Balduin Möllhausen
Das Mormonenmädchen. Band I
Balduin Möllhausen

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2.

Der Abschied

Vier Tage waren seit Weatherton's Besuch bei dem Maler verstrichen, vier lange Tage, ohne daß es ihm geglückt wäre, auch nur die leiseste Spur von Hertha und ihrer Begleitung zu entdecken. Er selbst hatte nichts versäumt, was zu einer Aufklärung des geheimnisvollen Verschwindens der Gesellschaft hätte führen können, und in allen seinen Bemühungen war er auf das Treueste von Werner sowohl wie von Falk unterstützt worden. Sogar Raft, dem auf seine Verwendung der erforderliche Urlaub erteilt worden war, hatte Tage lang in der Nachbarschaft vor Abraham's Wohnung Ausguck halten müssen; doch alles blieb vergeblich. Die Mormonen waren verschwunden, und obgleich keiner der bei den Forschungen Beteiligten bezweifelte, daß sie noch in der Stadt verborgen seien, so verloren sie doch allmählich die Hoffnung, jemals wieder mit ihnen zusammenzutreffen.

Anfangs war Weatherton geneigt, anzunehmen, daß Falk wie Raft sich an jenem Abend getäuscht hätten; allein dies dauerte nur so lange, bis er Abraham einen Besuch abstattete, um sich, wie er vorgab, von dem Wohlbefinden seiner früheren Reisegefährten zu überzeugen.

Ganz wider sein Erwarten räumte der schlaue Agent ein, daß die Gesuchten sich allerdings einen Tag und eine Nacht unter seinem Dache befunden hätten, daß es sich aber nur darum gehandelt habe, mehrere bedeutende auf ihn gezogene Wechsel flüssig zu machen, worauf sie schleunigst nach dem Missouri abgereist seien, um sich dort einer bestimmten, nach dem Salzssee aufbrechenden Karawane anzuschließen.

Weatherton durchschaute die Täuschung und maß Abraham's Worten nicht mehr Wert bei, als sie verdienten. Seine letzten Zweifel über Falk's Mitteilungen wichen, dagegen gelangte er zu der Überzeugung, daß die Gesuchte nicht mehr in des Agenten Hause weile und man alles aufbiete, das junge Mädchen weder mit ihm, noch mit anderen, die auf dasselbe irgendwelchen Einfluß gewinnen konnten, in Berührung kommen zu lassen.

Auf seine Andeutungen, daß die Gerichtsbarkeit von New York sich bewogen finden könne, in seinen Lagerräumen nach Kriegscontrebande zu forschen, hatte Abraham nur mit einem beleidigenden Lächeln geantwortet und ihm anheimgestellt, um sich jede weitere Mühe zu ersparen, sogleich selbst mit den Nachforschungen zu beginnen.

Ihr werdet vielleicht manches entdecken, was Euch verächtlich erscheinen mag«, sagte ihm der Agent mit einem Anflug von Hohn, »allein die Regierung in Washington selber hat kein Recht, sich um das zu kümmern, womit ich Handel treibe, es sei denn, daß ich Steuerhinterziehungen beginge. Übrigens steht mein Lagerhaus jedem mit rechtskräftiger Vollmacht versehenen Beamten offen, dagegen dürfte, nachdem der Verdacht sich als ungerechtfertigt erwiesen, ein kostspieliger Prozeß gegen Denjenigen eingeleitet werden, der sich eine derartige Anklage gegen meine Firma erlaubte«.

Weatherton ging, aber im Stillen bereute er den Schritt, welchen er bei Abraham getan hatte. Er fühlte, er war im Eifer zu weit gegangen, und mit Bedauern gelangte er zu dem Schluß, daß diejenigen, die ein Interesse dabei hatten, Hertha von der Außenwelt abzuschließen, in seinen Worten eine Warnung erblicken und fortan nur noch mehr auf ihrer Hut sein würden.–

In demselben Grade nun, in welchem sich seinem Vorhaben immer größere Schwierigkeiten entgegenstellten, befestigte sich aber auch sein Wille, dasselbe dennoch durchzusetzen; und da Falk, teils aus Teilnahme für die Sache selbst, teils aus einem angeborenen Hange zum Außergewöhnlichen, ihm in jeder Beziehung beipflichtete und dadurch seiner leidenschaftlich erregten Phantasie immer neue Nahrung gewährte, so würde er schon jetzt nicht gezögert haben, eine Reise nach der Salzseestadt zu unternehmen, wenn er nur die Gewißheit gehabt hätte, daß Hertha und ihre Begleitung wirklich dorthin aufgebrochen seien.

»Wie nun Weatherton und seine Freunde in das geheimnisvolle Treiben der Mormonen und ihrer Helfershelfer einzudringen trachteten, so wurde ihnen nicht minder von den Mormonen überall hin nachgespäht; nur mit dem Unterschiede, daß letztere erfolgreicher wirkten. Denn bei den bedeutenden Mitteln, über welche dieselben zu verfügen hatten, bei den Erfahrungen, welche sie in der gleichen Angelegenheit gesammelt, und bei der großen Zahl feiler Menschen, die sie besoldeten und mit unglaublichem Scharfblick aus der Hefe der untersten Klasse der Bevölkerung herauszufinden verstanden, konnte man darauf rechnen, daß alle ihnen verdächtige Personen, oder solche, denen sie nur im Geringsten mißtrauten, eigentlich keine Stunde unbeobachtet und unbewacht blieben.

So erhielten denn Abraham, Jansen und Rynolds stets die genauesten Mitteilungen über das von Weatherton und seinen Gefährten eingeschlagene Verfahren; weshalb es ihnen leicht wurde, jeder persönlichen Begegnung rechtzeitig auszuweichen und alle deren Pläne, noch ehe dieselben zur Reife gelangten, zu hintertreiben und die ihnen entsprechenden Vorkehrungen zu treffen.

So war es ergangen, als Weatherton Abraham den längst vorhergesehenen Besuch abstattete, so erging es, als man in dem Büro der Dampfschifffahrtsgesellschaften nach den Verschwundenen forschte. Überall stieß man entweder auf gar keine Nachrichten, oder auf solche, die absichtlich verworren und unbestimmt erteilt wurden, um auf falsche Fährten zu leiten.–

Es war also am vierten Tage nach dem, an welchem Weatherton mit Falk Freundschaft geschlossen hatte und durch diesen auch mit Werner in Dietz's Hotel bekannt gemacht worden war. Es mochte gegen acht Uhr des Abends sein; das Leben in dem hellerleuchteten Broadway hatte seinen höchsten Grad erreicht, die breiten Bürgersteige waren von Fußgängern bedeckt, die endlosen Reihen der Wagen rasselten hinauf und hinunter, und Gruppen von Menschen saßen vor den Haustüren, sich des milden Herbstabends erfreuend, oder über die neuesten Tagesereignisse plaudernd.

Die geräumige, mit vergoldeter Stukkatur und geschmackvoller Malerei reich ausgeschmückte Vorhalle in Dietz's Hotel hatte sich schon geleert, die Kostgänger und Gäste des Hauses waren ihrem Vergnügen nachgeeilt, oder ließen in der Trinkhalle bei vollen Gläsern und Zigarren die Zeit verstreichen, und nur einzelne Personen saßen noch auf den ringsum an den Wänden angebrachten weich gepolsterten Bänken, um die Ankunft eines Freundes oder Bekannten zu irgendeinem verabredeten Spaziergange zu erwarten.

Auch Weatherton und Falk schienen dort auf jemanden zu harren, doch zogen sie es vor, wahrscheinlich um außer dem Bereich neugieriger Ohren zu bleiben, in der Halle auf und ab zu wandern.

Ihre Züge verrieten, wie ernst der Gegenstand sei, welchen ihre Unterhaltung betraf; außerdem standen sie von Zeit zu Zeit still, um irgendetwas genauer zu erörtern, worauf sie dann gewöhnlich nach der Uhr sahen, um mit einem Kopfschütteln oder einem anderen äußerlichen Zeichen der Ungeduld ihren Spaziergang wieder aufzunehmen.

»Acht Uhr vorbei, und noch nicht eingetroffen«, sagte Weatherton, als sie wieder einmal eine Weile stehen geblieben waren und sehr eifrig miteinander verhandelt hatten; »ich hoffe, er hat uns nicht vergessen«.

»Vergessen hat er uns nicht«, entgegnete Falk, »er ist zu gewissenhaft dazu; allein er kann in seinen eigenen Angelegenheiten aufgehalten worden sein, weil er sich auf dem morgen absegelnden Dampfboot nach Panama und San Francisco einzuschiffen gedenkt. Heute Vormittag, als er nach dem Büro gegangen war, dauerte es ebenfalls mehrere Stunden, eh' er wieder zurückkehrte. Es hat seine Schwierigkeiten, die Listen der eingeschriebenen Passagiere vorgelegt zu erhalten«.

»Aber er hat sie doch gesehen!« versetzte Weatherton.

»Er hat sie gesehen und durchgesehen vom Anfang bis zu Ende –«

»Und nicht die Namen von zwei Herren und zwei Damen gefunden, die, als zusammenreisend, für unsere Mormonengesellschaft gehalten werden könnte?« fragte Weatherton, indem er kurz stehenblieb, »denn nach ihren wirklichen Namen brauchen wir nicht zu forschen, sie werden vorsichtig genug gewesen sein, dieselben zu verschweigen«, fügte er mit Bitterkeit hinzu.

Falk lächelte in seiner stillen Weise vor sich hin, denn er sollte abermals eine Frage beantworten, die Weatherton schon wenigstens zehnmal an ihn gestellt hatte.

»Nein, heute Morgen hat er nichts entdeckt, was uns zu einem Verdacht berechtigte«, erwiderte er endlich, sich wieder vorwärts bewegend. »Unmöglich ist es nicht, daß seine Nachrichten heute Abend anders lauten; auf alle Fälle dürfen wir es uns nicht verdrießen lassen, morgen schon in aller Frühe nach dem Werft hinabzugehen und jeden einzelnen Passagier, indem er sich an Bord begibt, genau zu betrachten. Beabsichtigen sie mit diesem Boot abzureisen, so können sie unserer Aufmerksamkeit nicht entgehen. Entdecken wir sie nicht, so unterliegt es kaum noch einem Zweifel, daß sie, anstatt noch vierzehn Tage auf den Abgang des nächsten Dampfers zu warten, den Landweg durch die Prärien wählen«,

»Jedenfalls kommt mir der Durchsuchungsbefehl zu statten, welchen ich mir zu verschaffen gewußt habe«.

»Durchsuchungsbefehl?« fragte Falk überrascht.

»Ja, ein Befehl von der entsprechenden Behörde, kurz vor Abgang des Dampfers an Bord zu erscheinen und nach Kriegscontrebande, die für die Mormonen am Salzsee bestimmt ist, zu suchen. Der Befehl ist mir erst heute Mittag zugstellt worden, ich konnte euch also nicht früher davon in Kenntnis setzen«.

Falk sann eine Weile nach. »Ich weiß nicht, ob dieses nicht übereilt gehandelt war«, wendete er sich dann wieder an Weatherton, »der Abgang des Dampfers wird dadurch bedeutend verzögert werden, und Ihr erbittert nicht nur die in New York anwesenden Mormonen gegen Euch, sondern auch die Mitglieder der Dampfschiffahrts-Gesellschaft, vor allem aber die Passagiere«.

»Mag man mir zürnen oder nicht«, versetzte Weatherton achselzuckend, »ich werde handeln, wie mir die Pflicht gebietet, obgleich ich Euch gegenüber einräume, daß ich mich nur überzeugen will, ob das junge Mädchen an Bord ist. Vor meiner Vollmacht müssen sich alle Türen öffnen«.

»Und wenn Ihr sie findet?« fragte Falk zweifelnd, »in welcher Weise wollt Ihr alsdann auftreten?«

Weatherton legte einen Augenblick seine Hand an die Stirn. »Ich habe darüber noch nicht nachgedacht«, antwortete er endlich zögernd, »vorläufig war ich nur von dem einzigen Wunsch beseelt, zu erfahren, ob sie wirklich mit dieser Gelegenheit nach Kalifornien reist. Ich will wissen, wo sie geblieben ist, und sollte ich –«

Werner's Anblick, der eben von der Straße in die Halle trat, ließ ihn den Nachsatz nicht beendigen.

Er eilte auf ihn zu, und ihm die Hand entgegenstreckend, blickte er ihm fragend in die Augen.

Werner gab ein verneinendes Zeichen. »Es ist nichts«, sagte er, »ich blieb, bis das Büro geschlossen wurde; ich las die Namen aller Eingeschriebenen noch einmal durch und überzeugte mich, daß schon seit heute Nachmittag um vier Uhr alle Plätze bis auf den letzten verkauft sind, und sogar in den Kajüten und Rauchzimmern des Abends Betten aufgeschlagen werden müssen, um alle Passagiere unterzubringen«.

»Andere Nachricht erwartete ich nicht«, versetzte Falk, als er eine bittere Enttäuschung auf Weatherton's Zügen gewahrte. »Haben sie sich einschreiben lassen, so geschah es unter anderem Namen: jedenfalls muß es sich morgen früh aufklären«.

»Wenn es zu spät ist«, sagte Weatherton ernst, »wenn es zu spät ist und das arme, unschuldige Opfer seinen Weg in's Elend schon angetreten hat. Denn finde ich sie wirklich, so besitze ich, da ich nur nach Kriegscontrebande forschen soll, nicht das Recht, in die Familienangelegenheiten mir fern und fremd stehender Personen einzugreifen; selbst auch dann nicht, wenn es Mormonen, also erklärte Feinde der Vereinigten Staaten wären«.

»Ihr könnt' kaum aufrichtigere Teilnahme für die junge Dame hegen, als ich«, nahm Falk das Wort, indem er die Freunde nach einer Bank hinführte, die eben leer geworden war. »Es besteht bloß der Unterschied, daß Ihr sie von Angesicht zu Angesicht kennt und sich in Folge dessen ihr Bild tiefer in Eure Seele eingegraben hat, während bei mir nur die Phantasie eine Erscheinung zu schaffen vermag, die gewiß weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibt«.

»O, Ihr solltet sie kennen«, fiel Weatherton mit Wärme ein, »und Ihr würdet meine Teilnahme natürlich finden« –

»Ich kenne sie aber nicht, und dennoch finde ich Eure Teilnahme sowohl, wie die meinige natürlich«, unterbrach ihn Falk mit einem gutmütigen Lachen, »wie weit meine Teilnahme aber reicht, mögt Ihr daraus ermessen, daß ich viel weiter als Ihr in die Zukunft gedacht habe«.

Weatherton schaute überrascht und fragend zu dem Maler auf.

»Ja, in die Zukunft«, wiederholte dieser freundlich, »entgeht sie nämlich morgen unserer Aufmerksamkeit, weil man sie irgendwo auf dem Dampfboot verborgen hält, so wird sie dennoch während der ganzen Reise und sogar noch in San Francisco aufs Schärfste bewacht und behütet werden. Ich habe nämlich meinem Freunde Werner hier die beiden Mormonen so genau beschrieben, daß er, im Fall er mit ihnen zusammentrifft, nicht einen Augenblick im Zweifel über sie bleiben kann; und wenn Ihr ihm eine ähnliche Beschreibung von den Damen gebt, so dürften wir mit Gewißheit darauf rechnen, schon von Havanna und demnächst von Panama aus, genaue und umständliche Berichte über alles, was wir zu wissen wünschen, übermittelt zu erhalten«.

»Und daß sie in San Francisco, sollten sie sich dorthin wenden, beobachtet werden, dafür bürgt mein Versprechen«, bekräftigte Werner aus vollem Herzen. »Ich besitze daselbst Freunde und werde Personen finden, die mit Freunden ihren ganzen Einfluß aufbieten, einer beabsichtigten verbrecherischen Handlung hindernd in den Weg zu treten«. ›

»Ihr reist nach Kalifornien«, sagte Weatherton nachdenkend, indem er mit einem verstohlenen eifersüchtigen Blicke die schlanke Gestalt des jungen Kaufmannes maß. »Ihr werdet immer in ihrer Nähe sein und sie täglich sehen« –

»Das heißt, wenn sie mit demselben Dampfer reist, was noch höchst unwahrscheinlich ist«, schaltete Falk ein, und seine Physiognomie verriet, daß ihm die Gefühle nicht fremd waren, welche Weatherton's Brust bestürmten.

»Allerdings ist es noch unwahrscheinlich«, versetzte Weatherton freier und offenherziger zu Werner gewendet, »aber ich will für alle Fälle die beiden Damen so genau beschreiben, wie ich es nur immer vermag. Vielleicht daß dennoch in dem guten Werk, zu welchem wir uns vereinigt haben, Euch gerade der angenehmste Teil der Aufgabe zufällt«.

»Aber nicht hier, nicht hier laßt uns diesen Gegenstand weiter erörtern», sagte Werner dringend, als Weatherton eben mit seiner Schilderung beginnen wollte. »Begeben wir uns hinauf; in meiner Stube sind wir ungestörter, und nachteilig kann es nach keiner Richtung hin wirken, wenn wir den letzten Rest meiner California-Weinproben auf guten Erfolg leeren«.

Weatherton und Falk gingen auf den Vorschlag ein, und bald darauf saßen sie bei dem stark duftenden, edelsten Erzeugnis des Goldlandes, vertieft in die Unterhaltung, welche sie unten in der Halle abgebrochen hatten. –

Während die drei Freunde, von Niemand beobachtet, ihre Gedanken und Pläne für die Zukunft austauschten und die entsprechenden Verabredungen trafen, war die Landungsbrücke, neben welcher der California-Dampfer lag, schon leer geworden. Auch auf den angrenzenden, aus Brettern und Balken gezimmerten Werften zeigte sich nur noch wenig Leben. Hin und wieder schwankte ein Matrose, der des Guten etwas zuviel getan, dem heimatlichen Schiff zu; andere, denen es gelungen war, die Wachsamkeit der Posten zu täuschen, schlüpften wie Schatten in die Stadt nach den wohlbekannten Schänken. Auch sah man wohl ein paar Schiffsreeder, die den Abend bei ihrem Kapitän zugebracht, Arm in Arm den Heimweg antreten, doch vermochten alle diese Gestalten nicht den Charakter tiefster Ruhe zu verdrängen, der sich nach einem geräuschvollen Tage auf die Werfte und die vor denselben liegenden zahlreichen Kauffahrern gesenkt hatte.

Die hellen Gaslaternen warfen ein unbestimmtes Licht auf die schwarzen Schiffsrumpfe, die ihnen zunächst lagen, und auf die unteren Masten. Über die nächsten Schiffsrumpfe hinaus und bis in die obere Takelage hinein drang die Beleuchtung indessen nicht. Was außerhalb des Lichtkreises der Laternen lag, das fiel mit der nächtlichen Dunkelheit zusammen, dort als schwarze Masse, ähnlich schlummernden gigantischen Ungeheuern, sich mit dem dunklen Wasserspiegel vereinigend, hier nur schwach und mit verwischten Umrissen vor dem gestirnten Firmament abhebend. Wenn auch in der Ferne Fährdampfer und kolossale Flußschiffe mit ihren zahlreichen erleuchteten Fenstern, wie schwimmende Städte, dumpf stöhnend und ächzend dahinbrausten und eilig die ihnen vorgeschriebene Bahn verfolgten, so schien in der Nähe des California-Dampfers alles zu schlafen.

Verschlafen gurgelte das Flutwasser an den gekupferten Wanten entlang; verschlafen hingen die Wimpel, von keinem Lufthauch bewegt, niederwärts, und selbst die Laternen, die als Signale auf den verschiedenen vereinsamten Verdecken aufgestellt worden waren, wie die durch die Kajütenfenster schimmernden Lampen brannten, im Vergleich mit den Gasflammen, so trübe und düster, als wenn auch sie sich schon halb im Traume befunden hätten.

Die an den Werften vorüberführende Straße war noch belebt; dieselbe bildete aber gewissermaßen ein Reich für sich selbst, und die Leute, die sich dort noch geräuschvoll hin und her bewegten, waren eben nur Betrunkene, oder solche, die sich irgendwo verspätet hatten und mit schnellen Schritten nach Hause eilten.

Nur vor dem Eckhause, in welchem sich das Büro der California-Dampfschiffahrts-Gesellschaft befand, stand ein Mann, der keine Eile zu haben schien.

Er hatte sich in einen weiten Mantel gehüllt, ein runder Filzhut saß ihm tief auf der Stirn, so daß von seinen Gesichtszügen gar nichts zu erkennen war, und wie er sich an einen der das einfache eiserne Gitter vor der Haustür tragenden Pfeiler lehnte, zeitweise auch wohl einige Schritte auf und ab ging, da hätte man ihn für eine Schildwache halten mögen, die hier zur Sicherheit des Hauses aufgeteilt worden. Die meisten der Vorübergehenden mochten ihn auch wohl für einen Wachposten ansehen, denn nur selten nahm sich jemand die Zeit, die dicht verhüllte Gestalt genauer zu betrachten, dagegen kam keiner auf deren Nähe, ohne daß ein Paar finstere Augen sich unter dem schirmenden Rande des Hutes hervor mit durchbohrendem, forschendem Ausdruck auf ihn gerichtet hätten.

Die Zeit verrann, die Straßen wurden leerer, doch der Mann verharrte auf seinem Posten. Bald sitzend, bald sich anlehnend, oder auf und ab schreitend, verriet er nicht den geringsten Grad von Ungeduld.

Da meldeten Turmuhren und Schiffsglocken die elfte Stunde an, und noch zitterten die letzten Schläge in leisen Schwingungen durch die stille Atmosphäre, da ließ sich von der Mitte der Stadt her das in diesem Teil der Straße zur Nachtzeit nicht gewöhnliche Rollen eines Wagens vernehmen. Der Wachposten schaute gespannt die Straße hinauf, von woher sich das Geräusch näherte.

In der Entfernung von ungefähr zweihundert Schritten hielt der Wagen plötzlich still.

»Sie sind es, endlich!« murmelte der Mann vor sich hin, und zugleich bewegte er sich langsam auf den Wagen zu.

Er hatte die Strecken, die ihn von demselben trennte, noch nicht zur Hälfte durchmessen, da trat ihm ein anderer, ebenfalls sorgfältig verhüllter Mann entgegen.

»Jansen«, redete ihn derselbe an.

»Abraham«, lautete die Antwort, und schweigend reichten sich beide Männer die Hände.

»Ist alles sicher?« fragte Abraham sodann, sich an Jansen's Seite stellend und, gleich ihm, die Straße hinaufblickend.

»Alles sicher«, antwortete dieser. »Bis gegen sieben Uhr befand sich im Büro ein junger Mensch, den wir häufig in der Gesellschaft des Malers beobachteten, sobald aber das Büro geschlossen wurde, entfernte er sich. Seit jener Zeit hat sich kein verdächtiges Gesicht mehr blicken lassen. Sind wir sicher, daß die Durchsuchung des Schiffes nicht stattfindet?«

»Ich hoffe es«, antwortete Abraham mit eigentümlich drohender Ruhe.

Ihre Unterhaltung wurde durch das Rasseln des davoneilenden Wagens unterbrochen, und gleich darauf gesellten sich noch drei Gestalten zu ihnen, die offenbar in dem Wagen gekommen und weiter oben ausgestiegen waren.

Zwei derselben ließen in ihrer noch dichteren Umhüllung Damen erraten, während die dritte sich in ihrem Äußeren nur durch die Größenverhältnisse von den beiden zuerst erwähnten Männern unterschied.

Als sie in unmittelbarer Nähe von Jansen und Abraham angekommen waren, warf die schlankere und höhere der beiden Frauengestalten den dichten Schleier von ihrem Antlitz zurück, und in dem hellen Schein der nahen Laterne zeigten sich die lieblichen, mit einem schwärmerischen Ernst angehauchten Züge Hertha's.

»Onkel!« sagte sie leise und doch mit so melodischer Stimme, daß bei deren Klang das starre Herz eines Urwilden hätte erweicht werden können; »Onkel!« wiederholte sie, Jansen's dargebotene Hand ergreifend; »ist es denn wahr, müssen wir, wie Verbrecher, unter dem Schutze nächtlicher Dunkelheit unsere Flucht bewerkstelligen«.

»Selig sind, die um des Herrn willen verfolgt werden, denn sie werden das Himmelreich erschauen!« antwortete er hohl und unheimlich, indem er des jungen Mädchens Arm durch den seinen zog und dann, sich kurz umkehrend, die Richtung nach dem Werft hinunter einschlug.

»Amen«, sagte Hertha mit Ergebenheit, und schweigend schlossen sich Abraham, Rynolds und Demoiselle Corbillon an.

»Lieutenant Weatherton hat sich also auch bei Dir nicht blicken lassen?« fragte Hertha, nachdem sie einige Schritte zurückgelegt hatten, und in ihrer Stimme offenbarte sich eine Traurigkeit und Teilnahme, wie Jansen noch nie an ihr bemerkt zu haben glaubte.

»Sprich nicht von ihm«, erwiderte er so finster, daß Hertha von einem innern Beben befallen wurde. »Er steht an der Spitze derjenigen, welche die Auserwählten des Herrn verfolgen. Arglos teilte Rynolds ihm mit, wo wir zu finden sein würden, und er antwortete darauf, daß er sich eine Vollmacht zur Durchsuchung des morgen abgehenden Dampfbootes ausfertigen ließ«.

»Sollte darüber kein Irrtum obwalten können?« fragte Hertha schüchtern, nachdem sie sich einige Schritte, schweigend und in Gedanken versunken, an der Seite ihres Onkels hinbewegt hatte. »Er ist der Letzte, von dem ich eine derartige Unaufrichtigkeit erwartet hätte. Seine Worte klangen so ehrlich, so wohlmeinend, und was er zu mir sprach, schien mir –«

»Schien Dir?« fragte Jansen heftig auffahrend und den Arm seiner Nichte fest an sich drückend.

»Schien mir aus einem teilnahmsvollen Herzen, aus den edelsten Gesinnungen zu entspringen«.

Sie bogen jetzt, an der Werftstraße angekommen, um die Ecke und schritten nach der Richtung hin, in welcher der California-Dampfer lag.

»Wie kannst Du, mein Kind, bei den erklärten Feinden unserer auserwählten heiligen Gemeinde freundliche Teilnahme und edle Gesinnungen erwarten?« fragte Jansen nach einer Weile, denn die Art, in welcher Hertha des Offiziers gedachte, flößte ihm Besorgnis ein. »Sie verfolgen uns, sie suchen uns Schaden zuzufügen, weil einst das Volk Israel von seinen Widersachern heimgesucht wurde. Du zweifelst vielleicht an meinen Worten; aber wenn morgen der Lieutenant Weatherton kurz vor der Abfahrt des Bootes an Bord erscheint, in der einen Hand die Vollmacht zur Durchsuchung, in der anderen einen Verhaftsbefehl gegen uns, im Falle er eine Waffensendung und unsere Beziehung zu derselben entdecken sollte, dann wirst Du erkennen, wie recht ich handelte, in meinem Verkehr mit ihm nie über die gewöhnlichen Grenzen der Höflichkeit hinauszugehen, unsere Abreise aber in das strengste Geheimnis zu hüllen. Sprich also nicht mehr von ihm, gedenke seiner auch nicht weiter; er verdient es nicht; er hat sich gezeigt als Wolf im Schafskleide, und das Schwert Gideon's wird auch ihn erreichen«.

Hertha seufzte tief; sie konnte sich mit dem Gedanken nicht aussöhnen, auch Weatherton als einen Feind ihres Glaubens betrachten zu müssen. Und dennoch erschien es ihr als ein untrüglicher Beweis seiner Falschheit, daß er nicht mehr vor sie hingetreten war, wie er es an Bord des Leoparden so fest versprochen, statt dessen aber einen Durchsuchungsbefehl für sich erwirkt hatte.

Was veranlaßte ihn zu solch feindlichem Auftreten? Was aber konnte er bezwecken, als er, anstatt in seinem Verkehr mit ihr sich als offenen, ehrlichen Feind auszuweisen, sich hinterlistig mit der Maske opferwilliger Freundschaft umgab?

Indem Hertha so dachte, vergegenwärtigte sie sich alles was Weatherton während der kurzen Bekanntschaft zu ihr gesprochen hatte, und so lebhaft schwebten die Szenen ihres letzten Zusammenseins mit ihm ihrem Geiste vor, daß sie sogar den wohlwollenden Ton seiner Stimme zu vernehmen meinte.

»Unmöglich, unmöglich«, klang es traurig und zweifelnd unter ihrem Schleier hervor, den sie wieder hatte fallen lassen.

»Warum entfernen wir uns denn heimlich, wie Verbrecher?« fragte Jansen, und seine Zähne rieben heftig aufeinander vor fanatischer Wildheit, und weil Hertha noch immer an der mit so viel Überlegung vorgespiegelten Verräterei des verhaßten und zugleich gefürchteten Offiziers zweifelte.

»Leider, leider bin ich gezwungen, an seine Unaufrichtig- keit zu glauben«, erwiderte Hertha leise, »es wurde uns schwer, die gute Meinung, die ich von ihm hegte, so plötzlich aus meinem Herzen zu reißen. Aber an ihn denken muß ich unwillkürlich, lieber Onkel«, fügte sie mit kindlicher Offenheit hinzu, »ich werde seiner gedenken, so wie er sich auf dem Schiff zeigte, freundlich und teilnehmend, jedoch wie eines Verstorbenen; ich werde denken, es sei Jemand anders, der uns feindlich nachstellt; und wenn ich mich dadurch gegen unsere heilige Lehre versündige, so mag Gott mir vergeben, denn ich kann nicht anders.«

Sie bogen jetzt über die Straße nach der Landungsbrücke der California-Dampfer hinüber. Jansen antwortete daher nicht mehr auf die Äußerungen seiner Nichte; aber besorgt schaute er nach beiden Seiten, und vorsichtig vermied er mit den vereinzelten Gestalten, welchen sie hin und wieder auf der Werftstraße begegneten, in zu nahe Berührung zu kommen.

Die anderen beiden Mormonen und Demoiselle Corbillon folgten ihm schweigend nach.

Als Jansen die Brücke erreichte und die schwarzen Umrisse des zur Fahrt bestimmten Bootes deutlicher hervortraten, blieb er stehen, scheinbar um sich nach seinen Genossen umzuschauen. Es mußte dies ein verabredetes Zeichen sein, denn es bewegte sich ein Mann hinter einem der mächtigen hölzernen Tragpfeiler hervor und schritt gerade auf die Gruppe der Mormonen zu.

Hertha wurde von heftigem Zittern befallen und schmiegte sich ängstlich an den Arm ihres Onkels an.

»Beruhige Dich, es ist ein Freund«, flüsterte Jansen, und gleichzeitig wandte er sich dem Angekommenen zu, der sich jetzt dicht vor ihm befand.

»Ist alles sicher?« fragte er hastig.

»Ich habe nichts Verdächtiges wahrgenommen«, antwortete der Baron in wichtigem Tone, denn er war es, der von seinen neuen Brotherren hier als Schildwache aufgestellt worden war.

»Sind Eure Sachen an Bord?« fragte Abraham herantretend,

»Alle an Bord; wir können jeden Augenblick nachfolgen.«

»Gut, Herr; begebt Euch also nach der bewußten Stelle, um Euern Freund daselbst zu erwarten. Sobald er bei Euch eingetroffen ist, kommt Ihr aufs Schiff, wo Ihr Euch Mr. Jansen, Eurem nächsten Vorgesetzten, zur Verfügung stellt. Vor allen Dingen vergeßt nicht, was ich Euch betreffs der Tür ans Herz legte.«

»Ich werde, um das Anrufen zu vermeiden, bis dahin auf dem Verdeck bleiben«, fügte Jansen hinzu, sobald Abraham geendigt.

»Verlaßt Euch auf mich«, versetzte der Baron etwas gedehnt, denn er strengte sich aufs äußerste an, durch die Dunkelheit hindurch einen Blick auf Hertha's und demnächst auf Demoiselle Corbillon's Züge zu erhaschen.

»Die Damen waren aber zu dicht verschleiert, und als er, vielleicht mehr als Gewohnheit, als um seine Sehkraft zu verschärfen, das Lorgnon vor sein Auge gebracht hatte, da war die ganze Gesellschaft schon, ohne ihn weiter zu beachten, bei ihm vorübergeglitten.

»Famos!« murmelte er vor sich hin, indem er auf dem Hacken umkehrte und der Stadt wieder zuschritt. »Entführungen, verschleierte Frauen, eifersüchtige Männer? Famos! Die Sache wird interessant. Fortuna ist nicht blind, und weiß wohl, wen sie mit ihren Gunstbezeugungen zu beehren hat. Auf Ehre! Verspricht eine famose Existenz zu werden!« So denkend, schlenderte er langsam davon. Er war so zufrieden mit sich selbst und den sich ihm eröffnenden Aussichten, als wenn die von ihm angerufene Glücksgöttin wirklich ihr ganzes Füllhorn voll lauter Blumen und süßer, wonniger Träume über ihn ausgeleert hätte.

Die Mormonen waren unterdessen bei dem Dampfer angekommen, wo sie, in Folge eines kurz vorher gegebenen, wenig auffälligen Signals, am Fuße der treppenähnlichen Laufplanke von einem Manne in Seemannstracht empfangen wurden. Nur einige Worte wechselten sie mit diesem in flüsterndem Tone, worauf sie beim Schein einer trüben Schiffslaterne die Treppe hinaufstiegen.

Derselbe Mann, der sie unten erwartet hatte und der offenbar mit zu der Bemannung des Dampfers gehörte, begleitete sie bis an die Kajütentreppe, auf welcher ein schwarzer Aufwärter mit einem Lichte stand, um ihnen hinunter zu leuchten.

Der zuerst erwähnte Mann löschte seine Laterne aus und entfernte sich. Er hatte das, was man von ihm verlangte und wofür er gewiß sehr hoch bezahlt worden war, ausgeführt und wollte daher nicht weiter hindern.

»Wir müssen scheiden«, sagte Abraham, als Jansen eben im Begriff stand, seine Nichte hinunterzuführen.

»Schon?« fragte Jansen, die Stufe, die er hinuntergestiegen war, schnell wieder hinauftretend.

»Es dürfte nicht ratsam für mich sein, hier länger zu verweilen«, versetzte Abraham, indem er zuerst Jansen und dann Rynolds die Hand reichte. »Wir haben beraten, was zu beraten war; Ihr seid im Besitz der Briefe und Dokumente; Ihr wißt, an wen Dir Euch nach Eurer Ankunft in Kalifornien zu wenden habt; es bleibt mir daher nur noch übrig, die Grüße zu wiederholen, welche ich Euch an unsere Brüder und Schwestern aufgetragen habe. Versichert sie meiner opferwilligen Treue, und ich hoffe, die Zeit ist nicht mehr fern, in welcher auch ich meine Heimat in der heiligen Salzseestadt aufschlage, die dann wohl schon die Metropole eines unabhängigen, starken, im steten Wachstum begriffenen Staates sein wird.«

»Das walte Gott!« sagten wie aus einem Munde Jansen und Hertha, während Rynolds diese Worte nur mechanisch aussprach, und Demoiselle Corbillon einen sehr vielsagenden, tiefen Seufzer ausstieß.

»Nur noch eine Bitte richte ich an Euch«, sagte Hertha, als Abraham auch ihr die Hand zum Abschied drückte, »nur noch eine Bitte«, wiederholte sie, und der Ton ihrer Stimme verriet, daß sie mit Gewalt gegen eine mächtige innere Erregung ankämpfte. »Wenn vor Abgang dieses Schiffes Nachrichten von meiner Schwester einlaufen sollten, o, dann sucht es möglich zu machen, mir dieselben noch zuzustellen.«

»Es soll geschehen, mein liebes Kind«, antwortete Abraham zögernd, denn er vergegenwärtigte sich unwillkürlich den Schmerz, welchen Hertha bei der Nachricht, daß sie keine Schwester mehr habe, empfinden würde.

»So lange vernahm ich nichts Zuverlässiges über sie«, fuhr Hertha sanft klagend fort, »und eine unerklärliche Angst ergreift mich, wenn ich überhaupt an sie denke. Ich hatte so sicher daraufgerechnet, Briefe von ihr vorzufinden; aber es war eine bittere Täuschung. Wenn ihr nur kein Unglück widerfahren ist!«

Jansen hatte sich abgewendet; das ursprünglich weiche, aber mit harter Rinde umgebene Herz des finsteren Fanatikers rührte sich bei den Ausbrüchen inniger, schwesterlicher Liebe und Besorgniß. Er wagte in diesem Augenblick nicht zu seiner Nichte zu sprechen.

»Der Krieg, der unheilvolle Krieg«, sagte Abraham, nachdem er eine Weile vergeblich darauf geharrt, daß ein anderer das Wort ergreifen würde; »auch Ihr, meine Tochter seid bis zu einem gewissen Grade, trotz Eurer Jugend, schon eine Märthyrin des Mormonentums; auch Ihr seid dazu auserkoren, zu leiden von den Nachstellungen der ruchlosen Feinde, die fast jede Verbindung unserer heiligen Stadt mit der Außenwelt abgeschnitten haben. Aber Gott wird sie züchtigen und jeden Tag unserer irdischen Sorgen in ein Jahrhundert paradiesischer Freuden verwandeln. Darum vertraut auf ihn, der sichtbar sein Wohlgefallen an der Gemeinde der Heiligen der letzten Tage durch die wunderbare Übermittelung der verlorenen Gesetzestafeln an den Tag gelegt hat.« –

»Ich vertraue auf ihn!« entgegnete Hertha mit festerer Stimme, indem sie sich aufrichtete, »aber solcher erhebender Ermahnungen, wie die Eurigen, werde ich noch oft bedürfen, sollen die irdischen Sorgen in schwachen Stunden mein Vertrauen und meinen Glauben nicht erschüttern.«

»So lebt denn wohl; was ich eben zu Euch sprach, ist nur ein schwacher Abglanz der göttlichen Lehren unserer weisen Propheten. Gottes Segen geleitete Euch auf Eurer langen Reise und führe Euch wohlbehalten dahin, wo Dir im Kreise von Schwestern und Brüdern die Herrlichkeit des Erlösers erschaut und mit ganzer Hingebung verehren lernt.«

»Amen!« sagte Hertha innig, ihre großen unschuldigen Augen andächtig zum nächtlich erleuchteten Firmament aufschlagend.

Abraham gab der Gouvernante die Hand und lüftete zugleich seinen Hut etwas. Die genannte Dame verneigte sich übermäßig höflich, hätten ihre Augen aber die Dunkelheit besser zu durchdringen vermocht, so würde sie erschrocken sein vor dem höhnischen Zug, der um Abraham's Mund spielte.

In der nächsten Minute befand der Mormonen-Agent sich auf der Treppe, die nach der Landungsbrücke hinunterführte. Hertha und ihre Begleitung dagegen begaben sich nach der Kajüte hinab. Der Neger leuchtete ihnen voran und zeigte ihnen die Kojen, die sie vor Abfahrt des Bootes nicht mehr zu verlassen gedachten. –

Draußen indes wurde es stiller und stiller. Nur noch selten schallte das Schnauben von Flußdampfern herüber, die den Werften zueilten. Die Laternen auf den Schiffen brannten düsterer; das summende und rasselnde Geräusch in den Straßen der Stadt begann zu ersterben; die Nachtschwärmer dachten daran, sich auf den Heimweg zu begeben; der ehrsame Bürger aber lag schon längst im tiefsten Schlaf, nur noch in seinen Träumen den Verkehr mit der übrigen Welt aufrecht erhaltend. Hier zählte er Unmassen von Goldstücken, die sich plötzlich und zu seinem Schrecken unter seinen Händen in lauter Austernschalen verwandelten; dort ordnete er mühsam die in seinem Laden befindlichen Verkaufsgegenstände, die alle Leben erhalten hatten und sich auf beängstigende Weise durcheinander bewegten. Auch gebetet wurde in den Träumen, und Neger wurden gepeitscht, und sogar von Leuten, die Beides noch nicht oft in ihrem Leben getan hatten. Dann erwachte auch wohl der eine oder andere, um sich zu freuen; dieser, weil sein schrecklicher Traum eben nur ein Traum gewesen, jener, weil er an glückliche Verheißungen glaubte. Und so streute der Schlaf zusammen mit seinen Mohnkörnern die neckischsten Bilder auf die müden Menschen herab, hier ängstigend und strafend, dort tröstend, erfreuend und die Schmerzen lindernd. Unter dem Schutze der Dunkelheit aber schlichen einher in den verödeten Straßen die Sünde und das Verbrechen.


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