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Während in der Matrosenschänke Jim Raft die Gesellschaft mit der Schilderung des Unterganges der schwedischen Brigg unterhielt und demnächst den beiden Mormonen nachspähte, saßen auf dem Quarterdeck des Leoparden Hertha Jansen und Demoiselle Corbillon, deren Erzieherin, in vollen Zügen den zauberischen Abend genießend, der sich mit der, jenem Himmelsstriche eigentümlichen, milden Frische auf den Hafen und die Stadt senkte.
Verschieden, wie die Empfindungen sein mochten, welche die teils liebliche, teils großartige weitere Umgebung in den Seelen der beiden Auswanderinnen erweckte, war auch ihre äußere Erscheinung. Sie bildeten in der Tat einen seltsamen Kontrast zueinander, der um so krasser und hervortretender wurde, je länger man die beiden dicht nebeneinander sitzenden Gestalten betrachtete. Ja, man gelangte dabei unwillkürlich zu der sehr naheliegenden Vermutung, dass das Geschick sie mit der neckischen Absicht zusammengeführt habe, die Vorzüge der einen dadurch in ein helleres Licht zu stellen, die Mängel der ändern dagegen in gleichem Grade hervorzuheben.
Hertha, ein junges Mädchen von kaum siebzehn Jahren, zeigte nämlich das entzückende Bild unschuldvoller, eben erschlossener Jungfräulichkeit, die, auf der äußersten Grenze des Kindesalters angelangt, schüchtern und befangen über jene Grenze hinüberblickt.
Ihre Gesichtszüge hatten nur edle Formen und Linien, dabei jene üppige Fülle und Zartheit, wie sie gewöhnlich nur der zartesten Jugend eigentümlich; doch vermißte man den Ausdruck schalkhafter Fröhlichkeit, der so häufig aus den Kinderjahren, auf längere oder kürzere Zeit, mit in das reifere Alter hinübergekommen wird.
Ihre großen blauen Augen besaßen etwas Schwärmerisches, man hätte sagen mögen, Schwermütiges; wenn sie aber lächelte, dann war es, als ob ein Sonnenblick das ganze liebliche Antlitz erhelle und noch nie ein schmerzlicher, ernster Gedanke hinter demselben gewohnt habe. Es war das Lächeln eines Kindes, ein inniges, glückliches Lächeln, welches man auf ewig hätte festbannen mögen; und doch war sie auch wieder so schön, wenn sinniger Ernst auf der reinen Stirn thronte und jene wunderbare Schwärmerei aus ihren Augen strahlte.
Ganz entgegengesetzt nahm sich dagegen Demoiselle Corbillon aus, eine hagere Französin, mit kleinen, lebhaften braunen Augen und scharfen Zügen, deren Alter in den unbestimmten Zeitraum zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig fiel, aber, allem Anschein nach, letzterer Zahl näher wie der ersteren sein mußte. Ihre Haltung war gerade und steif, wie die eines radschlagenden Pfauen, mit welchem ihr, betrachtete man den farbenreichen Überfluß an seidenen Gewändern, Schleifen, Halsketten, Armspangen und sonstigen Schmuckgegenständen, eine große Ähnlichkeit nicht abgesprochen werden konnte. Überhaupt zeichnete sie sich durch eine geschmackvolle Überladung von allen möglichen zur Toilette gehörenden Kleinigkeiten aus, die offenbar den größten Teil ihrer ganzen irdischen Habe bildeten, wie Hertha gerade durch ihre sinnige Einfachheit angenehm berührte. Sie mußte einst, in der Blüte ihrer Jugend, nicht ohne Reize gewesen sein; allein die langjährige Gewohnheit, dieselben zur Schau zu tragen und durch auffallende Stoffe und den ebenso auffallenden Schnitt ihrer Kleider Aufsehen zu erregen, wie auch die ohnmächtigen Versuche, dem zerstörenden Einfluß der Zeit siegreich zu begegnen und unwiederbringlich Verlorenes durch Kunst zu ersetzen, hatten ihrem ganzen Wesen etwas so Geziertes und Gezwungenes verliehen, daß man bei ihrem Anblick nicht wußte, ob man mehr Widerwillen empfinden, oder mehr dem Lachreiz Folge geben sollte.
Daß sie einem so jungen, unschuldvollen Mädchen zur Begleiterin und Lehrerin beigegeben worden war, ließ sich vielleicht nur durch ihre Kenntnis der französischen und englischen Sprache erklären. Und dennoch würden Hertha's Eltern, hätten dieselben noch gelebt, um eine Entscheidung zu treffen, jedenfalls gezögert haben, ihre Tochter der Leitung einer Person anzuvertrauen, deren Einfluß auf ein junges unverdorbenes Gemüt sich nur zu leicht als gefährlich und verderblich ausweisen konnte.
Demoiselle Corbillon's Einfluß auf Hertha war indessen ganz entgegengesetzt dem gewesen, welchen ein klarblickender und überlegender Freund des heranwachsenden Kindes vielleicht zu befürchten sich bewogen gefunden hätte.
Das junge Mädchen hatte mit Eifer und Leichtigkeit gelernt, was die Erzieherin zu lehren vermochte, war aber im Übrigen ganz den eigenen Neigungen gefolgt und allmählich zu einer lieblichen, mit allen Vorzügen des Herzens und der Seele begabten Jungfrau herangereift.
Daß Demoiselle Corbillon ihre Schutzbefohlene beständig wie ein Kind behandelte und, um sie nicht neben sich selbst als erwachsen hinzustellen, weniger auf Beobachtung der im geselligen Verkehr von ihr für maßgebend erachteten Formen drang, mochte ein Glück gewesen sein; dafür aber war es um so leichter geworden, das harmlose Kind der neuen Lehre des Mormonentums in die Arme zu führen, wie es kurz vorher schon mit ihrer einzigen, nach dem Salzsee übergesiedelten und dort verheirateten Schwester geschehen, und worin Demoiselle Corbillon ihr mit gutem Beispiel vorangegangen war.
Der gänzliche Mangel an näherstehenden Verwandten und Freundinnen und die Abgeschiedenheit, in welcher sie auf der Besitzung ihres verstorbenen Vaters gelebt hatte, so weit man für ratsam gehalten, ihr dieselbe zu erklären, zuwandte und in ihr das zu finden meinte, was ihr in allen Lagen des Lebens eine sichere und treue Stütze gewähren würde. Die etwas exaltierten Briefe ihrer Schwester, die ihr vom Salzsee aus zugegangen waren, die ernsten Gespräche mit dem fanatischen Bruder ihres Vaters und dem listigen und berechnenden Vormunde, die beide schon den amerikanischen Kontinent auf kurze Zeit besucht hatten, ferner deren Schilderungen der Verfolgungen, welche die Mormonen seit der ersten Gründung ihrer Kirche erduldet, bestätigten sie in ihrem Glauben und boten ihrem regen Geist reichen Stoff zum Nachdenken. Sie betrachtete sich selbst schon mit als eine Märtyrerin der neuen geläuterten Lehre, und es gehörte endlich nicht viel Überredung dazu, sie zu dem Entschluss zu veranlassen: nach Verkauf des ihr und ihrer Schwester zugefallenen sehr beträchtlichen Erbteils, sich der Gemeinde der »Heiligen der letzten Tage« am Salzsee zuzugesellen, in deren ungestörtem Verkehr sie das irdische Paradies zu finden erwartete. –
Die Sonne berührte eben die höchsten Giebel einiger Häuser, und wie eine blutrote Scheibe lugte sie durch den über der Weltstadt lagernden Steinkohlendunst zu dem Leoparden hinüber.
Hertha war versunken im Anschauen der leiblichen, wechselvollen Einfassung des umfangreichen Hafenbek- kens, während Demoiselle Corbilkm ihre stechend lebhaften Blicke mit einem Ausdruck erwartungsvoller Neugier bald auf die verworrenen Häusermassen richtete, bald auf den mit der Reinigung des Verdecks beschäftigten Seeleuten rasten ließ.
Ein tiefer Seufzer Herthas veranlaßte die Gouvernante, sich ihrer Pflegebefohlenen zuzuwenden, und ein mitleidiges Lachern umspielte ihre schmalen Lippen, als sie in deren Augen Tränen gewahrte, die nach ihrer Ansicht nur in einer kindischen Furcht ihren Ursprung haben konnten.
»Vorwärts, richte Deine Blicke, mein Kind«, sagte Demoiselle Corbillon mit einer theatralischen Handbewegung gegen Westen, wo der letzte Rest der geröteten Sonnenscheibe zwischen den rauchenden Häuserhaufen wie ein wunderbarer Meteor glühte und leuchtete und purpurne Strahlen bis zum Zenit hinauf sendete.
»Ja der Sonnenuntergang ist prachtvoll«, versetzte Hertha, mit den Augen der angedeuteten Richtung folgend.
»Nicht den Sonnenuntergang meine ich dieses Mal«, unterbrach die Gouvernante das junge Mädchen, wobei sie den Mißmut, den sie über dessen Enthusiasmus empfand, nicht verhehlte. »Ich wollte Deine Gedanken dahin lenken, wo unsere Heimat, das gelobte Land, liegt. Auch dort geht die Sonne unter, und zwar prachtvoller und majestätischer, als hier für die Gentiles. Deine Bewunderung wird reiner, edler sein in der Mitte der Heiligen der letzten Tage, und deshalb sagte ich: Vorwärts richte die Blicke, und nicht zurück auf das ewige Sodom und Gomorrha.«
»Warum sollte die Sonne sich vor den Ungläubigen in geringerem Glänze zeigen, als vor den Gläubigen?« fragte Hertha mit einem leisen Vorwurf im Ton ihrer Stimme. »Ich bin dankbar für die Offenbarungen, welche uns durch unsere Propheten zu Teil geworden, ohne Denjenigen zu zürnen, welchen die neue Lehre bis jetzt fremd blieb. Auch glaube ich nicht, daß der Mormonismus dergleichen gebietet, bis jetzt wenigstens weiß ich nur, daß die Nächstenliebe mit zu seinen Hauptgeboten gehört. Und wären die Getiles nicht gewesen«, fuhr sie hocherrötend fort, denn indem sie auf die auf dem Vorderteil des Schiffes beschäftigten Seeleute wies, hatten ihre Blicke die hohe, kräftige Gestalt des Lieutenant Weatherton gestreift, »ja, dann – dann lägen wir jetzt auf dem Boden des Meeres gebettet.«
»Und dennoch bleiben es Ungläubige«, versetzte Demoiselle Corbillon, den Kopf verächtlich zurückwerfend, denn das Erröten des jungen Mädchens war ihr nicht entgangen, wie sie auch den Grund desselben ahnte. »Hier strecken sie den Bekennern der geläuterten Lehre hilfreich die Hand entgegen, um sie an einer anderen Stelle dafür mit doppelt durchdachter Bosheit zu verfolgen. Wer weiß, ob sie sich herbeigelassen hätten, uns Rettung zu bringen, wäre es ihnen bekannt gewesen, daß die Mehrzahl der Passagiere Mormonen seien –«
»Nicht doch«, unterbrach Hertha, mit sonst an ihr nicht gewöhnlicher Heftigkeit, ihre Gouvernante, »sie sind uns beigesprungen, weil wir Menschen waren, die am Rande des Verderbens standen, ohne zu fragen, wer wir seien und woher wir gekommen sind, wie es nicht nur einem Christen und Mormonen, sondern sogar auch einem Heiden geziemt –«
»Und dennoch bieten sie jetzt alles auf, um unsere heilige Gemeinde zu vernichten, wie sie einst den Tempel in Nauvoo zerstörten. Das Wachsen unserer Gemeinde flößt ihnen Besorgnis ein; sie fürchten den großen Anhang, welchen unsere Propheten unter allen Völkern gewinnen, und sehen in Gedanken schon das Mormonentum über den ganzen Erdball verbreitet, als die allein seligmachende und regierende Religion; und deshalb, mein liebes Kind, gerade deshalb wünschen sie, das üppig wuchernde, wahre Wort Gottes im Keime zu ersticken.«
»Der Ausbruch eines Krieges kann freilich nicht mehr fortgeleugnet werden«, sagte Hertha traurig, »allein ich hoffe noch immer mit Zuversicht, daß unsere Feinde in sich gehen und die in frommer Überzeugung dargereichte Hand nicht zurückweisen. Es wäre zu grausam; nein, Gott kann es nicht wollen, daß unsere Gemeinde von Neuem verfolgt werde, und zwar nur, weil die Bekenner unseres Glaubens jetzt schon nach vielen Tausenden zählen; unser Wachstum ist doch kein Verbrechen!«
»Und dennoch geschieht es nur deshalb«, eiferte Demoiselle Corbillon, und der Zorn färbte ihre sonst so bleichen Züge dunkelrot; »sie räumen den wahren Grund indessen nicht ein, und bedienen sich des Vorwandes, daß unsere heiligen Gebräuche, die schon zu der Patriarchen Zeiten geheiligt waren, gegen die Gesittung verstießen und deshalb nicht geduldet werden dürften. Sie wollen uns zwingen, den in unserem Glaubensbekenntnis enthaltenen Hauptvorschriften zu entsagen, weil durch dieselben eine gewisse Gleichheit hergestellt wird, und nicht mehr die mit irdischen Glücksgütern gesegneten Menschen allein die wahren, von Gott selbst eingesetzten irdischen Freuden genießen!«
»Unsere Gebräuche?« fragte Hertha befremdet, indem sie ihre großen unschuldvollen Augen auf ihre erbitterte Gefährtin heftete; »welche unserer Gebräuche sind es denn, die aus den Patriarchenzeiten herstammen und in so hohem Widerspruch zu allen übrigen christlichen Gebräuchen stehen, daß sie auf solche Weise angefeindet werden dürften?«
Demoiselle Corbillon biß sich auf die schmalen Lippen. Sie fühlte, daß sie im Eifer zu weit gegangen war und einen Gegenstand berührt hatte, der sie selbst zwar vorzugsweise dazu bestimmte, der neuen Lehre zu huldigen, aber auf alle Fälle den Ohren des jungen Mädchens fern gehalten werden mußte. Diese Entdeckung rief eine solche Verlegenheit bei ihr hervor, daß sie im ersten Augenblick gar nicht wußte, wie sie die Frage beantworten sollte, und deshalb, um ihre Verwirrung zu verbergen, sich abwendete.
»Wenn ich von Gebräuchen sprach«, sagte sie endlich nach einer längeren Pause, »so bezog ich mich auf die Zeremonien des Taufens, ferner auf die patriarchalische Art der Gottesverehrung und auf die Stellung unserer Propheten, welche, zugleich religiöse und politische Oberhäupter unserer Gemeinde, für die vollständige Gleichberechtigung aller Mitglieder, der Armen wie der Reichen, einstehen. Wir sollen ja eine einzige große Gemeinde von Brüdern und Schwestern bilden.«
»Und dies erscheint in den Augen der Gentiles so gefährlich, daß sie für nötig halten, unser armes Volk mit Krieg zu überziehen und uns auf gehässige Art zu verfolgen?« fragte Hertha zweifelnd. »Ich kann es mir nicht erklären, denn auch unter ihnen gibt es edeldenkende Menschen, denen man, ich bin davon überzeugt, nur die Reinheit unserer Lehre auseinanderzusetzen brauchte, um sie nicht nur duldsam zu stimmen, sondern sie auch in unsere Freunde umzuwandeln, die bereitwillig ihre ganze Beredtsamkeit aufbieten würden, das Unheil von uns abzuwenden und Blutvergießen zu verhüten. O, meine liebe Corbillon, der Mormonismus lehrt eine unerschütterliche Zuversicht in Gott, und es wäre sündhaft, an seiner Barmherzigkeit und der Erhörung unserer innigen Gebete zu zweifeln.«
»Denjenigen, mein Kind, welche Du edeldenkende Menschen nennst, und die als unsere Verteidiger auftreten möchten, wird man keinen Glauben beimessen«, erwiderte die Gouvernante mit einer energischen Handbewegung, und ihre Blicke suchten verstohlen Weatherton's hervorragende Gestalt; »man wird in ihnen gefährliche und verächtliche Mormonen entdecken, bei denen es nur eines geringen Anstoßes bedarf, mit ihren Gesinnungen offen vorzutreten und sich taufen zu lassen. Wie würde es mich beglücken, und wie würde meine Hoffnung auf das ewige Leben sich befestigen, gelänge es mir, unserer Kirche, wenn auch nur einen einzigen Proselyten zuzuführen!« rief sie aus, und wiederum hefteten sich ihre Blicke flüchtig auf Weatherton, wobei ein tiefer Seufzer sich ihrer Brust entrang.
»Ich möchte der ganzen Welt verkünden, aus vollem, überfließendem Herzen verkünden, wie mit der Lehre des Mormonentums der wahre Seelenfriede in meine Brust eingezogen ist«, versetzte Hertha mit frommer Begeisterung, »ich möchte ihr verkünden, wie der Glaube in den Stunden der Gefahr mir eine feste Stütze gewährte, und wie er mich jetzt übersehen läßt die Beschwerden und Entbehrungen, die meiner vielleicht noch harren, eh' ich wirklich in unsere heilige Stadt am Salzsee einziehe und dort meine Schwester wieder an mein Herz schließe; aber zu einer Aufgabe, wie Sie sich eine solche wünschen, fühle ich mich zu schwach. Ich halte es für den schönen Beruf des Mannes, zu lehren und zu überzeugen –«
Hier wurde die junge Schwärmerin unterbrochen, indem auf der nach dem Quarterdeck hinaufführende Treppe die festen Schritte eines Mannes hörbar wurden und gleich darauf Weatherton, höflich grüßend, vor die beiden Damen hintrat.
Hertha's liebliches Antlitz, welches noch vor innerer Erregung glühte, erhellte sich zu einem freundlichen Willkomm; sogar aus den scharfen Zügen der Gouvernante wich der strenge Ausdruck, als sie des stattlichen Seemanns Gruß durch ein vornehm zurückhaltendes Neigen ihres mit Schleifen und Blumen phantastisch geschmückten Hauptes erwiderte.
Lieutenant Weatherton war aber auch eine Erscheinung, welche diese rücksichtsvolle Beachtung wohl verdiente, und Jim Raft, sein erster Lehrmeister, hatte nicht zu viel gesagt, als er behauptete, daß Richard oder Dickie Weatherton ihm selbst und seinem Vater alle Ehre mache.
Indem er herantretend sich vor die Damen verneigte, verschwand der ernste Dienstausdruck, welchen er vom Vorderteil des Schiffes mitgebracht hatte, plötzlich wie durch Zauber aus seiner Physiognomie und Haltung, und er bewies durch ein leichtes, gewandtes Benehmen, sowie durch die Gewähltheit in seiner Ausdrucksweise, daß die notwendige Folge des rauhen Seelebens nicht immer ein Rückschritt in der gesellschaftlichen Bildung sei.
»Nur noch eine Nacht werden die Damen die Unbequemlichkeit an Bord eines Kriegsschiffes zu ertragen haben«, begann er, nachdem er auf ein einladendes Zeichen selben einen Stuhl herbeigeholt und Hertha gegenüber Platz genommen hatte.
Hertha, an welche Weatherton's Worte vorzugsweise gerichtet waren, wollte antworten, doch kam Demoiselle Corbillon ihr zuvor.
»Die Unbequemlichkeiten auf einem Kriegsschiffe und das geräuschvolle Wesen der Schiffsmannschaft wirken in der Tat störend auf ein Gemüt, welches sich nach geistiger Ruhe sehnt«, versetzte sie, einen mißfälligen Blick nach dem Vorderdeck hinübersendend, wo mehrere vom Dienst befreiten Matrosen sich zum muntern Chorgesang vereinigt hatten, »doch je länger ich mich hier befinde, um so romantischer erscheint nur die bevorstehende Reise durch die wunderbaren westlichen Urwildnisse, um so verlockender das Ziel, welchem wir entgegeneilen. Es muß gewiß eine große Selbstverleugnung dazu gehören, die ganze Lebenszeit auf dem Wasser und in dem beschränkten Raume eines Schiffes hinzubringen. Ich denke, eine einzige Fahrt durch die so zauberisch geschilderten Prärien wäre im Stande, auch den leidenschaftlichsten Seemann in einen friedlichen Landbewohner umzuwandeln.«
Weatherton lächelte bezeichnend vor sich hin. Es war ihm nicht fremd, daß die aufgenommenen Schiffbrüchigen zum Teil dem Mormonentum anhingen, und welches Ziel namentlich Jansen und die zu ihm gehörende Gesellschaft vor Augen hatten. Er besaß aber auch einen hinlänglichen Begriff von der neuen Lehre, um einzusehen, welcher Zweck jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft in der Verfolgung des einmal eingeschlagenen Weges leitete. Leicht durchschaute er das offene, fromme Gemüt Hertha's, welches, wie ein schönes Buch, von jedem, mit dem sie in näheren Verkehr trat, aufgeschlagen dalag. Er durchschaute es um so leichter, weil die unschuldvolle, liebliche Mormonin mit ihren schwärmerischen, etwas überspannten Ideen von dem Augenblick an, in welchem sie zuerst den Fuß an Bord des Leoparden stellte, einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck auf ihn ausgeübt hatte, und jedes ihrer Worte, ja, jeder Blick von ihr eine so lange nachhaltende Saite in seiner Brust berührte. Daß das arglose Kind das Opfer einer wohlüberlegten Täuschung sei, bezweifelte er nicht, eben so wenig, daß den jugendlich überspannten Träumen dereinst ein bitteres Erwachen folgen werde. Obwohl er aber alles dieses ahnte, wagte er doch nicht, Hertha's heiteres, zufriedenes Gemüt durch das Erwecken von Zweifeln zu trüben. Überredete er sich aber, daß es seine Pflicht sei, sie über das Geschick aufzuklären, welchem sie, im vollsten Vertrauen auf den klaren Blick und die Rechtlichkeit der ihr zunächst stehenden Menschen, blindlings entgegeneile, dann scheiterten seine Pläne, sobald er ihr gegenübertrat und in ihre frommen, unschuldvollen Augen blickte. Er hätte ja ihr keusches Ohr, ihr jungfräuliches Gemüt auf das Tiefste verletzen müssen. Gegen das Mormonentum aber im Allgemeinen zu zeugen und zu eifern, das kam ihm nicht in den Sinn. Seine Versicherungen wären von Hertha doch nur für ähnliche Verleumdungen gehalten worden, wie diejenigen, von welchen Jansen und Rynolds ihr ja täglich erzählten und sogar die Beweise lieferten, und das wachsende Vertrauen, welches sie ihm so deutlich, aber unbewußt bei jeder Gelegenheit entgegentrug, wäre dadurch vielleicht unheilbar erschüttert worden.
Wenn nun Hertha's Gemüt wie ein klarer, von keinem Hauch getrübter Spiegel vor ihm lag, so war ihm noch weniger eine Seite in dem Charakter der Demoiselle Corbillon verborgen geblieben, und wo er vielleicht nicht sogleich deren Neigungen und Wünsche erriet, da trug sie in ihrer geschwätzigen Eitelkeit, wenn auch ohne es zu wollen, dafür Sorge, dieselben recht verständlich durchblicken zu lassen.
Weatherton bebte oft, wenn sie in Gegenwart des jungen Mädchens ihre Zunge nicht zu zügeln wußte, und in dem einen Augenblick sprach, was sie im nächsten widerrief, weil ihr dergleichen Erörterungen von Rynolds streng untersagt worden waren. Desgleichen Giftpfeile prallten indessen harmlos, und ohne Spuren zurückzulassen, an Hertha's reiner Seele ab; und widerte ihn auf der einen Seite die niedrige Denkungsweise der Gouvernante an, so erfreute er sich auf der andern doppelt an der bezaubernden Unschuld und der edlen Einfachheit ihrer Schutzbefohlenen. Doch mehr und begründetere Besorgnissse, als die in steife Formen gehüllte Charakterlosigkeit der Erzieherin, flößten ihm Jansen und Rynolds für Hertha's Geschick ein.
Er erkannte in Ersterem den finstern Fanatiker, in dem Andern dagegen einen gewissenlosen Bösewicht, und schwer fiel es ihm auf die Seele, daß des jungen Mädchens ganze Zukunft vorzugsweise in den Händen dieser beiden Männer ruhe. Zugleich entging es ihm aber auch nicht, daß diese sorgfältig alles vermieden, was einem unberufenen Beobachter hätte Gelegenheit bieten könne, ihnen hindernd entgegen zu treten und ihre Pläne zu durchkreuzen.
Je schwerer nun die Besorgnisse, welche ihn über die von Gefahren umgebene Zukunft Hertha's erfüllten, um so inniger und lebhafter wurde auch die Teilnahme, welche er für sie fühlte; und da ihm jeder Weg, jedes Mittel, eine Wendung in ihrem Geschick herbeizuführen, abgeschnitten war, so keimte in ihm der Entschluß, so weit es in seinen Kräften liege, über sie zu wachen, um endlich dennoch in den Besitz von Beweisen böser, selbstsüchtiger Absichten zu gelangen, welche dazu dienen konnten, sie von Rechtswegen der Macht ihrer Vormünder und mithin dem ihr drohenden dunkeln Lose zu entreißen.
Dergleichen Beweggründe leiteten ihn auch, als er Jansen und Rynolds ausnahmsweise, auf ihre dringenden Bitten, bald nachdem der Anker gefallen war, landen ließ, und als er den Bootsmann, auf dessen unerschütterliche Treue er rechnen durfte, beauftragte, den beiden Mormonen nachzuspähen.
Der Zufall war ihm zu Hilfe gekommen, dies, ohne Aufsehen zu erregen, ins Werk setzen zu können; denn da der Kapitän des Leoparden sich gleich nach ihrer Ankunft im Hafen, in Begleitung des Kapitäns und der Steuerleute der verunglückten Brigg nach der Stadt begab, so war ihm, als dem ältesten Offizier, das Kommando auf der Corvette übertragen worden, ein Umstand, für welchen er sich in diesem Augenblick mehr als jemals in seinem Leben glücklich pries. –
»O, mein Kopf!« rief Demoiselle Corbillon kläglich aus, »also auch in diesem Lande, wo ich Genesung zu finden hoffte, soll ich von Migräne verfolgt und gemartert werden?!« und sich mühsam erhebend schwankte sie der Kajütentreppe zu.
Hertha war ihr im Augenblick zur Seite, um sie zu unterstützen.
»Laß nur, mein gutes Kind«, sagte sie mit schwacher Stimme, Hertha mit dem Anstande einer Fürstin auf die Stirn küssend; »bleibe hier oben und genieße die erquickende Abendluft. Du weißt, nur ungestörte Ruhe verschafft mir Linderung; Mr. Weatherton wird es mir nicht falsch deuten, wenn ich sein gütiges Anerbieten nicht zurückweise«, und indem sie so sprach, legte sie ihren Arm durch den des Offiziers, der gleichzeitig mit Hertha zu ihrem Beistande herbeigesprungen war, worauf sie sich schwer auf ihn stützte und sich halb tragen ließ.
Nach zwei Minuten war Weatherton wieder oben, und seinen alten Platz einnehmend gewahrte er zu seiner Befriedigung, daß der Zustand der Gouvernante, welche er abermals vollständig durchschaute, Hertha keine Veranlassung zu Besorgnissen gegeben hatte.
»Die arme Corbillon!« sagte sie mit unverkennbarem Bedauern, als Weatherton ihr mitteilte, daß er die Französin bis an die Tür ihrer Koje begleitet habe; »sie leidet sehr häufig an diesen Anfällen. Obgleich ungefährlich, müssen sie doch sehr schmerzhaft sein, denn ihre Nerven sind dann so angegriffen, daß sie nicht das geringste Geräusch ertragen kann. Selbst die Gegenwart anderer Personen ist ihr peinlich, und es würde ihre Leiden noch vergrößert haben, hätte ich sie, nachdem sie meine Gesellschaft zurückgewiesen, noch begleiten wollen. Gott sei Dank, diese Anfälle vergehen ebenso schnell und plötzlich, wie sie kommen. Ruhe und ungestörtes Alleinsein sind ihre einzige und beste Arznei.
Es war schon so dunkel geworden, daß man sogar in geringer Entfernung die Gesichtszüge nicht mehr genau zu unterscheiden vermochte. Im entgegengesetzten Falle würde Hertha auf Weatherton's Antlitz ein teilnahmvolles Lächeln entdeckt haben, welches ihm die kindlich aufrichtige Weise entlockte, in der sie das arglistige Benehmen ihrer Gouvernante und ihre eigene scheinbare Teilnahmlosigkeit zu erklären suchte.
»Ich bedauere, daß wir hier an Bord so wenig Gelegenheit haben, Demoiselle Corbillon das Leben erträglicher zu machen«, bemerkte Weatherton nach einer kurzen Pause. »Sie scheint indessen Vorurteile gegen alles zu hegen, was zum Seeleben gehört; sogar mein Anerbieten, den Schiffsarzt zu ihrem Beistande herbeizurufen, wies sie mit herben Worten zurück«.
»Glaubt nicht, daß sie Vorurteile gegen Seeleute und besonders gegen den Leoparden hegt, wie es vielleicht zuweilen scheinen mag«, versetzte Hertha mit Wärme, »sie hat freilich für manchen Menschen schroffe Seiten, allein kein einziges ihrer harten Worte kommt ihr von Herzen, wohl aber ihre freundlichen. Ich kenne sie schon seit meiner Kindheit, und sage nicht zu viel, wenn ich die Behauptung aufstelle, daß sie kaum mit weniger Bedauern und Dankbarkeit von dem Leoparden scheidet, wie ich es tun werde«.
Wenn nun Hertha die Gouvernante in Schutz nahm und, mit dem ihr angeborenen Edelsinn, derselben die besten Eigenschaften beizulegen trachtete, so entging Weatherton doch nicht eine gewisse Verlegenheit, welche nur zu deutlich dafür sprach, daß sie recht oft im Leben von den Launen der Französin zu leiden gehabt habe. Er wünschte daher die Unterhaltung auf weniger peinliche Gegenstände zu lenken, und wie ein Blitz leuchtete es in seiner Seele auf, daß jetzt vielleicht die letzte ihm gebotene Gelegenheit sei, genaueres über Hertha's Zukunft zu erfahren.
»Wir Seeleute hängen mit treuer Liebe an unserem Element und an den Mitteln, mittels derer wir uns dasselbe untertan machen«, begann er, seine Blicke mit innigem Ausdruck auf Hertha's züchtige Gestalt heftend, die sich nur noch in unbestimmten Umrissen vor der weißgestrichenen Rückwand der Schanze auszeichnete; »hören wir daher von Leuten, deren Heimat nicht der ungestüme Ozean, daß sie demnach unsere Neigungen anerkennen, so stimmt uns das heiter. Wie der Besitzer eines edlen Pferdes sich freut, die Vorzüge seines Lieblings hervorgehoben und gepriesen zu hören, so freut sich der Seemann über jedes Lob, welches seinem Schiff erteilt wird. Von Euch aber so viele freundliche Worte, ein so nachsichtiges Urteil vernommen zu haben, gewinnt einen doppelten Wert, weil jeder fühlt, daß sie auf ungeschminkter Wahrheit und reiner Überzeugung begründet sind. Ihr gabt die Versicherung, Miß Hertha, Euch unserer, ich meine des Leoparden, freundlich erinnern zu wollen; mag das Geschick Euch aber hinführen, wohin es auch immer sei, die aufrichtigsten Segenswünsche derer, die Euch hier kennen lernten, werden Euch überallhin nachfolgen, und gewiß mancher hier an Bord möchte Euch auf dem langen, beschwerlichen Wege schirmend begleiten, der Euch einer unsicheren, dunklen Zukunft entgegenführt«.
»Alle Wege, die in die Zukunft führen, sind den Augen der Sterblichen verschleiert«, entgegnete Hertha, die erregt und mit der größten Aufmerksamkeit Weatherton's Worten gelauscht hatte; »blickt man aber vertrauensvoll und mit hingebendem Glauben zur Gottheit empor, dann sehnt man sich nicht, die Schleier zu lüften, welche die Zukunft verhüllen. Heiter richtet man die Blicke auf das schöne erhabene Ziel, dankbar genießt man die gebotenen glücklichen Stunden, und ohne zu murren oder zu klagen unterzieht man sich den jahrelangen Prüfungen, welche uns von dem Erlöser mit weiser Fürsorge auferlegt werden«.
»Die Prüfungen, welche das Geschick uns auferlegt, sollen wir allerdings mit Geduld und Ergebung hinnehmen«, erwiderte Weatherton, »allein es gibt Prüfungen, nennen wir es Leiden, die wir dem üblen Willen, dem Eigennutz und der Verräterei unserer Mitmenschen verdanken, und diese sind es, von welchen ich wünsche, aus tiefstem Herzensgrunde wünsche, daß sie Euch fern bleiben mögen«.
»Kein Haar fällt von Eurem Haupte ohne den Willen Gottes«, versetzte Hertha schwärmerisch, »und so hege ich auch das unerschütterliche Vertrauen, daß die Leiden, die mir vielleicht von den Menschen zugefügt werden, mir ebenfalls von dem Herrn bestimmt wurden. Betrachte ich doch den Krieg, welchen die Vereinigten Staaten unserem Volke erklärt haben, als eine Schickung von oben, um unsere, mit überraschender Schnelligkeit wachsende Gemeinde fester aneinander zu ketten und sie einmütiger in der wahren Gottesverehrung zu machen. Zürnt mir nicht, daß ich auf die Ungerechtigkeit Eurer Regierung hindeutete, aber klang es doch, als wenn Ihr von einer unbekannten, mir drohenden Gefahr sprächet«.
»Ich gedachte einer Euch drohenden Gefahr, indessen keiner Gefahr, die durch den Krieg für Euch herbeigeführt werden könnte. Die Gefahr, auf welche ich mich bezog, ist ganz anderer Art. Ich gedachte, daß Ihr vielleicht getäuscht sein dürftet, daß man Euch zum Übertritt zum Mormonentum bewegte, ohne Euch vorher mit allen in der neuen Lehre vorgeschriebenen Formen, Sitten und Gebräuchen vertraut gemacht zu haben; ich gedachte, daß, wenn Ihr erst am Salzsee weilt, wo auf viele hundert Meilen im Umkreise schwer zugängliche Wüsten Euch von der übrigen zivilisierten Welt trennen, es zu spät zur Umkehr sei, wenn Ihr vielleicht irgend etwas endecket, was im Widerspruch zu Euren Gefühlen, zu Eurer reinen Denkungsweise stände. Alles dessen gedachte ich, und Besorgnis für Euer ferneres Wohl beschlich mich«.
Als Weatherton geendigt, blickte Hertha eine Weile schweigend zu ihm hinüber, wie um die Erklärung des in seinen Worten enthaltenen Geheimnisses aus seinen kaum noch erkennbaren Zügen herauszulesen.
»Nein, Ihr gehört nicht zu den böswilligen Verleumdungen des Mormonentums«, sagte sie endlich, und ihre Stimme zitterte leise, indem sie mit bezaubernder Einfachheit Weatherton die Hand reichte; »es spricht aus Euch wahre Besorgnis und freundliche Teilnahme, für die ich Euch ebenfalls nur mit aufrichtigen Worten zu danken vermag. Eure Befürchtungen sind indessen ungerechtfertigt, und wollte ich wirklich Mißtrauen in diejenigen setzen, die vielleicht nicht ohne Einfluß auf meinen Entschluß gewesen, nämlich in meinem Onkel und in meinen Vormund, so halte ich doch Beweise in Händen, welche dafür einstehen, daß dort, wohin es mich zieht, mir kein Unheil droht, im Gegenteil, treue Liebe und Anhänglichkeit meiner warten. Glaubt mir, wenn es sich um den Frieden des Herzens und der Seele handelt, da kann eine Schwester nicht täuschen, selbst auch dann nicht, wo ein aus zärtlicher Neigung entspringender und deshalb verzeihlicher Egoismus sie alle Mittel möchte versuchen lassen, sich nach langer herber Trennung wieder mit der Schwester zu vereinigen. O, Mr. Weatherton, ich könnte Euch Briefe zeigen, Briefe, die überfließen von Glück und Zufriedenheit, und kein einziger ist unter denselben, der nicht die dringende Aufforderung enthielte, mich der Gemeinde, welcher ich im Geiste schon längst angehöre, auch in der Wirklichkeit zuzugesellen. Selbst die Spuren reichlich vergossener Tränen, welche namentlich die letzten Briefe meiner Schwester tragen,
erzählen von ihrer Sehnsucht nach mir, und von ihrem, vor innigster Dankbarkeit gegen den Erlöser, überströmenden Herzen«.
Indem Hertha sprach, war ihre Stimme immer erregter geworden. Aus ihren dargelegten Ansichten leuchtete eine so unerschütterliche Überzeugung, ein so frommer, heiliger Glaube hervor, daß Weatherton wohl einsah, er würde hier mit seinen Gründen nie durchdringen, im Gegenteil sich selbst nur in den Augen der holden Schwärmerin herabsetzen und das offene Vertrauen, mit welchem sie ihm bis jetzt seine, ihm selbst fast unerklärliche, warme Teilnahme lohnte, zerstören. Eine Art Wehgefühl zog daher in seine Brust ein, während er sich die wahrscheinlich traurige Zukunft des jungen Mädchens vergegenwärtigte und zugleich seine Ohnmacht erwog, entscheidend eingreifen zu können.
»Solltet Ihr Euch aber nicht selbst haben täuschen können?« fragte er in eigentümlich zaghaftem Tone; »sollte es nicht hauptsächlich die Sehnsucht nach der Schwester sein, was Euch dorthin treibt? Es wäre so natürlich, da sie die Einzige ist, die Euch von dem engeren Familienkreise geblieben«.
Hertha antwortete nicht sogleich; Weatherton's Worte schienen sie zu überraschen, weil sie selbst noch nie eine ähnliche Frage an sich gerichtet hatte,
»Die Sehnsucht nach meiner Schwester ist in der Tat sehr groß«, begann sie nach längerem Sinnen träumerisch und innig, »ich möchte sie unwiderstehlich nennen, denn schwere Opfer würde ich freudigen Herzens bringen, könnte ich dadurch das Wiedersehen beschleunigen. Ach, und ihr Knabe, wie gern suchte ich in seinem lieben Gesichtchen nach der Ähnlichkeit mit mir, von welcher meine Schwester schreibt – gewiß, die Sehnsucht nach den beiden Lieben hat nicht wenig dazu beigetragen, den Entschluß, auszuwandern, in mir zur Reife gelangen zu lassen, allein – eh' ich noch daran dachte, meinem Heimatslande Lebewohl zu sagen, hatte ich mich ja schon zur Lehre des Mormonentums bekannt – aber – ich bitte Euch, Lieutenant Weatherton«, fuhr sie mit einem leisen Vorwurf im Ton ihrer Stimme fort, wobei sie, um ihn nicht zu kränken, mit kindlichem Vertrauen ihm abermals die Hand reichte, »haltet ein, in dieser Weise mit mir zu sprechen und Zweifel in mir wachzurufen, die ich sonst nie kannte und die meinen Seelenfrieden zu stören drohen. Ich habe vielleicht schon mehr vernommen, als ich hätte hören sollen«.
»Weatherton ergriff die dargebotene Hand, welche Hertha ihm gerade so lange ließ, wie er sprach; er fühlte den sanften, vielleicht unwillkürlichen Druck ihrer zarten Finger, es war eine Äußerung ihrer ehrlichen, wohlwollenden Gesinnungen, und ein süßes, mit bitterer Wehmut vermischtes Gefühl trieb ihm alles Blut zum Herzen.
Ihre freundliche Bitte: nicht mehr auf einen Gegenstand zurückzukommen, der ihr peinlich zu werden schien, ließ er nicht unbeachtet, obgleich es ihn drängte, ihr mit den grellsten Farben ein Bild ihrer Zukunft zu entwerfen, wie diese beständig seinem Geiste vorschwebte. Er sah daher nur noch einen einzigen Weg vor sich offen, sie möglicherweise einem traurigen Geschick zu entreißen, nämlich, sie nach ihrer Trennung nicht aus den Augen zu verlieren und selbst in weiter Ferne, wenn auch nur einen brieflichen Verkehr mit ihr aufrecht zu erhalten.
»Und wenn wir uns nicht wiedersehen sollen«, fragte Weatherton, sobald Hertha geendigt, »und Eure freundliche Teilnahme für den Leoparden würde im Drange der Ereignisse nicht erstickt, würdet Ihr dann vor dem Gedanken so sehr erfreut, Nachricht von Euch zu geben?«
»Warum sollte ich vor einem solchen Gedanken zurückschrecken?« fragte Hertha unbefangen und treuherzig; »fühle ich doch, daß es für mich eine sehr, sehr große Freude sein würde, durch Euch Nachricht über den getreuen Leoparden zu erhalten, dem ich mein Leben verdanke. Einen andern Eurer Schiffsgenossen vermag ich nicht darum zu bitten; sie stehen mir alle zu fremd gegenüber«, fügte sie entschuldigend hinzu.
Dieses süße Geständnis, gegeben mit der natürlichen Offenherzigkeit eines Kindes und der edlen Einfachheit eines reinen Herzens, machten Weatherton erheben. Es fehlten ihm die Worte, irgend etwas darauf zu entgegnen, ohne zu viel von seinen Gedanken zu verraten, er kam deshalb noch einmal auf seinen eigenen Vorschlag zurück.
»Die Tage, die hinter uns liegen, kennen wir genau«, sagte er ernst, fast feierlich; »dagegen bleibt uns verborgen, ob nicht Ereignisse auf uns einstürmen, die es vielleicht als ein Glück erscheinen lassen, selbst in der Ferne einen Freund zu wissen, dem wir uns vertrauensvoll nähern dürfen. Möget Ihr nie in die Lage kommen, Miß Hertha, Euch von Fremden Rat einholen zu müssen; sollten indessen Verhältnisse widriger Natur, oder, nennen wir es beim rechten Namen, Unglück Euch mit Mißtrauen gegen Eure Umgebung erfüllen, und das Gefühl des Alleinstehens, der Verlassenheit in Euch zum Durchbruch kommen, dann, ja dann vor allem erinnert Euch Eurer Freunde auf dem Leoparden und des Versprechens, welches Ihr ihnen aus freiem Willen gegeben habt«.
»Ich hoffe Euch wiederzusehen, wo es auch immer sei«, antwortete Hertha, als sie sich am Fuß der Treppe von Weatherton verabschiedete. »Gute Nacht« rief sie ihm noch einmal zu, und im nächsten Augenblick war sie hinter der Kajütentür verschwunden.
Ende des ersten Teiles.