Balduin Möllhausen
Das Mormonenmädchen. Band I
Balduin Möllhausen

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4.

Die drei Mormonen

Als Jim Raft seine Faust zum Schlage gegen Falk erhob, hegte er eben nur die, nach ihrer Meinung, höchst unschuldige Absicht, sich in der Verfolgung der seiner Wachsamkeit anempfohlenen Männer nicht von der richtigen Spur abbringen zu lassen. Zu spät sah er aber ein, daß er zur Erreichung seines Zweckes gerade zu einem unrechten Mittel gegriffen hatte. Bei seinen riesenhaften Kräften wäre es ihm allerdings ein Leichtes gewesen, den Künstler, trotz dessen Gewandtheit, von sich abzustreifen und zu zermalmen; allein da er seine Blicke nicht von den in der Ferne immer mehr verschwindenden Gestalten abzuwenden wagte, so befand er sich im Nachteil. Er versuchte daher, den zufälligen feindlichen Zusammenstoß auf möglichst gütliche Art beizulegen.

»Das ist originell!« rief er aus, als er sich von Falk's Armen, wie von unzerreißbaren Schlingen umklammert fühlte.

In dem Ton seiner Stimme verrieten sich aber, trotz des aufsteigenden Zornes und der schnarrenden Rauheit, Gefühle die in so krassem Widerspruch zu seiner drohenden Gebärde standen, daß Falk dadurch beruhigt wurde und des Seemanns Worte mit einem Anflug von Humor wiederholte, ohne indessen sogleich in seinem Griff nachzulassen.

»Sehr originell«, sagte er gutmütig, sobald er bemerkte, daß er es mit keinem Betrunkenen zu tun habe und daher nur ein Irrtum obwalten könne.

»Verdammt!« entgegnete Raft, immer nach derselben Richtung hinstierend. »Ich habe Eile, und wenn Ihr ein Gentleman seid, dann werdet Ihr, eh' ich Euch würge, Eure Enterhaken von meiner Gurgel nehmen und mich eine Strecke begleiten – geschwind – geschwind, eh' sie außer Sicht sind! Hol' der Satan meine Dummheit! So anzusegeln!«

Des Bootsmanns Worte klangen so aufrichtig, daß Falk keinen Augenblick an seiner Ehrlichkeit zweifelte. »Auch ich habe Eile, von hier fortzukommen«, entgegnete er daher, seine Arme von dem Nacken seines Gegners entfernend und einen Schritt zurücktretend, »so viel Eile, daß ich Euch nicht begleiten kann.«

»Aber Ihr müßt!« rief der aufgebrachte Bootsmann schnaubend aus, und gleichzeitig griff er den Maler dicht über dem Handgelenk seines linken Armes, worauf er ihn mit unwiderstehlicher Gewalt und Eile mit sich fortzog, daß Jener beim besten Willen außer Stande war, ihm Widerstand zu leisten, wenn er nicht zu einem geräuschvollen Auftritt Veranlassung geben wollte.

Nachdem sie also ungefähr dreißig Schritte nebeneinander in vollem Lauf zurückgelegt hatten, schien Falk's Führer wieder Herr seiner selbst zu werden.

»Seht Ihr dort die Schatten an den Häusern hingleiten?« fragte er den überraschten Künstler, der allmählich ein neugieriges Interesse an seiner eigentümlichen Lage empfand.

«Die Männer dort auf jener Seite? allerdings sehe ich sie, ich müßte ja blind sein, wie ein Maulwurf«, antwortete Falk, und Raft hatte schon gar nicht mehr nötig, ihn nach sich zu ziehen.

»Das ist originell! blind wie eine gemalte Kanonenluke«, versetzte der Seemann mit unterdrückter Stimme. »Ihr seid unbedingt ein Gentleman; behaltet also mit mir zugleich jene Landpiraten in Sicht, und während wir gleichen Kurs mit ihnen steuern, will ich Euch eine Erklärung geben, wie es sich zwischen Männern geziemt.«

»Still, steht still«, ermahnte Falk seinen Begleiter nunmehr seinerseits am Arme zurückhaltend, »dort in die Haustür schlüpften sie hinein. Laßt uns nur die Pforte bewachen; wo sie hineingegangen sind, müssen sie doch endlich auch wieder herauskommen.«

»An Euch ist ein Seemann verdorben«, sagte Raft mit wirklichem Bedauern, »habt Augen wie'n durstiger Midshipman, und berechnet die Länge wie'n alter Commodore.«

So sprechend stellten sie sich im Schatten des gegenüberliegenden Hauses so auf, daß ihrer Wachsamkeit Niemand entgehen konnte, der aus der bezeichneten Tür in's Freie trat.

Mehrere Minuten verharrten sie sodann schweigend. Plötzlich schien Raft sich auf etwas zu besinnen. »Ihr seid ein Gentleman«, hob er an, »was meint Ihr, wenn wir den Kreuzknoten, den wir miteinander zu lösen haben, zu gelegener Zeit aufhöben; vielleicht bis morgen an irgend einem bestimmten Orte und zu irgend einer bestimmten Stunde?«

»Der Vorschlag ist nicht übel und ganz originell«, erwiderte Falk lächelnd, sich absichtlich Raft's Lieblingsausdrucks bedienend.

Freute Raft sich nun, auch einmal aus einem ändern Munde, als dem eigenen, das Wort »originell« zu vernehmen, oder war sein Wohlwollen für den gefälligen, gutmütigen Deutschen in so schnellem Wachsen begriffen, genug, nachdem er einige Male mit dem Kopfe genickt, versetzte er zögernd: »Sagen wir also übermorgen.«

Hier wurde ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Tür hingelenkt, in welcher drei Personen erschienen, die sich ziemlich laut unterhielten.

Raft stieß seinen Gefährten an, zum Zeichen, daß er seine Leute wieder erkenne. Dieselben traten ganz aus der Tür heraus, während die dritte Person, offenbar ein noch junger Mensch, in derselben zurückblieb und sie über die einzuschlagende Richtung belehrte.

Die Passagiere entfernten sich sodann mit kurzem Gruß, der junge Mann trat in's Haus zurück und man vernahm weiter nichts mehr, als den Widerhall der Tritte der Davoneilenden.

Als sie weit genug waren, um ihnen mit Sicherheit folgen zu können, setzten Raft und sein Begleiter sich sogleich wieder in Bewegung.

Ersterer fluchte leise vor sich hin und verwünschte alle unter falscher Flagge segelnden Piraten in den tiefsten Abgrund der Hölle.

»Ich verstehe Euch nicht«, bemerkte Falk freundlich, der immer größeren Gefallen an dem alten, wirklich originellen Seemanne fand.

»Und ich verstehe die verdammten Nachteulen nicht«, knurrte Raft ärgerlich, »sprächen sie, statt des lumpigen Kauderwelsch, englisch, wie andere ehrliche Leute, so müßten wir jetzt ihren Kurs und ihre ganze Ladung vom Spiegel bis zum Stern kennen.«

»Dazu gehört nicht gerade Englisch«, versetzte Falk, »sie sprachen schwedisch, und mir wenigstens ist kaum eines ihrer Worte entgangen; waren es doch die alltäglichen Phrasen, die sie miteinander wechselten.«

»Mann, Ihr versteht Schwedisch?« fragte Raft, und seine Faust fiel schwer auf Falk's Schulter, wo sie sich förmlich festkrallte.

»Ziemlich vollständig. Denjenigen, den sie in dem Hause zu finden erwarteten, haben sie eben nicht gefunden, und da hat ihnen dessen Diener, oder wer es auch immer gewesen sein mag, mitgeteilt, wo sie die betreffende Person heute Abend noch würden sprechen können.«

»Und wo ist das?« fragte der Bootsmann heftig, aber leise, denn während sie miteinander sprachen, waren sie den Schweden unabsichtlich nähergerückt.

»Wir werden gleich dort sein, wenn ich richtig verstanden habe«, antwortete Falk. »Ich glaube sogar den Garten zu kennen, nach welchem sie sich hinbegeben.«

Nach diesen Mitteilungen schritten sie ungefähr noch zehn Minuten lang schweigend nebeneinander hin, die beiden vor ihnen hereilenden Gestalten fortwährend scharf beobachtend.

Sie hatten sich allmählich dem Broadway wieder genähert, und zwar eine bedeutende Strecke oberhalb der Konzerthalle, in welcher Falk schon in Werner's Gesellschaft einen Teil des Abends verbrachte.

Als sie endlich den Broadway erreichten, schienen Jansen und Rynolds zu überlegen, ob sie die Straße hinauf oder hinunter gehen sollten. Ein Vorübergehender, den sie befragten, beseitigte ihre Zweifel; denn sie wendeten sich sogleich aufwärts.

Vor einem hell erleuchteten Torweg hielten sie an; sie lasen die in Gasflammenschrift über demselben angebrachten Worte: »Restaurations-Garten«, und ohne zu zögern traten sie ein.

Falk und Raft waren unterdessen ebenfalls herangekommen, und fast in demselben Augenblick, in welchem Erstere sich durch die in Folge einer mechanischen Vorrichtung von selbst zufallende Hintertür in den eigentlichen Garten hinausbegaben, schlichen Letztere durch die Vordertür in das Haus.

Hier nun kamen Falk und der Bootsmann überein, daß Raft, der von den Schweden unbedingt wieder erkannt werden würde, sich im Hause verborgen halten müsse, während Falk ihnen nachfolgen und, wenn möglich, ganz in ihre Nähe zu gelangen trachten solle.

Gerade als er ihrer ansichtig wurde und ihre Gesichtszüge bei dem flackernden Gaslicht genauer zu unterscheiden suchte, brachte ihnen ein Kellner eine Flasche Wein und noch zwei Gläser, ein sicheres Zeichen, daß sie, obgleich die Nacht schon vorgerückt war und einzelne Gesellschaften bereits aufbrachen, doch noch länger dort zusammen zu bleiben beabsichtigten.

Falk trat also in die nächste Laube. Er war daselbst nur einige Fuß von ihnen entfernt, und nachdem er ebenfalls Erfrischungen für sich hatte kommen lassen, legte er ein großes Notizbuch vor sich auf den Tisch, in welchem er dann, scheinbar sehr emsig, etwas ausrechnete und niederschrieb.

Eigentlich hegte er den Plan, alle Worte, welche durch die dünne Laubwand bis zu ihm dringen würden, niederzuschreiben, um sie später mit mehr Muße in Zusammenhang zu bringen. Er traute sich nämlich nicht zu, eine in schwedischer Sprache geführte Unterhaltung genau verfolgen zu können, wenn er auch wirklich in früheren Jahren auf einer Kunstreise durch die skandinavischen Hochlande sich notdürftig zu verständigen gelernt hatte.

Als er sich an seinem Tischchen niederließ, wurde nebenan doch englisch gesprochen, und zwar bestand die Unterhaltung aus nur oberflächlichen Mitteilungen, welche bald den Schiffbruch, bald die Ankunft aus New York, bald das Schicksal dieser und jener Person in Europa oder Amerika betrafen.

»Wir haben Mühe gehabt, das Schiff heute schon verlassen zu dürfen«, sagte Rynolds endlich, auf die Geschäftsangelegenheiten übergehend; »wir boten indessen unsere ganze Beredsamkeit auf, denn die unbestimmten Gerüchte, die uns über die Lage unserer Brüder am Salzsee zugegangen, ließen uns das Schlimmste befürchten.«

»Der Krieg ist erklärt, und die Unsrigen haben die Erklärung mit gebührendem Trotz entgegengenommen«, bemerkte der fremde Herr, der von den beiden anderen im Laufe des Gesprächs mehrfach Mr. Abraham genannt wurde.

»Es ist weniger der Krieg, der uns zu dem späten Besuch veranlaßte, als die bewußte Angelegenheit«, versetzte Jan- sen mürrisch. »Meine Nichte hat beinahe seit Jahresfrist keine Nachricht von ihrer Schwester erhalten, weshalb wir durchaus ihr hier irgend eine Beruhigung über deren Ergehen verschaffen müssen. Wie ist es, habt Ihr neuerdings Briefe vom Salzsee gehabt?«

»Seid vorsichtig«, sagte Rynolds in schwedischer Sprache, indem er verstohlen auf die Laube wies, in welcher der Maler saß; »man kann in diesem Lande keinem Menschen trauen; hat es uns doch nicht geringe Mühe gekostet, den groben Seemann los zu werden, welchen der alberne Schiffslieutenant auf unsere Fährte setzte.

Abraham warf einen Blick zwischen den Blättern hindurch auf Falk, zuckte verächtlich die Achseln, als er in ihm einen Deutschen erkannte, gebrauchte aber doch die Vorsicht, sich nunmehr der schwedischen Sprache zu bedienen und seine Stimme etwas zu dämpfen.

»Briefe habe ich allerdings vom Salzsee erhalten«, hob er an, »aber leider keine sehr erfreulichen Nachrichten. Die Schwester hat im verwichenen Herbst aus Eifersucht, daß ihr Gatte sich mit einer zweiten Frau verheirate, samt ihrem Kinde die Salzsee-Stadt verlassen. Man setzte ihr nach, aber erst eine Woche später, entdeckte man die untrüglichen Spuren, daß sie während eines Sandsturms in der Wüste zu Grunde gegangen und verschüttet sei.

»Mutter und Kind?« fragte Jansen auffahrend, und im Klange seiner Stimme lag eine tiefe, aber mit aller Gewalt unterdrückte Teilnahme. »Mutter und Kind? und das erfahre ich erst heute, nachdem fast ein Jahr darüber vergangen?«

»Mutter und Kind«, antwortete Abraham eintönig, »und heute erfahrt Ihr es erst, weil es mir zu gewagt erschien, Euch das Unglück nach Europa zu berichten. Übrigens erwarte ich Euch ja bereits seit sechs Monaten.

»Sehr, sehr schlimm«, bemerkte Rynolds, den Kopf schüttelnd. »Was werden wir ihr sagen, wenn sie nach ihrer Schwester fragt?« Sie glaubt mit Bestimmtheit hier Briefe von ihr vorzufinden.«

»Das Fehlen der Briefe könnte sehr leicht durch die ausgebrochenen Feindseligkeiten erklärt werden«, versetzte Abraham beruhigend, »denn wer weiß, ob sie ihre Gesinnung nicht änderte, wenn sie die Wahrheit in ihrem ganzen Umfange erführe. Noch schlimmer aber wäre es, erhielte sie eine Ahnung davon, daß sie selbst zur zweiten Frau eines der einflußreichsten und energischsten Mormonen bestimmt ist, oder daß überhaupt die Vielweiberei unzertrennlich mit unserer Lehre ist.«

»Es wäre töricht, sie jetzt schon darüber aufklären zu wollen«, bestätigte Rynolds, »sie wird alles früh genug erfahren, wenn sie am Salzsee eingetroffen ist, und sich dann leichter in das Unabänderliche fügen. Nehmt ihr aber die Sehnsucht nach ihrer Schwester, und sie weigert sich, mit Euch zu gehen. Sie besitzt überhaupt die Neigung, auf diejenigen zu hören, die mit glatten Schmeichelworten unsere gesegnete Lehre verleumden. Ich habe ihr Benehmen dem Schiffslieutenant gegenüber sehr wohl beobachtet, und ich versichere Euch aus vollster Überzeugung, es ist die höchste Zeit, sie voneinander zu trennen. Es ist ein großes Unglück, daß auch das Kind nicht mehr lebt. Das Auszahlen des Vermögens der Mutter an den Vater würde im entgegengesetzten Falle keine Schwierigkeiten gehabt haben.« –

»Anstatt daß es jetzt der noch unverheirateten Schwester, dem einzigen noch lebenden Mitgliede der Familie anheimfällt«, fügte Jansen noch immer tief erschüttert, den Worten seines Gefährten hinzu.

»Es ist noch zweifelhaft«, bemerkte Abraham nachdenkend, »aus den Briefen, welche zu Eurer Einsicht in meiner Wohnung bereit liegen, scheint hervorzugehen, daß man Spuren entdeckte, welche darauf hindeuten, daß das Kind die Mutter, wenn auch nur auf kurze Zeit, überlebte, wodurch der Vater dennoch seine Ansprüche als rechtmäßiger Erbe seines Kindes erheben könnte.«

»Sei es, wie es wolle«, fiel Jansen wieder ein, »sie hat ihre Schwester, und ich eine liebe Nichte verloren. Mag der Herr ihrer Seele gnädig sein, wenn sie als eine Abtrünnige hinüberging. Ist auch das Kind vom Verderben ereilt worden, was Gott verhüten möge, dann haben wir die größte Ursache, aufs Sorgfältigste über das Mädchen zu wachen und keine Stunde länger, als unumgänglich notwenig ist, in New York zu verweilen. Sie ist das letzte Erbteil meines armen Bruders; sie soll, sie muß dem allein seligmachenden Glauben erhalten werden, um zu sühnen die Schuld ihrer als Abtrünnige dahingeschiedenen Schwester. – Selbst ihre alte Erzieherin, die sie fast keinen Augenblick aus dem Bereich ihrer Argusaugen läßt, kann getäuscht werden und der Einfluß eines Ungläubigen sich bei dem unschuldigen Kinde geltend machen, eh' wir eine Ahnung davon erhalten.«

»Wann gedenkt Ihr Eure Reise fortzusetzen und auf welcher Route?« fragte Abraham, nachdem er mit nachdenklicher Miene sein Glas leer getrunken und dann wieder gefüllt hatte.

»Sobald wie möglich und auf derjenigen Route, die uns bei den jetzigen widerwärtigen politischen Verhältnissen als die sicherste empfohlen wird«, antwortete Rynolds.

»Und außerdem wünschen wir geheim zu halten, wohin wir uns eigentlich wenden«, fügte Jansen hinzu, denn würde es ruchbar, daß wir uns mit so bedeutenden Mitteln unseren Brüdern am Salzsee zuzugesellen beabsichtigen, so könnten uns noch von den Gentiles wer weiß was für Hindernisse in den Weg gelegt werden.«

»Aber ist das Geld nicht Eigentum Eurer Nichte, und seid Ihr beide nicht die gesetzlichen Vormünder?« fragte Abraham.

»Das wohl«, entgegnete Rynolds mit einem unzufriedenen Blick auf Jansen, dessen offene Trauer um den Tod seiner anderen Nichte ihm sehr ungelegen zu kommen schien; »aber es würde den Gentiles eine besondere Freude gewähren, unsere Schutzbefohlene bis zu ihrer Großjährigkeit zurückzubehalten und sie während dieser Zeit in eine Abtrünnige umzuwandeln. Glaubt mir, so vorbedacht und behutsam wir auch immer zu Werke gegangen sein mögen, bei der jetzigen feindlichen Stimmung gegen unser Volk wäre es ihnen ein Leichtes, Fäden zu entdecken, die ihnen bei einem gerichtlichen Verfahren den gewünschten Halt böten.«

Rynolds' Worte mußten die drei Mormonen zum Nachdenken veranlaßt haben, denn sie schwiegen und schauten finster vor sich nieder. Falk's Spannung dagegen hatte allmählich einen so hohen Grad erreicht, daß er kaum die Fortsetzung des Gesprächs erwarten konnte und, wie um seine Ungeduld zu bekämpfen, las er die Worte noch einmal durch, die er mehr mechanisch, als um einen wirklichen Anhalt zu gewinnen, niedergeschrieben hatte. War ihm auch Einzelnes unverständlich geblieben, so hatte er den Sinn der Unterhaltung doch hinlänglich erfaßt, um nicht mehr zu bezweifeln, daß er einem finsteren Komplott auf die Spur gekommen sei, in welchem man, teils aus gefährlichem religiösem Fanatismus, teils mit der strafbarsten Gewissenlosigkeit, harmlose Menschen zu den Opfern verbrecherischer Pläne gewählt hatte.

Jansen brach endlich wieder das Schweigen.

»Welche Hilfsmittel stehen den Unsrigen zu Gebote?« fragte er, sich an Abraham wendend; »haben dieselben in letzter Zeit zugenommen?«

»Gewachsen sind sie allerdings«, antwortete der Befragte, »ob sie aber genügend sein werden, den Vereinigten Staaten auf lange Jahre Widerstand zu leisten, ist mehr als zweifelhaft.«

»Haben die Sendungen denn schon eingestellt werden müssen?« fragte Jansen weiter.

»Auf dem Wege durch die Prärien, ja, weil die Vereinigte Staaten Trains dieselben förmlich überschwemmen; doch ist uns die bequemere Verbindung über Kalifornien offen geblieben, und ganz andere Mittel müßten aufgeboten werden, wollte man uns auch dort noch hindernd entgegentreten. Erst mit dem letzten Dampfboot ging eine beträchtliche Anzahl Kisten und Ballen, welche Pulver, auseinandergenommene Büchsen, Revolver und Decken enthielten, unter harmlosen und sicheren Signaturen nach San Francisco; noch bedeutendere Sendungen aber werden mit dem nächsten und den folgenden Dampfbooten expediert werden.«

»Waffen und Munition sind oft weniger wert, als gute handfeste Männer«, bemerkte Jansen finster.

»Auch das Geschäft des Rekrutierens hat seinen guten Fortgang«, antwortete Abraham; »es würde noch besser gehen, wären wir nicht gezwungen, alles so heimlich zu betreiben. Indessen verläßt kein Panama-Dampfer den hiesigen Hafen, der nicht einige Dutzend frisch angeworbener Leute an Bord hätte. Sogar der Mangel an mehr theoretisch ausgebildeten Offizieren wird allmählich gedeckt werden; erst gestern glückte es mir wieder, mit zwei deutschen ehemaligen Offizieren ein bindendes Übereinkommen zu treffen.«

»Die besten Offiziere sind diejenigen, die ihrem Feinde auf hundert Ellen das Auge aus dem Kopfe zu schießen vermögen«, warf Jansen mit geringschätziger Miene ein, »und dergleichen Offiziere brauchen wir am Salzsee nicht weit zu suchen.«

»Und dennoch gebrauchen wir Leute, die mit den strategischen Bewegungen geschlossener Truppenmassen vertraut sind und unsere Artilleristen einschulen«, entgegnete Abraham.

»Was sind strategische Bewegungen?« fragte Jansen ungeduldig. »Wir besetzen die Engpässe und schießen jeden nieder, der sich nähert – aber sagt, wie steht es mit den Eingeborenen?«

»Nach den neuesten Nachrichten dürfen wir auf alle Stämme der Utahs rechnen, ferner auf die Bannaks, die Nez-perces, die Schlangen- und die Krähenindianer, und dann ist endlich noch Aussicht vorhanden, die kräftigen Stämme der im Colorado-Tale lebenden Eingeborenen für unsere Sache zu gewinnen. Einige derselben haben sich wenigstens schon taufen lassen.«

»Lauter Hilfstruppen, die nur an Rauben und Morden denken«, bemerkte Rynolds zweifelnd.

»Das ist alles, was wir von ihnen verlangen«, entgegnete Jansen, und seine sonst so ernste Physiognomie erhielt durch den erwachenden Fanatismus einen unheimlich wilden Ausdruck. »Laßt sie morden und die Reihen der Gentiles lichten, laßt sie rauben, so viel sie wollen, denn der Sold, welchen Sie von uns beziehen, wird sich nicht sehr hoch belaufen.«

Der Aufbruch der letzten Gäste mochte die Mormonen daran erinnern, daß es schon spät sei, denn Jansen fuhr plötzlich, wie aus einem Traume erwachend, empor, und sich an Abraham wendend, fragte er, ob in der Nähe ein Gasthaus sei, in welchem sie übernachten könnten.

»Gasthäuser befinden sich allerdings in der Nähe«, antwortete dieser, allem ich habe darauf gerechnet, daß Ihr bei mir Wohnung nehmt. Schon seit drei Wochen sind die für Euch bestimmten Gemächer hergerichtet und die Betten aufgeschlagen.«

»Umso besser«, sagte Jansen, indem er sich erhob, »wir werden dort unsere Verhandlungen ungestört fortsetzen können. Auch möchte ich die Papiere, welche sich auf das Vermögen meiner Nichte beziehen, so wie die Wechsel bei Euch niederlegen. Aber wie ist es?« fragte er im Ausgange der Laube kurz stehenbleibend, »werden die Frauen ebenfalls bei Euch ein Unterkommen finden?«

»Die Frauen vor allen Dingen«, antwortete Abraham; »sie finden in meinem Hause vielleicht nicht alle gewohnten Bequemlichkeiten, da Ihr aber selbst den Wunsch aussprecht, sie mit anderen Menschen nicht in Berührung kommen zu lassen, so denke ich –«

Gleich darauf bewegten sie sich an der Laube vorüber, in welcher Raft sich verborgen hatte. Sie beachteten dieselbe nicht, es brannte ja kein Licht hinter den dicht berankten Gittern, und mit eilfertigen Bewegungen, jedoch schweigend, begaben sie sich nach dem Durchgang des Hauses. Kaum war indessen die Tür hinter ihnen zugefallen, da glitt Raft zu Falk hinein und legte seine Hand schwer auf dessen Schulter.

»Mann!« rief er dringend aus, und die Narbe in seinem Gesicht glühte förmlich vor innerer Aufregung; »sie sind fort, und Ihr liegt hier so ruhig vor Anker, wie'n Leuchtschiff über 'ner Untiefe? Fort, sage ich Euch, fort, geschwind laßt uns folgen, so lange ihr Fahrwasser noch Schaum und Strudel zeigt, oder ihr mögt sie ebenso gut zwischen den Bahama-Inseln suchen!«

Falk schaute lächernd zu dem eifrigen alten Seemann empor.

»Vor allen Dingen setzt Euch und helft mir den Rest dieser Flasche auszutrinken«, sagte er, etwas zur Seite rückend.

»Goddam Euern Wein!« entgegnete Raft und machte Miene, den Mormonen allein nachzusetzen. »Es sind jetzt ihrer Drei, also um so mehr Grund, sie nicht aus Sicht zu verlieren!«

»Beruhigt Euch und setzt Euch nieder«, erwiderte Falk in so überzeugender Weise, daß Raft seiner Aufforderung mechanisch Folge leistete. »Ich weiß, wo sie ihr Quartier aufgeschlagen haben, wohin sie aber gegangen sind, dahin vermögen wir ihnen nicht nachzufolgen. Aber trinkt erst, und dann wollen wir weiter sprechen.«

Raft stieß einen verdrießlichen grunzenden Ton aus, nahm das dargebotene volle Glas und nachdem er es in einem Zuge geleert, schaute er fragend auf seinen neuen Freund.

»Ihr seid von jemand beauftragt, auszukundschaften, wohin die beiden schwedischen Mormonen sich begeben würden.«

»Ay, Ay, Herr.«

»Gut, und zwar von jemand, den bei seinen Nachforschungen weniger das allgemeine Interesse, als das Privatinteresse leitet.

»Verdammt! wenn Ihr meint, daß ich mich augenblicklich nicht im Dienste des Leoparden befinde, so habt ihr recht.«

»Gut; jetzt bin ich aber im Zweifel, ob es demjenigen, der Euch entsandte, ebenfalls recht sein wird, wenn ich das, was ich hier erlausche, und ich habe sehr Wichtiges vernommen, auch noch einer dritten Person mitteile.«

»Goddam! Habe Dickie auf meinen Armen getragen, als er noch nicht lange vom Stapel gelaufen war; ich streiche die Flagge vor Eurer Schulgelehrsamkeit, aber hängen will ich mich lassen, wenn Dickie Weatherton jemals ein Geheimnis vor mir hatte! Das ist originell!«

»Gut denn, brechen wir auf«, versetzte Raft, sich erhebend, »den Jungens wird die Zeit lang geworden sein, sind aber nicht dumm genug, die halbe Nacht ohne einen Tropfen Nasses Wache zu halten.«

»Noch einen Augenblick«, bat Falk, indem er den letzten Rest aus der Flasche in das einzige Glas schenkte und dieses dann dem Seemann hinschob, »trinkt noch einmal, eh' wir scheiden«, fuhr er fort, ohne Raft's Überraschung zu beachten, »denn mit an Bord kann ich nicht gehen.«

»Was? Ihr wollt nicht mit?« fragte Raft ungläubig.

»Nein, ich darf nicht; still, still, unterbrecht mich nicht, bis ich ausgesprochen habe; ich weiß, Ihr wollt sagen, daß wenn ich in Eurer Begleitung komme, mir Niemand an Bord des Leoparden den Weg vertreten wird, allein so war es nicht gemeint. Aus Euren Mitteilungen geht hervor, daß die Mormonen wieder zu Euch zurückkehren.«

»Ganz gewiß, sie müßten denn gerade die beiden Ladies dem Leoparden vermachen.«

»Was sie aber ganz gewiß nicht tun werden«, ergänzte Falk. »Es wäre also doch eine Möglichkeit, daß ich mit ihnen zusammenträfe. Da sie mich aber so genau betrachteten, als sie an dieser Laube vorbeigingen, so muß ich befürchten, von ihnen wiedererkannt zu werden, und nur ein leiser Verdacht dürfte die Ursache werden, daß die ganze Gesellschaft plötzlich und geheimnisvoll aus unserm Gesichtskreise verschwände.«

Raft sah das Richtige dieser Bemerkung ein und kratzte sich verlegen mit beiden Händen hinter den Ohren. Endlich, wie um sich Rat zu verschaffen, ergriff er das Glas Wein, und mit einer blitzschnellen Bewegung stürzte er den Inhalt in seine Kehle hinab.

»Um also dieses unwillkommene Verschwinden zu verhüten«, fuhr Falk fort, während er ein weißes Blatt aus seiner Brieftasche riß und einige Worte auf dasselbe schrieb, »gebe ich Euch hier meine Adresse, welche Dir Euerm Dickie oder Lieutenant Weatherton pünktlich einhändigen werdet. Sagt ihm dabei, daß ich morgen den ganzen Nachmittag für ihn zu Hause sei, und daß er kommen möge, um meine Bilder in Augenschein zu nehmen, ich bin nämlich Maler.«

Gleich vor der Tür trennten sie sich, Raft, um zu der seiner harrenden Jolle zurückkehren, Falk, um sich auf den Heimweg nach seiner, fast auf dem anderen Ende der Stadt gelegenen Wohnung zu begeben. Es war noch ein weiter Weg, der vor ihm lag, allein derselbe erschien ihm in dieser Nacht so kurz, wie noch nie. Die Erlebnisse der letzten Stunden beschäftigten unablässig seinen Geist; er war plötzlich, und ohne es zu ahnen oder zu wollen, in eine geheimnisvolle, abenteuerliche Geschichte verwickelt worden, deren Ende und Tragweite gar nicht abzusehen war. Doch indem vor seiner Seele die phantastischsten Bilder auftauchten, wuchs auch seine Teilnahme für die ihm noch unbekannten, augenscheinlich bedrohten Personen.


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