durch ihr räthselhaftes Benehmen vollständig erschüttert worden. Wer weiß, ob ihnen ein Wiedersehen überhaupt angenehm wäre, um so mehr, da sie den Verlust ihres Sohnes mit soviel Störrigkeit wenigstens mittelbar mir zur Last legen. Sprechen Sie mit ihnen nicht mehr über mich, als gerade nothwendig, dagegen fahren Sie fort, nach gewohnter Weise Bericht über sie zu erstatten.

»Vereinsamt, wie ich dastehe, und im Besitz eines mehr, als ausreichenden Vermögens, beglückt es mich wahrhaft, in Anna Werth Jemand gefunden zu haben, auf den ich meine zärtlichste Liebe und mit dieser die Früchte meines langjährigen Arbeitens übertragen kann. Meinen Namen nennen sie ihr vorläufig nicht; dagegen mögen sie dieselbe allmälig mit dem Gedanken aussöhnen und vertraut machen, nach Amerika überzusiedeln. Welche Formen Sie wählen, die junge Waise – die nach Ihrer Schilderung sehr schön und liebenswürdig sein muß – für die Reise über den Ocean zu stimmen, stelle ich Ihrem Ermessen anheim; als letzter Ausweg bleibt die offene Erklärung, daß ich nur ihr Glück wolle und sie als ein heiliges Vermächtnis ihrer verstorbenen Mutter betrachte. Sie wird das Verhältniß leicht begreifen, wenn sie erfährt, daß der Ihnen übergebene Brief ihrer Mutter mittelbar an mich gerichtet gewesen. Ich würde Sie bitten, ihre Uebersiedelung umgehend einzuleiten, ich meine, bevor das junge unschuldige Herz Jemand gefunden, der ihre Trennung von der Heimath erschwert; allein der unglückselige Krieg, dieses gegenseitige Hinschlachten der Bürger eines mächtigen Staates, die gänzliche Unsicherheit von Gut und Leben lassen mir den jetzigen Zeitpunkt als ungeeignet erscheinen. Sollte indessen meine junge Adoptivtochter, und adoptiren werde ich sie unstreitig, die geringste Neigung verrathen, sich mir früher zuzugesellen, so sollen ihre Wünsche allein maßgebend sein. Mag kommen, was da wolle, ich hoffe im Stande zu sein, alle Fährlichkeiten von ihr abzuwenden; Sie glauben nicht, welche Macht das Geld in diesem Lande besitzt. In dem eben angedeuteten Falle müßte man aber sehr vorsichtig in der Wahl eines Reisebegleiters sein; auch hierbei kommen die zu verwendenden Mittel nicht in Betracht, wenn ich dafür die Freude genieße, das theuere Kind wohlbehalten bei mir eintreffen zu sehen. Schreiben Sie mir recht bald und ausführlich, wie Sie das Kind untergebracht haben und wie es die ihm erwiesenen Freundlichkeiten aufnimmt. Redsteel, wenn Sie mit ihm betreffs der Geldübermittelung correspondiren, sagen Sie nichts von unserem Schützlinge; ich gedenke, ihn zu seiner Zeit, wenn eine Täuschung nicht mehr möglich, zu überraschen. Eine gewisse Scheu, mit manchen Leuten zusammenzutreffen, in deren Beurtheilung ich mich so sehr irrte, hält mich ab, die heimathliche Erde wieder zu betreten, ich wäre sonst im Stande, trotz meiner nicht ganz festen Gesundheit, meinen Schützling selbst zu holen.«

Hier folgten einige Höflichkeitsformeln, welche Beltram mit seiner über das Papier hinfliegenden Feder mehr andeutete, als niederschrieb, worauf er die Copie nach der Vorlage mit dem Namen »Braun« unterzeichnete.

Etwa eine halbe Stunde hatte er zu seiner Arbeit gebraucht. Theils vor innerer Aufregung, theils weil die auf die Briefe beschränkte Beleuchtung ihn blendete, hatten seine Augen die Farbe einer heftigen Entzündung angenommen. Die vorspringende Stirne glänzte unter den niederrieselnden Schweißtropfen, und feucht und strähnig drängte sich das ungeordnete Haar unter der alten, großschirmigen Mütze hervor. Die Hand glitt mit unglaublicher Gewandtheit über das Papier, die Feder kritzelte, den entstehenden Zeilen aber folgten die Blicke der alten Megäre mit einem Ausdruck nach, als wäre jeder neue Buchstabe ein Goldstück gewesen, welches ihr Sohn, den sie zugleich haßte und fürchtete, einem ihm in Aussicht stehenden unermeßlichen Schatze beifügte.

»Fertig,« flüsterte Beltram, tief aufseufzend, indem er den Punkt hinter das »Braun« setzte. Dann faltete er die Originalbriefe wieder zusammen, worauf er mit den Copien in ähnlicher Weise verfuhr, diese aber zu dem geheimnißvollen Document in die Brusttasche schob. Seine Blicke begegneten denen seiner Mutter, und in deren geisterhaften Geberden eine stumme Bitte um geraubtes Geld lesend, zog er das Document hervor, es halb entfaltet emporhebend.

»Ahnst Du, was dies ist?« zwängte es sich giftig zwischen den wulstigen Lippen hervor, »Du kannst es nicht ahnen, denn Deine Gedanken reichen nicht über unser kümmerliches tägliches Brod hinaus! Meine Freiheit ist es, welche ich durch Dich verlor! Dir wäre es vielleicht willkommen, hinter Schloß und Riegel Dein Leben sorgenfrei zu verbringen – aber noch bin ich da, und jetzt erst weiß ich, was die Freiheit bedeutet! Er hat mich lange genug gemartert und bis auf's Blut gequält, aber auch für mich gearbeitet hat er, für mein Glück – sage ich Dir! Und weißt Du, was das heißt?«

In seiner wachsenden Wuth und im Eifer, sich der Mutter verständlich zu machen, war er emporgesprungen sein Gesicht dem ihrigen so nahe bringend, daß sogar sie, wie von innerem Grauen befallen, scheu zurückwich.

Beltram holte tief Athem und wollte weitersprechen als das dumpfe Geräusch durch das Haus schallte, mit welchem der geöffnete Flügel des Portals in's Schloß geworfen wurde. Er erbleichte und schien sich kaum noch auf seinen schlotternden Knieen aufrecht erhalten zu können. Seine Mutter prallte zurück, als wäre sie einer Ohnmacht nahe gewesen.

»Wer kann es sein?« flüsterte Beltram unter der lähmenden Wirkung des Schreckens, »er beabsichtigte spät heimzukehren – er kommt die Treppe herauf – er ist's! Schnell, Mutter, den Lichtschein richte auf den Wandschrank, und nicht gerührt, bis ich zurück bin, noch ist es nicht zu spät!«

Bei den letzten Worten hatte er bereits die Thür geöffnet und den Vorhang zur Seite geschlagen; der Lichtkreis tanzte auf dem Wandschrank, und mit einer Gewandtheit und Schnelligkeit, die in seltsamem Widerspruch zu der langen, engbrüstigen Gestalt standen, legte er die beiden Briefe auf dieselbe Stelle, von welcher er sie fortgenommen hatte.

Gleich darauf schlich er behutsam an seiner Mutter vorbei; aber noch bewegte sich der Vorhang, noch war die Thür nicht herangedrückt, als die Schritte des heimkehrenden Alvens aus dem an das Cabinet stoßenden Vorzimmer herübertönten. Ein Schlüssel klirrte, mit scharfem Geräusch wich ein Riegel aus seiner Haft, und in der nächsten Minute fiel ein schmaler Lichtstreifen unter dem Vorhange hindurch in Beltrams Arbeitszimmer.

Die beiden Eindringlinge befanden sich in einer für sie furchtbaren Lage, denn Alvens brauchte nur den Vorhang zu lüften und die angelehnte Thür etwas weiter zu öffnen, um beim Schein der von ihm getragenen und bereits im Vorzimmer angezündeten Kerze sogleich einen vollen Anblick seines gewissenhaften Geheimsecretairs und seiner Mutter zu erhalten. Beide waren nämlich erst bis an Beltrams Schreibtisch gelangt, als die drohende Gefahr sie hinderte, eine weitere Bewegung zu ihrem Entkommen auszuführen; konnte doch das zufällige Berühren eines der auf dem Fußboden umherliegenden Papierschnitzel, das Streifen eines Thürpfostens oder der Wand mit den Kleidern Alvens veranlassen, sich von der Ursache des Geräusches zu überzeugen, welches dann zum Verräther an ihnen wurde.

Mit angehaltenem Athem, den Oberkörper lauschend dem Cabinet zugeneigt, standen sie da. Der Schieber der Blendlaterne war geschlossen, damit aber nicht zufrieden, hatte die Mutter den Zipfel ihres Umschlagetuches noch ganz über dieselbe gedeckt. Beltram stütze sich, wie um seinen schlaffen Körper vor dem Umsinken zu bewahren, mit der rechten Hand auf den Schreibtisch; in derselben befand sich eine große Papierschere, welche er, wenn zur Verzweiflung getrieben, sicher in der verderblichsten Weise als Waffe gebraucht haben würde.

So weit sollte es indessen nicht kommen.

Ein lustiges Liedchen vor sich hinsummend war Alvens eingetreten, und nachdem er die Thür hinter sich abgeschlossen hatte, begab er sich an seinen Schreibtisch, behutsam über denselben hinleuchtend, ob nicht ein Blättchen Papier oder eine Notiz, welche er den Augen Beltrams zu entziehen wünschte, liegen geblieben sei.

Er kam offenbar aus einer heiteren Gesellschaft, denn immer munterer klang die von ihm gesungene Melodie; seine sorglose Fröhlichkeit erreichte zuletzt einen so hohen Grad, daß er halb singend seine Gedanken laut aussprach, sich gleichsam Glück wünschend zu den schlau erdachten Plänen und den schönen Erfolgen, welche jene unausbleiblich krönen mußten. Gewährte es seinem Herzen doch einen hohen Genuß: das, was er am ängstlichsten in seine Brust verschloß, auch einmal laut ausgesprochen zu hören, ohne deshalb Verrath befürchten zu brauchen. Und dabei war es ein so guter Wein, welchen er an diesem Abend getrunken hatte, ein Wein, der die Lebensgeister anregte, die heitere Laune zum Uebersprudeln reizte, ohne den Kopf zu beschweren und zu verdumpfen oder gar die Nachtruhe zu stören.

»Höchstens vier Monate oder ein halbes Jährchen und die Sache ist zum Abschluß gelangt,« ertönte es so munter, daß die Bilder an den Wänden und der dreibeinige Lehnstuhl, von der unstäten Beleuchtung getroffen, vor lauter Vergnügen wackelten; »und ist sie erst zum Abschluß gelangt, dann gute Nacht Acten und Prozesse, gute Nacht Clienten und wer weiß, was sonst noch. O, Du schlauer, glücklicher Bruder Alvens! Wer hätte gedacht, daß Du noch einmal in eine so glänzende Lage einrücken würdest! Meine Schulden bezahlt; eine junge, schöne Frau; mit Hunderttausenden speculirt, wie jetzt mit Tausenden; dem Hunde von Beltram mit einigen Thalern und dem Pact den Mund gestopft und zum Teufel gejagt! O Du lieber, Du guter Alvens, was könnte Dein Herz sonst noch wünschen?

»Denn, das Gold ist nur Chimäre«

sang er lustig, indem er sich nach dem Schlafzimmer begab.

»Nur Chimäre ist das Gold.«

drang es noch einmal gedämpft durch die geschlossene Thüre bis in Beltrams Arbeitszimmer.

Beltram seufzte tief auf; mit leisem Klirren fiel die Schere auf den Tisch und gleichzeitig öffnete seine Mutter den Schieber der Laterne. Beide sahen sich gegenseitig starr in die Augen; zu sprechen vermochten sie nicht, ihnen war, als hätten ihr Pulse stillgestanden.

Flüchtigen Fußes begaben sie sich in das letzte Gemach. Dort erst löschten sie die Laterne aus, nachdem sie zuvor ihre Fußbekleidung angezogen und Beltram die Thür aufgeschlossen hatte. Unhörbar schlichen sie hinaus, die Mutter voran, während der Sohn so lange zurückblieb, wie er Zeit gebrauchte, die Thür von Außen zu versichern.

Unbemerkt gelangten sie auf den Hof. Es schlug gerade halb drei Uhr. Ueber den Hausflur eilte Beltram wieder mit sicheren und festen Schritten, wie Jemand, der zur frühen Stunden zur Arbeit geht. Ebenso schlug er auch den Thorweg hinter sich zu, nachdem er seine Mutter etwa zwanzig Schritte weit voraus geschickt hatte.

Die Atmosphäre, hatte sich noch mehr verdichtet; als undurchdringlicher Schleier ruhte der Nebel auf der stillen Stadt; Kraniche, Enten und Gänse zogen in langen Reihen über dieselbe hin; sie waren frühzeitig aufgebrochen, mit durchdringendem Schrei und heiserem Geschnatter sich gegenseitig zur langen Reise beglückwünschend. Ob eine Stadt, Meer oder Wald unter ihnen lag, kümmerte sie nicht, sie sahen nur den Nebel und freuten sich über die Stille und Sicherheit, welche in demselben wohnte.

»Der Hund von einem Schreiber wird zum Teufel gejagt, nachdem man ihm einen Knochen hingeworfen,« wiederholte Beltram zähneknirschend Alvens' letzte Worte und seine Hand suchte mechanisch das gefährliche Document in seiner Brusttasche. Dann lachte er heiser, und seine Schritte verlängernd, gesellte er sich seiner enttäuscht einherkeuchenden Mutter zu. –

Am folgenden Morgen betrat der fleißige Geheimsecretair ungewöhnlich früh die Bureauräume. Alles lag und stand noch so, wie er es am vorhergehenden Tage verlassen hatte; selbst die eiserne Stange war noch nicht angerührt worden, so daß er nur die Schnur zu lösen brauchte, um dem Zimmer seinen gewöhnlichen äußeren Character zu verleihen. Bis zum Eintreffen der anderen Schreiber dauerte es noch ein Weilchen; eine Kehrfrau mußte vorher unter Beltrams Aufsicht die übliche Reinigung vornehmen, und dann erst gewann der gewissenhafte Geheimsecretair Zeit, sich mit allem Eifer den ihm übertragenen Arbeiten hinzugeben.

 


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