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In der geräumigen Marmorhalle des St. Nikolas-Hotel, in der Ecke einer sehr bequemen, gepolsterten Bank saß Raft und schlief. Er schlief ruhig und fest, unbekümmert darum, daß in seiner Nähe Gläser klirrten, Männer geräuschvoll sprachen und unausgesetzt eine oder mehrere der über seinem Haupte angebrachten zahlreichen Klingelzüge ihre die Nummer des entsprechenden Gemachs tragenden Türchen aufklappten. Er schlief ruhig und fest; hatte er doch so manches liebe Mal die ihm zufallenden Stunden der Rast verträumt, wenn über ihm der Donner rollte, der Sturmwind durch das Tauwerk heulte und die schäumenden Wogen auf der ändern Seite seiner Bettwand unheimlich rauschend brandeten, wie hätte ihn da das wirre Gasthofsleben zu stören vermocht?
Er schlief mit der Absicht, die Zeit bis zur Ankunft Wea- thertons, von dem er sich auch auf dem Festlande nicht trennen mochte, auszufüllen; und da er sich einmal vorgenommen hatte zu schlafen, so gehörte auch Weathertons Stimme dazu, ihn zu ermuntern, etwa wie auf dem Meere, wo das Schlagen der Ablösungsstunde oder das »alle Hand« Pfeifen des diensttuenden Bootsmannes ihn aus einer totenähnlichen Erstarrung zum Leben zurückzurufen vermochte, wenn alle Posaunenengel des jünsten Gerichts ihre Wangen vergeblich bis zum Zerplatzen aufgeblasen hätten, um ihn zu wecken.
Übrigens muß zur Ehre der zahlreichen ab- und zugehenden Gäste eingeräumt werden, daß alle mit einer gewissen Achtung auf den alten schnarchenden Seemann schauten und sorgfältig vermieden, ihn zu stören, und daß niemand sich einfallen ließ, vielleicht sich auf Kosten desselben zu belustigen.
Jim Raft erwartete also seinen Lieutenant Dickie; er hatte ihn in der Tat schon seit Stunden erwartet, und sich deshalb so hingesetzt, daß er von demselben bei seinem Eintritt sogleich bemerkt werden mußte.
Daß er gerade so saß, hatte seine Vorteile, aber auch seine Nachteile, denn die Person, die vor dem Portal auf dem mit glatten Fliesen belegten Vorplatz langsam auf und ab schritt und den Bootsmann kaum eine Minute aus den Augen ließ, schien eben nicht die freundlichsten Absichten und Gefühle gegen denselben zu hegen, und nichts mehr zu fürchten, als von ihm entdeckt und seiner besonderen Aufmerksamkeit gewürdigt zu werden.
Diese Person war der Graf, der hier auf Wunsch des allmächtigen Abraham schilderte und den Posten eines gewöhnlichen Spions versah, oder, was seinen Ohren vielleicht angenehmer klang: der sich zum Recognoszieren in Feindesland mitten ins feindliche Lager gewagt hatte.
Eine ziemlich langweilige Aufgabe, allein der Graf, dessen schwache Seiten den schlauen Mormonen nicht lange ein Geheimnis geblieben, unterhielt sich vortrefflich mit dem Verrauchen von Abraham's besten Havanna-Zigarren, und dieselben schmeckten um so besser, als in einem abgesonderten Nebengemach, so daß er nicht jedesmal bei dem gefürchteten Seemanne vorüberzuschreiten brauchte, ein edler Wein zu seiner ausschließlichen Verfügung auf Eis gestellt worden war.–
Er hatte sich nach einer sehr philosophischen Betrachtung und nach einem mißtrauischen Seitenblick auf Jim Raft wieder einmal in das kleine Gemach verfügt, und war eben im Begriff, die Neige aus der Flasche in ein großes Glas zu gießen, als ein Aufwärter sich zu ihm gesellte und, nachdem er scheu hinter sich geblickt, ihm ein versiegeltes Paketchen überreichte.
Der Graf nahm das Schreiben entgegen, las die Aufschrift: »Ordre für den Lieutenant Weatherton«, worauf er dem Aufwärter durch eine herablassende Gebärde zu verstehen gab, daß er seiner nicht weiter bedürfe.
Dieser lächelte mit unverschämt vertraulichem Ausdruck, als wenn er in dem Grafen nur seinesgleichen vor sich gehabt hätte, und schnell dicht zu ihm herantretend, zog er einen Brief aus der Brusttasche, welchen er ihm mit gewandter Bewegung und dem Zeichen des Stillschweigens in die Hand drückte.
Der Graf war überrascht und wollte fragen, von wem der Brief herrühre, allein der Kellner war schon wieder verschwunden.
Mechanisch las er die Aufschrift, er glaubte, derselbe sei, gleich der aus Weatherton's Gemach entwendeten Durchsuchungsordre, für Abraham bestimmt. Um so mehr wunderte er sich daher, seinen eigenen Namen und das Wort »eilig« zu entdecken.
Ohne Zögern erbrach er das Siegel, und aus dem geöffneten Couvert fielen ihm zwei besondere Schreiben entgegen. Das eine war verschlossen und trug die von einer Damenhand zierlich ausgeführte Adresse: »An den Lieutenant Weatherton«, während das andere offene an ihn selbst gerichtet war.
»Nur einem erfahrenen Soldaten durfte ein so wichtiger Auftrag erteilt werden, deshalb, Herr Graf, werdet Ihr die unzeremonielle Art freundlichst entschuldigen, in welcher man Euch die nötigen Mitteilungen macht«, las der Graf, indem er sich mit einem beifälligen Kopfnicken stolz emporrichtete. Die Form des Briefes sagte ihm zu, und mit einer graziösen Bewegung führte er das volle Glas an die Lippen.
Nachdem er das leere Glas wieder auf den Tisch gestellt und die beiden kleinen, schwarzen Haarbüschel auf seiner Oberlippe noch kühner emporgeschraubt hatte, fuhr er fort zu lesen:
»Wir befinden uns in Feindesland, und wo uns die Macht mangelt, müssen wir zur Kriegslist unsere Zuflucht nehmen.«
»Ganz richtig«, unterbrach sich der Graf, sich noch mehr in die Brust werfend, worauf er weiter las:
»Alles hängt davon ab, daß unsere Anordnungen auf das Pünktlichste ausgeführt werden. Die strengste militärische Disziplin herrscht in unseren Reihen; Ihr werdet dies finden, wenn Ihr erst in Euern umfangreichen Wirkungskreis eingetreten seid. – Ob zur Zeit, wenn Ihr diesen Brief erhaltet, Weatherton schon nach seinem Hotel zurückgekehrt ist, oder nicht, werdet Ihr wissen. Befindet er sich noch außer dem Hause, so erleichtert das Eure Aufgabe. Ihr erwartet ihn dann, um dem grimmigen alten Bootsmann auszuweichen, auf der Straße. Händigt ihm beiliegenden Brief ein und bietet Euch an, ihn dahin zu begleiten, wohin der Brief ihn ruft. Ein Weltmann, wie Ihr, führt sich mit Leichtigkeit bei einem anderen Gentleman ein. Sagt ihm, die Dame, die Euch um Beförderung des Briefes gebeten hat, befinde sich an Bord eines Hudson-Dampfers, um mit Tagesanbruch nach dem Westen abzureisen. Geht alsdann mit ihm nach dem Werft hinunter, nach derselben Stelle, auf welcher Ihr vor vier Tagen auf seine Ankunft harrtet. Mitten auf dem Werft werdet Ihr einen weißen Fleck bemerken. Es liegt dort Mehl, welches dem Anschein nach aus einem zerrissenen Sacke verloren gegangen ist. Laßt ihn also auf den weißen Fleck treten und seine Blicke genau gegen Westen richten. Er wird dann eine grüne und eine rote Laterne entdecken. Dieselben bezeichnen das Dampfboot, auf welchem die bewußte Dame ihn erwartet. Ihr weigert Euch weiter mitzugehen, er kann den Weg von dort aus bequem ohne Führer finden. Euer Freund wird sich, nachdem Weatherton sich entfernte, zu Euch gesellen und Euch an Bord des California-Dampfers begleiten. Wundert Euch über nichts, seid vorsichtig und verschwiegen, denn wir befinden uns in Feindesland. A.«
»Sehr richtig«, sagte der Graf, als er die letzten Worte gelesen hatte, und erfüllt von der Wichtigkeit seines Auftrages reckte er sich noch höher empor, wobei er seine niedergedrückten Vatermörder wieder gerade zupfte.
Da mochte er sich plötzlich der Schreckensgestalt des schlafenden Bootsmannes erinnern, denn er sprang schnell nach der Tür hin und ließ, behutsam um den Türpfeiler herumlugend, seine Blicke durch die schon leerer werdende Halle schweifen.
Jim Raft saß noch immer in seiner Ecke und schlummerte. Weatherton konnte also noch nicht heimgekehrt sein.
Kaum gewahrte dies der Graf, so schlüpfte er auch schon durch das Portal hinaus ins Freie, um dort, wie ihm geheißen worden war, der Ankuft des Lieutenants entgegenzusehen.–
Wohl eine Stunde mochte er schon wieder geschildert haben, eine Stunde, die er gewiß viel lieber wer weiß wo, als gerade dort, zugebracht hätte, da weckte ihn Falk's Stimme gar barsch aus seinen ehrgeizigen Träumen, in welchen er als Diktator des Mormonenstaates eine unumschränkte Gewalt ausübte.
Erschreckt fuhr er zusammen, denn für ihn hatte des Künstlers tiefe wohlwollende Stimme, so lange er denselben kannte, immer etwas unangenehm Drohendes gehabt. Er beruhigte sich indessen schnell wieder, als er ihn mitten auf der Querstraße zwischen dem St. Nikolaus- und Dietz's Hotel, entdeckte, wo er eben im Begriff stand, sich mit den herzlichsten Worten von Weatherton zu verabschieden.
Seine Befürchtungen, daß Falk den neugewonnenen Freund ganz nach Hause begleiten würde, erwiesen sich als grundlos; denn nachdem beide noch einmal näher zusammengetreten waren und in leiserem Tone einige Worte miteinander gewechselt hatten, wendete Falk sich den Broadway hinauf, während Weatherton schnellen Schrittes gerade auf den Grafen zukam.
Er wollte, da er den Grafen nicht kannte, vorübereilen, als dieser ihm mit einer höflichen Verbeugung den Weg vertrat und zugleich fragte, ob er die Ehre habe, mit dem Seelieutenant Weatherton zu sprechen.
»Weatherton ist mein Name«, antwortete der Offizier, die den gebildeten Mann bezeichnende Begrüßung nicht minder höflich erwidernd.
»Dann verzeiht meine Störung«, fuhr der Graf in derselben verbindlichen Weise fort, indem er den Brief hervorzog; »mein Auftrag gestattet keine Zögerung, obgleich ich nur sagen kann, daß er von einer mir nicht bekannten jungen Dame herrührt, die morgen schon bei Tagesanbruch auf einem Flußdampfboot ihre Reise nach dem Westen antritt.«
»Von einer jungen Dame, und nach dem Westen?« fragte Weatherton erstaunt, indem er den Brief öffnete und dicht an die nächste Laterne herantrat.
»Es ist dies die einzige Nachricht, welche zu erteilen ich im Stande bin«, antwortete der Graf, »es soll mir indessen zur besonderen Ehre gereichen, Euch bis dahin zu begleiten, wo man von mir die Dienste eines Gentlemans wünschte. Ich vermute nämlich, daß der Inhalt des in Euern Händen befindlichen Schreibens mir noch weitere Pflichten auferlegt.«
»Morgen schon treten wir unsere Reise nach dem fernen Westen an«, las Weatherton erwartungsvoll. »Ich löse ein gern gegebenes Wort, indem ich Euch benachrichtige, daß ich bis gegen ein Uhr in der Damenkajüte des Columbus, der um sieben Uhr abfährt, zu finden sein werde. Die Lage des Schiffes kann Euch der freundliche Herr, der so bereitwillig die Beförderung dieses Briefes übernahm, am besten bezeichnen. H. J.«
»Nicht weit mehr von zwölf Uhr«, sagte Weatherton hastig, sobald er den Brief zu Ende gelesen hatte; »also nur noch eine Stunde; gestattet mir die Frage, Herr, liegt der Columbus sehr entfernt von hier?«
»Wenn Ihr unter Columbus das Boot meint, auf welchem sich die mutmaßliche Schreiberin dieses Briefchens einschiffte, so liegt derselbe nicht ganz nahe. Ich mache mir indessen ein besonderes Vergnügen daraus, Euch nach dem Werft hinunter zu begleiten und Euch die Lage so genau zu bezeichnen, daß Ihr nicht irren könnt.«
»Es wäre zu viel verlangt –«
»Keine Entschuldigungen, Herr Kamerad«, unterbrach der Graf den Lieutenant wohlwollend, indem er einen ängstlichen Seitenblick nach dem Hotel zurücksandte, wo er in jedem Augenblick den schrecklichen Bootsmann zu erblicken befürchtete; »auch ich bin ein alter Offizier, und ein Kamerad soll dem andern gegenüber kein Opfer scheuen, noch weniger jeden kleinen Freundschaftsdienst gleich auf die Waagschale legen. Kommt, Herr Kamerad, die Zeit entflieht«, und so sprechend schob er mit unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit seinen Arm durch den Weatherton's und drängte ihn freundlich der nach dem Wasser hinunterführenden Querstraße zu.
»Ich nehme Euer Anerbieten mit dem größten Dank an«, entgegnete Weatherton mit Wärme, »ja, ich muß es annehmen, denn es handelt sich hier nicht um eine zärtliche Zusammenkunft, wie es Euch vielleicht scheinen mag, sondern um wichtigere Angelegenheiten. Jedenfalls hoffe ich, daß uns das Geschick so wunderbar zusammengeführt hat, um den Grund zu einem dauernden freundschaftlichen Verkehr zwischen uns zu legen.«
»Es wird eine Ehre für mich sein«, erwiderte der Graf, seine Schritte noch beschleunigend, um seine Verlegenheit zu verbergen; denn daß es gerade ein Offizier war, den er ohne Zweifel hinterging, entsprach doch nicht so ganz seinen Gefühlen.
»Morgen soll es mein Erstes sein, Euch aufzusuchen«, bemerkte Weatherton nach einer Weile des Schweigens.
»Bemüht Euch nicht, wenn ich bitten darf«, antwortete der Graf, jetzt aber schon wieder mit mehr Leichtigkeit, weil er sich erinnerte, daß er zu der verabredeten Zeit von den Wogen des atlantischen Ozeans geschaukelt werden würde; »an mir ist es, unsere junge Bekanntschaft fester zu knüpfen, und wenn es Euch genehm ist, so speise ich morgen bei Euch zu Mittag. Ihr habt ja gewissermaßen die Verpflichtung, mir zu Ehren einer Flasche Champagner den Hals zu brechen«, fügte er in vornehm tändelnder Weise hinzu.
»Ein Mann, ein Wort!« sagte Weatherton, seine innere Erregung hinter einer erheuchelten Sorglosigkeit verbergend.
Es war das Letzte, was sie längere Zeit hindurch miteinander sprachen. Sie gingen zu schnell, um eine zusammenhängende Unterhaltung führen zu können; außerdem war jeder zu sehr der Wirkung der auf ihn einstürmenden Gedanken unterworfen.
Weatherton befand sich im Geiste schon bei Hertha, und vernahm von ihr die Gründe für ihr rätselhaftes Verschwinden und demnächstiges plötzliches Auftauchen, während der Graf sich vergeblich bemühte, das dunkle Gewebe der Mormonen zu durchdringen und die Zwecke zu erraten, zu welchen man ihn in diesem Augenblick benutzte. –
Der Baron hatte sich unterdessen nach der Stelle hinbegeben, die ihm von den Mormonen bezeichnet worden war, und zwar nach derselben Werftüberbrückung, nach welcher der Graf, laut der an ihn gerichteten brieflichen Verhaltungsbefehle, den Lieutenant Weatherton führte.
Seine Instruktionen mußten sehr genau gewesen sein, denn er schritt geraden Weges auf den weißen Fleck zu, dessen in dem Briefe als verschüttetes Mehl erwähnt war und welcher sich bei der dem späten Aufgange des Mondes vorauseilenden Helligkeit und dem flackernden Laternenücht weithin auszeichnete.
Kaum zwei Fuß weit von dem Zeichen entfernt und oben auf den Planken ruhend, lief ein mächtiger Tragebalken an der Seite der vorspringenden Überbrückung hin, die nicht von schwarzen Schiffswänden, sondern von einer Reihe hölzerner Schuppen begrenzt wurde.
Die Schuppen waren nur zur Tageszeit bewohnt und dienten zu Schänken, Bäckerladen und Tabak- und Zigarrenhandlungen, wurden also zur Nachtzeit nur dem Schutz der Hafenwachen überlassen, die wieder darauf rechneten, daß der Inhalt derselben zu wenig wertvoll sei, einen ehrlichen Menschen, und noch viel weniger einen Dieb von Profession zum Einbruch zu verlocken.
Der Bequemlichkeit halber waren dicht vor diesen Buden, wo also die zwischen den Schiffen und den Lagerhäusern vermittelnden Lastkarren nicht darüber hinrollten, mehrere Falltüren in die Überbrückung hineingezimmert worden, von welchen steile, leiterähnliche Treppen bis zum Wasserspiegel niederführten. Dieselben dienten dazu, mittels Booten auf kürzestem Wege und auf am wenigsten kostspielige Art, Waren nach den Schuppen zu schaffen, wurden aber auch hin und wieder dazu benutzt, kleine Ladungen von Contrebande, oder vielmehr heimlich von den Matrosen und Steuerleuten eingebrachte Güter von den Schiffen unbemerkt unter das Werftpublikum zu paschen.
Die zum Aufschlagen eingerichteten Türen hingen auf der einen Seite in starken eisernen Angeln, während sie auf der entgegengesetzten Seite von einer Überfallkrampe und einem davorgeschobenen eisernen Keil gehalten wurden.
Ob nun durch Zufall oder mit Absicht, der Baron, umgaukelt von den süßesten Zukunftsträumen, nahm sich nicht die Mühe, darüber nachzudenken, war das Mehl gerade auf einer dieser Türen verstreut worden, was ihm den sichersten Beweis lieferte, daß er Abraham vollkommen verstanden, dieser dagegen seinen Scharfsinn nicht überschätzt habe.
Der Schein der nächsten Laterne drang nur matt bis zu ihm hin; er konnte sich daher mit Leichtigkeit zwischen den Buden den spähenden Augen einer sich vielleicht zufällig dorthin verirrenden Hafenwache entziehen, was ihm keine geringe Beruhigung gewährte, indem er schon von seiner Heimat her eine unüberwindliche Scheu vor allen Feinden des nächtlichen Unfugs mitgebracht hatte.
Zu welchem Zweck er eigentlich dorthin gesendet worden war, vermochte er nicht recht zu ergründen; sein Vertrauen zu den neuen Freunden war indessen so groß, daß er sich fest vorgenommen hatte, durch die pünktlichste Befolgung und Ausführung der ihm erteilten Aufträge sich ein ähnliches Vertrauen zu erwerben.
Nachdem er also ein sicheres Versteck ausgekundschaftet hatte, ging er noch einmal nach der mit Mehl bestreuten Falltür zurück; vorsichtig zog er den Keil aus der Krampe, und eben so vorsichtig legte er den Überfallring zurück, wobei er den an ihn ergangenen Warnung, der Tür nicht zu nahe zu kommen, eingedenk war. Als er sich dann überzeugt hatte, daß der Ring von selbst nicht mehr zufalle, begab er sich wieder nach seinem Versteck, um von dort aus den Dingen, die da folgen sollten, geduldig entgegenzuharren.
Er erwartete nichts anderes, als daß Leute von unten die Falltür heben und auf der Oberwelt erscheinen würden, und in seinem Glauben wurde er bestärkt, als er nach einer Weile tief unter sich ein plätscherndes Geräusch vernahm, wie wenn jemand ein Boot leise zwischen den festeingerammten kolossalen Trägern hindurchsteuere.
Hätte er die Falltür genauer untersucht, so wäre es ihm vielleicht nicht entgangen, daß alle Schrauben, welche die Angeln mit dem Holze verbanden, herausgezogen, die vorspringenden Latten aber, auf welchen die Tür außerdem noch ruhte, weggesplittert worden waren. Hätte er aber sogar unter die Tür zu blicken vermocht, so würde er zu seinem Entsetzen die Entdeckung gemacht haben, daß, nachdem von dem geheimnisvollen Boot aus eine sinnig angebrachte haltbares Stütze behutsam entfernt worden war, die ganze Last, wie der schwere Deckel einer Mausefalle, nur durch zwei gebrechliche Stäbe von dem Hinunterstürzen bewahrt wurde.
Doch er ahnte dergleichen ja nicht und hielt daher seine Blicke so harmlos auf die kleine Mehlfläche geheftet, als wenn es die letzten Zuckerüberreste eines eben verzehrten Apfelkuchens gewesen wären, und einmal über das andere Mal murmelte er mit unbeschreiblicher Selbstzufriedenheit vor sich hin: »Famoses Dasein, verschleierte Frauen«, und was sonst noch für phantastische Bilder seiner Seele vorschweben mochten.–
Die Mitternachtsstunde war vorüber, öder und stiller wurden die Straßen, und nur noch selten widerhallten zwischen den nächsten Häuserreihen die Schritte einsamer Fußgänger.
Der Baron wurde schläfrig; er hatte auf einer zwischen den Schuppen angebrachten Bank Platz genommen. Fröstelnd seinen weiten Überrock dichter um sich zusammenziehend, ließ er das Haupt auf die Brust sinken, und bald darauf befand er sich in einem behaglichen Mittelzustand zwischen Träumen und Wachen.
Plötzlich traf das Geräusch von Schritten, die sich eilig näherten, sein Ohr. Da er aber von der Straße her niemand erwartete, sondern nur dem Heben der Falltür entgegensah, so ließ er sich in seinen Träumen nicht stören, noch weniger veränderte er seine bequeme Lage. Der scharfe Ton, mit welchem die Stiefel auf die Steine fielen, verwandelte sich in den dumpfen Hall, wie ihn hohlliegende Bretter von sich geben, wenn man über dieselben hinschreitet, doch der Baron rührte sich nicht.
Das Geräusch verstummte endlich dicht vor ihm, und erschreckt schaute er empor.
Ungefähr fünf Schritte von ihm entfernt, auf der entgegengesetzten Seite der Falltür, erblickte er zwei Männer, deren Umrisse, bei der doppelten Beleuchtung der langsam über den Horizont emporsteigenden Mondsichel und der abwärts stehenden Laterne, sich ziemlich genau verfolgen ließen. Anfangs erkannte der Baron keinen von beiden; als aber Weatherton sprach und gleich darauf der Graf antwortete, da wußte er, daß sie es seien, auf die zu harren man ihn angewiesen hatte.
Er strengte sich an, zu erraten, was nun zunächst vor sich gehen würde. Die Falltür hatte er vergessen, indem er es für selbstverständlich hielt, daß die beiden Männer durch dieselbe auf die Überbrückung gelangt seien, dabei vergaß er aber nicht, daß ihm das tiefste Schweigen und möglichste Unbeweglichkeit zur strengsten Pflicht gemacht worden waren.
»Ich vermag in der Tat nicht weit um mich zu schauen«, sagte Weatherton ungeduldig.
»Tretet nur einen Schritt weiter vor«, versetzte der Graf beruhigend, »und wendet Eure Blicke zwischen den Schuppen hindurch, genau gegen Osten; Ihr werdet dann eine grüne und–«
»Verräter!« rief Weatherton aus, denn die Tür war unter ihm gewichen, und krachend und polternd stürzte er in die Tiefe hinab.
Mehr als dieses einzige Wort brachte er nicht über die Lippen, denn er war im Sturz mit dem Kopf so heftig auf die Planken aufgeschlagen, daß er die Besinnung verlor; aber das Geräusch von aufspritzendem Wasser und plätschernden Wellen drang durch die gähnende Öffnung und erfüllte die am Rande derselben stehenden Genossen mit nie gekanntem Entsetzen und der gräßlichen Todesangst.
Sie schienen zu Leichen erstarrt zu sein, so bleich und regungslos schimmerten ihre vom Monde spärlich beleuchteten Physiognomien. Doch wie das Entsetzen sie anfänglich geistig und körperlich gelähmt hatte, so rief dasselbe Entsetzen sie schnell wieder zum Bewußtsein ihrer eigenen gefährlichen Lage.
»Ich hätte mit hinabstürzen können«, flüsterte der Graf, förmlich zerschmettert über die Tat, zu deren Ausführung man ihn wie ein willenloses Werkzeug gebraucht hatte.
»Man kommt«, versetzte der Baron, zitternd vor Furcht.
Der Graf lauschte. Er vernahm, daß ein Mann sich vollen Laufes näherte, er erkannte des alten Bootsmannes Stimme, der laut ausrief: »Dickie! halte Dich, mein Kind! ich komme!« und die Knie drohten unter ihm zusammenzubrechen.
»Wir werden als Mörder verhaftet werden!« keuchte er mühsam heraus.
»Hierher! hierher!« flüsterte der Baron dringend, indem er den Grafen mit Gewalt zwischen die Schuppen drängte, und kaum hatten sie sich in ihr ziemlich sicheres Versteck zurückgezogen, da kam auch schon Jim Raft herbeigestürmt, daß die Plankeen der Überbrückung unter ihm dröhnten.
Mitten auf der Brücke, etwa zehn Schritte weit von der Falltür blieb er stehen.
»Dicke! Dickie! Kind! Junge, wo bist du? antworte deinem armen Jim!« rief er angstvoll aus, und seine heisere Stimme bebte, indem er sich nach allen Richtungen hin umschaute.
Da fielen seine Blicke auf die Öffnung und auf die goldverbrämte Mütze, welche dicht neben derselben lag.
»Dickie! mein armer Dickie! sie haben ihn ermordet!« schrie er mit so wilder Verzweiflung, daß es den zitternden Lauschern durch Mark und Bein ging. Im nächsten Augenblick stand er vor der Öffnung, und nachdem er sich durch kurzes Betasten von der Stellung der niederführenden Leiter überzeugt, stieg er mit der Gewandtheit einer Katze in das finstere, unterirdische Reich hinab, fortwährend in klagendem Tone den Namen desjenigen ausrufend, den er gewissermaßen als ein Stück von seinem eigenen Leben betrachtete.–
Der Graf und der Baron hatten bis jetzt kaum zu atmen gewagt; als aber der Bootsmann in der Öffnung verschwand und sie gleichzeitig das Plätschern eines sich schleunigst entfernenden Bootes vernahmen, da erwachte das Gefühl der Selbsterhaltung mit doppelter Gewalt in ihnen.
»Wir müssen fort, eh' sich mehr Menschen hier ansammeln«, sagte der Baron, seinen Mund dem Ohr des Grafen nähernd.
»Ja, fort«, entgegnete dieser ebenso leise, »ich bin unschuldig, aber nichts in der Welt vermöchte unsere Unschuld zu beweisen«.
»Auch ich bin unschuldig«, stöhnte der Baron, und behutsam schlichen sie im Schatten der Schuppen hin, bis sie die Straße erreichten. Noch war niemand zu sehen, von dem sie Verrat zu befürchten gehabt hätten. Sie wendeten sich daher schnell der Richtung zu, in welcher sie den California- Dampfer wußten.
Nach Verlauf von zehn Minuten wurden sie am Fuße der Treppe, die nach dem bezeichneten Dampfboot hinaufführte, von Jansen mit einer Laterne empfangen.
Sie hatten sich zwar vorgenommen, diejenigen, von denen sie mißbraucht worden waren, über ihr Verfahren zur Rede zu stellen; allein als sie vor dem finstern Mormonen standen, da erstarben ihnen die Worte auf den Lippen. Sie fürchteten sich selbst zu verraten, indem sie den gräßlichen Vorfall laut erwähnten, und wenn auch außer Jansen keine lebende Wesen sie in Hörweite umgaben, so waren doch die schwarze Schiffswand, die Treppe, ja die Planken, auf welchen sie standen, da, die ihre Angaben hätten verstehen und weiter tragen können.
Ehe Jansen sie anredete, weidete er sich wohl eine Minute lang an ihrem verstörten Aussehen, welches ihm mehr als zur Genüge bewies, daß Abraham's schlau angelegte Pläne, die er selbst nicht einmal in ihrem ganzen Umfange kannte und auch schwerlich gebilligt haben würde, vollständig geglückt, und alle blindlings in die ihnen gestellte Falle gegangen seien.
»Wo sind die Papiere, welche der Kellner im St. Nicolas-Hotel Euch übergab?« fragte er mit sehr wenig Förmlichkeit, dem Grafen seine Hand entgegenhaltend.
»Hier sind sie«, antwortete dieser kleinlaut, die versiegelte Durchsuchungsordre darreichend.
Jansen zerbrach das Siegel und warf einen Blick auf das Papier.
»Es ist gut«, sagte er, sobald er sich von der Richtigkeit desselben überzeugt hatte. »Zeigt mir doch auch Abraham's Brief«, fuhr er in demselben gebieterischen Tone fort.
Der Graf zögerte, er wußte selbst nicht warum. Die Ahnung einer unbekannten Gefahr schien vor seinem Geiste aufzusteigen.
»Ich will den Brief sehen, um mich zu überzeugen, welcher Art die Dienste waren, die Abraham von Euch verlangte«, wiederholte Jansen ernster und dringender, »ich hoffe, Ihr seid nicht mißbraucht worden«.
»Mißbraucht, auf die niederträchtigste Art«, preßte der Graf heraus, indem er den verlangten Brief darreichte. »Überzeugt Euch, in dem Schreiben steht es deutlich und klar; o, die Folgen unserer Bereitwilligkeit waren fürchterlich«.
»Das ist allerdings schlimm«, versetzte der Mormone, der den ganzen Zusammenhang ahnte, mit erkünstelter Ruhe, den Brief, nachdem er ihn eine Weile in den Schein der Laterne gehalten, in seiner Faust zusammenknitternd.
Der Graf erbleichte, er hatte das letzte Mittel, wodurch seine Unschuld an dem Morde bewiesen werden konnte, törichter Weise hingegeben.
»Der Brief gehört mir«, sagte er mit gehobener Stimme, Jansen einen Schritt nähertretend.
Ruhig, ruhig, meine Freunde«, unterbrach ihn der Mormone, »laßt die Deckwache nicht zu viel von Euren Erlebnissen hören, es möchte Euch sonst der Weg nach Kalifornien abgeschnitten werden. Wir befinden uns noch immer im Lande unserer Feinde; tröstet Euch über das, was Ihr in allzu großem Eifer für unsere gute Sache getan, und fügt Euch in's Unvermeidliche. Vor Euch liegt ein edles Ziel, hinter Euch Kerker und Galgen«.
Wie spitze Stacheln drangen Jansen's Worte in die Brust der beiden Unglücklichen ein; allein eine innere Stimme sagte ihnen, daß ihnen nur übrig bleibe, sich so weit als möglich von einem Orte, wo ihnen ein so furchtbares Verbrechen zur Last gelegt werden konnte, zu entfernen und, wenigstens vorläufig, noch nicht von der einmal eingeschlagenen Bahn abzuweichen.
Mechanisch und ohne Worte zu verlieren, folgten sie daher Jansen die Treppe hinauf. Als sie oben ankamen, befahl der Mormone einem dort harrenden Neger, sie nach der zweiten Kajüte in die für sie bestimmten Kojen zu bringen.
»Zweite Kajüte?« fragten der Graf und der Baron wie aus einem Munde.
»Ja, zweite Kajüte, der Ersparnis wegen«, antwortete Jansen laut; sich dann aber ihren Ohren zuneigend, flüsterte er: »Ihr werdet einsehen, daß nach dem, was vorgefallen ist, Ihr nicht in derselben Kajüte mit unseren Damen reisen dürft. Ihr gelangt dort ebenso schnell nach Kalifornien wie wir. Nehmt aber noch meinen Rat, und haltet Euch hübsch verborgen, wenigstens so lange, bis wir den Hafen hinter uns haben. Im Fall einer Entdeckung seid Ihr für uns unbekannte Leute. Gute Nacht!«
Mit diesen Worten schritt Jansen davon.
Der Graf und der Baron standen wie vom Blitz getroffen da, und kaum ihrer Sinne noch mächtig, folgten sie dem Neger endlich nach. Ihre Träume, ihre Hoffnungen und ihre unberechtigte Eitelkeit waren in Nichts zusammengefallen. Sie hatten darauf gerechnet, die glänzende Rolle anmaßender Herren zu spielen und ihre neuen Brotherren allmählich zu knechten, und sie waren zu deren willenlosen Werkzeugen, zu Sklaven herabgesunken.