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Ein Wiedersehen und viele, viele Briefe

Es war nun schon mitten in der schönsten Frühlingszeit. Alles blühte und grünte so herrlich und wonnevoll, daß den Menschen das Herz aufging vor Freude. Da kam einmal der Briefträger in den Höllgruberhof und brachte einen sehr fein und zierlich aussehenden Brief an Herrn Höllgruber.

Der Bauer sah ihn an, brach ihn auf und rief nach Anna: »Komm, Annerl, lies mir vor, was drinnen steht. Ich habe meine Augengläser nicht bei mir.«

Der Brief war sehr deutlich und nett geschrieben und Annerl las mit großem Ernst:

 

»Geehrter Herr Höllgruber!

Durch meine Schwägerin, die vor zwei Jahren bei Ihnen auf Sommerfrische war, habe ich erfahren, daß Sie eine Sommerwohnung zu vermieten haben. Meiner Schwägerin hat es in Lichtenbrunn sehr gefallen. Und ich möchte, wenn ich eine passende Wohnung finde, ebenfalls gern einmal einen Sommer dort zubringen.

Ich brauche zwei Zimmer mit zusammen fünf Betten (vier große und ein Kinderbett), eine Küche und eine Kammer für das Dienstmädchen. Wenn die Wohnung bei Ihnen noch frei ist, bitte ich mich gleich zu benachrichtigen, ich würde sie mir dann noch selber anschauen kommen.

Hochachtungsvoll
Frau Doktor Emma Schlosser.«

 

»Ach so, wegen der Sommerwohnung,« sagte der alte Bauer, »ja, da muß ich mit der Mutter reden, Annerl.«

Und er ging in die Küche hinaus und sprach mit der Mutter, ob sie das »Stöckel«, das für die alten Leute, die im Ausgedinge lebten, erbaut war, Heuer wieder vermieten sollten.

»Warum nicht,« sagte Frau Höllgruber. »Mir hat es ohnehin leid getan, daß wir voriges Jahr keine Sommergäste hatten. Und die Frau Schlosser, die vor zwei Jahren hier war, das waren sehr, sehr liebe Leute. Wenn ihre Schwägerin auch so ist, so wär' mir das ganz recht.«

»Wir können es uns ja noch überlegen,« meinte der Bauer, und sie überlegten es sich drei Tage, dann rief der Vater am Abend Annerl zu sich an den Tisch und diktierte ihr einen Brief, den sie mit ihren schönsten und steifsten Buchstaben sorglich hinmalte.

 

»Geehrte Frau Schlosser!

Teile Ihnen mit, daß unsere Wohnung noch frei ist und können Sie dieselbe jederzeit besichtigen. Kommt's nur bald heraus, es wird Euch schon gefallen.

Hochachtungsvoll
Herr Bernhard Höllgruber.«

 

Dann malte Annerl die Adresse, die in dem Briefe angegeben war, sorglich auf den Umschlag und trug den Brief selber in den Postkasten.

An den folgenden Tagen erzählte sie ihrer Puppe fortwährend von den erwarteten Sommergästen. »Weißt du, Liesel,« sagte sie vertraulich, »es ist viel lustiger, wenn man Sommerfrischler hat. Überhaupt wenn Kinder dabei sind. Die Frau Schlosser vor zwei Jahren hat nur zwei Buben gehabt, aber ich hab' doch ganz schön mit ihnen spielen können. Und was die mir immer erzählt haben von der Wienerstadt! Du, ich glaub' immer, die haben mich angelogen. Sie haben mir erzählt, in Wien ist ein Rad, so hoch wie ein Kirchturm, und da hängen lauter Eisenbahnwaggons dran. Und in den Waggons sitzen die Leute, und das Rad dreht sich mit ihnen in der Luft immer rundum, rundumadum. Das kann doch nicht wahr sein!«

Gerne hätte Puppe Liesel ihrem Mütterchen gesagt, daß es ein solches Rad wirklich gäbe, und daß sie selbst schon mit Traudel auf dem Riesenrad gefahren sei, aber leider konnte sie ja nicht sprechen. Und Anna erzählte ihr noch viele, viele andere Dinge, die die Schlosserbuben ihr berichtet oder gezeigt hatten. So war auch die Puppe schließlich schon sehr auf das Erscheinen der Sommergäste gespannt.

Von Marie und den Zirkusleuten war indessen nichts zu hören und zu sehen. Es war auch nie eine Antwort auf Annas Karte gekommen. Dagegen dauerte es nicht lange, daß Herr Höllgruber wieder eine Karte von Frau Doktor Schlosser erhielt, auf welcher aber nur die Zeilen standen:

»Ich komme Sonntag mit dem Neunuhrzug nach Lichtenbrunn, um mir die Wohnung anzusehen.«

Als Anna am nächsten Sonntag in der Kirche saß, war sie nicht so ruhig und andächtig wie sonst. Sie dachte immerzu an die fremde Dame, die heute zu ihnen kommen sollte. Die Messe dauerte bis zehn Uhr, bis dahin hatte sich die Frau die Wohnung sicher schon angesehen und war vielleicht schon wieder fortgegangen. Und sie wollte sie doch gar so gerne sehen! Sie konnte es gar nicht erwarten, bis der Priester endlich die letzten Worte gesprochen und die Gemeinde entlassen hatte. Dann drückte sie sich, ganz gegen ihre Gewohnheit, zwischen den steifen Röcken der Bauersfrauen ins Freie hinaus und lief nach Hause.

»Ist die Frau noch da?« fragte sie den Halterbuben, der gerade über den Hof ging.

»Grad sind's da eini gangen,« sagte er und wies auf die große Wohnstube. Leise trat Anna ein. Auf der Ofenbank lag Puppe Liesel, mit dem Gesicht nach unten. Die Mali hatte sie beim Aufräumen sicher wieder vom Fenster weggenommen! Die machte das immer so! Anna nahm die Puppe auf und drückte sich an der Wand schüchtern bis zum Fenster hin. Dort saß die Mutter auf der Bank, und ihr gegenüber auf dem Stuhl eine schlanke, noch junge Frau, an die sich ein blondlockiges Mädchen lehnte, gerade von Annas Größe.

»Ach,« dachte sich Anna sofort, »wenn sie nur die Wohnung nehmen möchten, daß ich mit dem Mäderl spielen könnte!«

»Die Wohnung gefällt mir sehr gut und würde gerade für uns passen,« sagte die fremde Frau. Da sah sie Annerl und hielt einen Augenblick inne.

»Mein jüngstes Mäderl,« sagte Frau Höllgruber und schob Anna ein wenig nach vorn. »Tu schön grüßen, Annerl!«

Aber bevor Anna noch ein Wort sprechen konnte, war das fremde, blonde Mädchen plötzlich auf sie zugestürzt, hatte ihr die Puppe aus der Hand genommen und rief in höchster Erregung: »Puppe Liesel! Puppe Liesel!«

Anna und die beiden Frauen sahen sich überrascht und staunend an. Am meisten aber staunte Liesel. Das kleine Mädchen, das sie in der Hand hielt und ihr immerfort ganz aufgeregt die Wangen streichelte, war – ach, werdet ihr's denn glauben? – war niemand anders als ihre Traudel! Frau Doktor Schlosser aber trat nun rasch auf die beiden kleinen Mädchen zu. »Laß der Kleinen ihre Puppe, Traudel,« sagte sie, »denn Puppe Liesel wird es ja doch nicht sein, wahrscheinlich sieht sie ihr nur ähnlich.« »Nein, nein, es ist meine Puppe Liesel, ich erkenn' sie doch,« rief Traudel, und vor Aufregung schossen ihr die hellen Tränen aus den Augen.

»Sie heißt wirklich Liesel,« sagte Anna mit ihrer ruhigen Stimme. »Es steht auf ihrem Hemderl.«

»Siehst du, Mutter? Hörst du? Auf ihrem Hemderl! Ich hab' es eingestickt!« Mit zitternden Fingern zog Traudel der Puppe das Kleidchen aus. Sie schrie fast, als sie das Hemdchen sah: »Da, Mutter, da! Meine Puppe Liesel! Meine Puppe Liesel!«

Frau Doktor Schlosser betrachtete die Puppe in höchstem Erstaunen und sagte, zu der Bäuerin gewendet: »Das ist wirklich die Puppe, die meine kleine Tochter vor einem Jahr verloren hat. Das Hemdchen habe ich genäht und Traudel hat den Rand gehäkelt und den Namen hineingestickt. Ja, wie kommt denn diese Puppe nach Lichtenbrunn?«

»Erzähl', Annerl,« sagte die Bäuerin. Und Anna sagte:

»Die Puppe hat mir ein Spielermädel gegeben – von einem Zirkus war sie, der einmal in Lichtenbrunn war. Ich soll sie ihr aufheben, bis sie im Frühjahr wieder zurückkommt.«

»Na, weißt du vielleicht auch, Annerl, woher das Spielermädel die Puppe bekommen hat?«

»Der hat sie die Susi geschenkt.«

»Wer ist denn die Susi?«

»Ihre Freundin.«

»Weißt du nicht, wo sie wohnt?«

»In Recknitz wohnt sie.«

»In Recknitz? Das ist ja wieder ganz wo anders! Und woher hatte denn die Susi die Puppe?«

»Der hat sie ein Adler gebracht.«

»Ein Adler???«

»Ja, ein Adler. Die Marie hat es mir oft erzählt. Der Susi ihr Vater hat ihn geschossen, und da hat er die Puppe in den Krallen gehabt.«

.

»Der wird sie eben dort bei der Eisenbahn gefunden haben, wo sie damals aus dem Fenster gefallen ist. Ach, Puppe Liesel, Puppe Liesel!« Außer sich vor Seligkeit tanzte Traudel mit der Puppe im Zimmer herum. Frau Doktor Schlosser wendete sich lächelnd zu der Bäuerin:

»Sehn Sie, Frau Höllgruber, daß meine Traudel ihre Puppe gefunden hat, das ist schon ein Zeichen, daß wir nach Lichtenbrunn kommen sollen. Also ich nehme die Wohnung. Ende Juni kommen wir her.«

»Ist recht, Frau Doktor. Wir werden die Wohnung recht schön herrichten bis dahin. Das Kinderbetterl kriegen sie auch noch hinein. Fahren sie jetzt gleich wieder fort?«

»Nein, ich will mit der Traudel jetzt im Gasthaus essen und dann ein bißchen spazieren gehen und die Gegend anschauen. Um vier Uhr geht unser Zug.«

»Darf ich dann die Puppe gleich nach Wien nehmen, Mutter?« bettelte Traudel.

Frau Doktor Schlosser sah erst sie und dann die kleine Anna an, die mit einem ganz stillen Gesichtchen, das schwere, zurückgehaltene Betrübnis verriet, beiseite stand!

»Ja, das ist eine schwierige Sache,« sagte sie dann, »die Puppe gehört unstreitig dir, Traudel, das kann ich bezeugen. Aber der Annerl wird es schwer, sie herzugeben, gelt, Annerl?«

Anna nickte und schluckte. »Ja,« sagte sie, »ich muß doch die Puppe für die Marie aufheben!«

»Weißt du was, Traudel, ich denke, wir lassen die Puppe unterdes noch bei der Annerl. Du weißt jetzt, wo sie ist, und daß die Annerl gut für sie sorgt. In ein paar Wochen kommen wir ohnehin heraus und da könnt ihr dann beide mit der Puppe spielen. Ja, ist es so recht?«

»Aber die Marie darf die Puppe auch nicht wegtragen,« sagte Traudel mit großem Widerstreben.

»Nein, das darf sie nicht. Ich werde die ganze Geschichte dem Vater erzählen, der wird sich furchtbar dafür interessieren. Vielleicht kriegt er heraus, wo die Marie steckt, und kann ihr schreiben, daß die Puppe dir gehört. Wir müssen doch wirklich herausbekommen, was für Irrwege sie gemacht hat! Ich will mir gleich die Namen aufschreiben, die die Anna uns gesagt hat.«

Frau Doktor Schlosser zog ihr Taschenbuch heraus und Anna diktierte: »Marie Müller, Zirkus Molinari, Kirchdorf.

Susi, in Recknitz …«

Ja, den Familiennamen von Susi hatte Anna leider vergessen.

»Viel ist das nicht,« meinte Frau Doktor Schlosser, »aber vielleicht bringt es uns doch auf die richtige Spur. Und jetzt will ich noch einen Vorschlag machen. Frau Höllgruber, wäre es Ihnen recht, wenn die Annerl nachher mit uns spazieren geht? Da könnten sich die Kinder anfreunden und könnten die Puppe abwechselnd tragen?«

»Freilich ist mir's recht,« sagte die Bäuerin, und nun nahmen die Gäste aus der Stadt freundlichen Abschied und gingen zu ihrem Mittagessen. Eine Stunde später holte Anna sie ab und es gab einen wunderschönen Spaziergang durch die liebliche Gegend von Lichtenbrunn, die in reichem Zauber der Baumblüte stand. Lerchen trillerten hoch über den wogenden Saatfeldern und alle Bachränder, alle Wegraine waren bunt von Blumen. Die beiden kleinen Mädchen gingen Hand in Hand und trugen abwechselnd die Puppe im Arm. Und Anna erzählte, wie sie krank gewesen war und wie die Liesel so treu auf dem Fensterbrette gesessen und immer nach ihr hingeschaut habe. Und Traudel erzählte, daß Liesel schon in Wien eine so besonders liebe und gute Puppe gewesen sei.

»Ich habe noch einen ganzen Koffer voll Kleider von ihr zu Hause,« sagte sie, »weißt du, die sind im Zug geblieben, wie die Liesel zum Fenster hinausgefallen ist. Das war ein Schreck! Das Christkind hat mir dann eine neue Puppe gebracht, die fast genau so wie die Liesel aussieht, nur hat sie dunklere Haare und braune Augen. Ich habe sie auch sehr lieb, aber die Liesel hab' ich noch lieber.«

»Wie heißt denn die neue Puppe?«

»Lotte.«

»Das ist ein schöner Name. Die Puppe mußt du im Sommer auch mitbringen.«

»Ja, natürlich, Anna. Dann werden wir zwei Puppen haben. Ach, da werden wir schön spielen können!«

Die Kinder vertieften sich ganz in die Ausmalung künftiger Sommerfreuden und wollten es gar nicht glauben, als die Mutter sagte, es sei nun Zeit zum Zug. Es hieß aber wirklich schon Abschied nehmen; aber die beiden dachten jetzt weniger an die Trennung, als an das künftige Wiedersehen, und als der Zug sich in Bewegung setzte, da winkte die eine drinnen und die andere draußen mit dem Taschentuch und rief: »Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«

Am Abend desselben Tages aber, als Traudel schon lange in ihrem Wiener Bettchen schlief, saß Frau Doktor Schlosser noch mit ihrem Manne zusammen und erzählte ihm die seltsame Geschichte von Puppe Liesels Abenteuer, soweit sie davon schon erfahren hatte.

Doktor Schlosser lachte lustig. »So etwas Gelungenes habe ich noch nie gehört,« sagte er, »jetzt möchte ich nur ganz genau wissen, wie sich das alles zugetragen hat, besonders das mit dem Adler. Wenn man nur wüßte, wo diese Marie und diese Susi stecken!«

»Das ist alles, was Anna mir sagen konnte,« sagte die Mutter und las die Namen in ihrem Taschenbuch vor!

Als Doktor Schlosser den Namen Kirchdorf hörte, stutzte er. »In Kirchdorf ist ein Jugendfreund von mir Gemeindearzt,« meinte er. »Wenigstens war er es bis vor ein paar Jahren. Ich habe jetzt schon lange nichts mehr von ihm gehört. Von dem könnte man vielleicht etwas über die Seiltänzertruppe erfahren.«

Und da er ein Mann der raschen Entschlüsse war, setzte er sich also gleich an den Tisch und schrieb folgenden Brief:

 

»Lieber Kurt!

Du wirst Dich wohl wundern, nach so langer Zeit wieder einmal einen Brief von mir zu bekommen und wirst Dich noch mehr wundern, wenn Du hörst, was der Anlaß dieses Briefes ist.

Der Anlaß ist die Puppe meiner kleinen Tochter.

Vor Jahresfrist fiel ›Puppe Liesel‹ uns aus dem Fenster des Eisenbahnzuges, zwischen dem Semmering und Bruck a. d. Mur. Wir gaben sie natürlich für verloren. Heute hat meine Frau, die in Lichtenbrunn eine Sommerwohnung suchte, die Puppe dort im Besitz einer kleinen Bauerntochter vorgefunden.

Wie kommt die Puppe aus dem Mürztal nach Lichtenbrunn? Laut Aussage der kleinen Anna befand sie sich früher im Besitz eines Mädchens, namens Marie Müller, die zu dem Wanderzirkus Molinari gehörte. Dieser soll sich auch in Kirchdorf aufgehalten haben. Vielleicht kannst Du mir sagen, wohin er sich von dort gewendet hat, damit ich die Leute allenfalls ausfindig machen kann. Ich erhoffe mir von ihnen Auskunft über eine gewisse ›Susi in Recknitz‹, die der kleinen Marie die Puppe geschenkt hat. Sie selbst soll sie von einem ›wilden Adler‹ erhalten haben. Du siehst, ein ganzer Abenteuerroman!

Ich hoffe, daß es Dir immer gut geht und bleibe mit herzlichen Grüßen

Dein alter Freund Ernst.«

 

Es zeigte sich, daß der Gemeindearzt in Kirchdorf sich gerade so schnell zum Schreiben entschlossen hatte – nicht alle Leute tun das – wie sein Freund in Wien. Zwei Tage später war schon seine Antwort da. Als Doktor Schlosser den Brief öffnete, fiel ihm zunächst ein kleiner Zeitungsausschnitt entgegen, dessen Inhalt lautete:

»(Schwerer Unglücksfall.) Bei der gestrigen Schlußvorstellung im Zirkus Molinari stürzte der Inhaber desselben, Berthold Müller, genannt Molinari, bei einem schweren Kunststück aus sechs Meter Höhe derart unglücklich ab, daß er außer einem komplizierten Beinbruch wahrscheinlich auch innere Verletzungen erlitt. Er wurde sofort mit dem Rettungsauto ins Spital nach Landberg geführt.«

Und der Brief selbst hatte folgenden Inhalt:

 

»Lieber alter Freund!

Dein Brief sowie sein kurioser Inhalt haben mir viel Freude gemacht. Von der Truppe Molinari kann ich Dir nicht mehr berichten, als in beiliegendem Zeitungsausschnitt steht. Vielleicht könntest Du in Landberg im Spital erfahren, wohin die Leute von dort aus gegangen sind. Es war eine traurige Geschichte. Ich selbst habe dem Verunglückten damals den ersten Verband angelegt, ich erinnere mich sehr gut noch seiner abgehärmten und blassen Frau, die, obwohl bis ins Innerste erschüttert, mit dem Aufgebot aller Tapferkeit meine Anordnungen durchführte und ihren Leuten die nötigen Weisungen gab. Die beiden kleineren Kinder, darunter auch die von Dir erwähnte Marie – eine süße, kleine Mignon – standen, vor Schreck versteinert, neben ihr. Die ganze Familie machte einen sehr netten, soliden Eindruck, wie man ihn bei Leuten ihres Berufes gar nicht gewöhnt ist.

Gründlichere, ja geradezu erschöpfende Auskunft kann ich Dir über ›Susi in Recknitz‹ geben. Das ist nämlich meine eigene kleine Nichte, die Tochter des Oberförsters Pausewang in Recknitz. Durch sie weiß ich auch von der Puppe, die ihr Vater tatsächlich aus den Klauen eines von ihm geschossenen, ungewöhnlich großen Geiers (nicht Adlers natürlich) losgelöst hat. Schreibe nur direkt an die Familie, wo Du die Puppe wiedergefunden hast; Susi wird sich furchtbar freuen, wieder etwas von ihr zu hören.

Es ist ein ausgezeichneter Gedanke von Dir, nach Lichtenbrunn zur Sommerfrische zu kommen. Da kann ich einmal zu Euch hinüberfahren und endlich Deine liebe Frau und Deine Kinder kennenlernen. Ich habe vor anderthalb Jahren ebenfalls geheiratet. Meine Frau bring' ich dann natürlich auch mit.

Herzlich grüßt Dich

Dein alter Doktor Krattner.«

 

»Na, da wissen wir ja schon eine ganze Menge,« sagte Traudels Vater befriedigt, als er den Brief gelesen und den Inhalt seiner Frau und Helmut und Traudel mitgeteilt hatte. »Nun müssen wir also noch an das Spital in Landberg schreiben.«

»Und ich möchte an Susi Pausewang schreiben, ja, Vater, darf ich?« fragte Traudel. »Ich muß ihr doch danken, daß sie meiner Puppe das Leben gerettet hat.«

»Sie nicht, sondern ihr Vater,« verbesserte der weise Helmut.

»Sie kann es ihrem Vater ja weitersagen,« meinte Traudel unbeirrt. »Gelt, Vater, ich darf schreiben?«

Der Vater erlaubte es gern, aber bei Traudel dauerte es schon immer ein paar Tage, bis ein geplanter Brief zur Tat wurde. Die Anfrage ihres Vaters an das Spital dagegen ging noch am selben Tage fort und die Antwort ließ auch nicht lange auf sich warten. Sie teilte aber nur in kurzen Worten mit, daß Berthold Müller nach seiner Genesung im November von Landberg nach Wiener Neustadt abgereist sei.

Dieser Bescheid schien der Mutter sehr wenig zu sagen. Aber der Vater war ganz zufrieden damit. »Wir sind wieder um einen Schritt weiter. Und es trifft sich sogar ganz wunderbar, daß es gerade Wiener Neustadt ist. Ich muß doch nächste Woche zum Kommerzialrat Sutor hinunterfahren, da kann ich mich gleich nach dem Molinari umsehen.«

»Aber Wiener Neustadt ist groß, da wird es Hunderte von Müllers geben,« sagte die Mutter zweifelnd.

»Ich finde schon den richtigen heraus, verlasse dich darauf,« sagte der Vater.

Und als er am nächsten Mittwoch abend von seiner Reise nach Wiener Neustadt zurückkehrte, da war er halb froh, halb ernst gestimmt. Er hatte die Familie Müller wirklich, wenn auch unter unzähligen Schwierigkeiten, ausfindig gemacht, aber er hatte sie in schlimmer Notlage gefunden. Der Signor Molinari, der den schweren Fall getan, war zwar wieder ganz geheilt worden, aber sein Bein war um zwei Zentimeter kürzer geblieben. Es war ihm unmöglich, sein Brot wie bisher als Zirkuskünstler zu verdienen. Aber auch das Maurerhandwerk, das er als junger Mann erlernt hatte, konnte er nicht mehr ausüben. Und wo er sonst auch anklopfte, niemand wollte den verkrüppelten Mann als Arbeiter oder Diener bei sich anstellen, zumal ihm noch der üble Beiname »Seiltänzer« anhaftete, den viele für unvereinbar mit Anständigkeit und Ehrlichkeit hielten. So saß er verbittert und müßig in der kleinen Wohnung und machte seiner Frau, die es ohnehin nicht leicht hatte, das Leben noch schwerer. Das lange Krankenlager Molinaris hatte alle Ersparnisse vom Sommer her, ja sogar auch einen Teil der Kaufsumme verschlungen, die man für die Einrichtung des Zirkusses, für Wagen und Pferde und alles Dazugehörige erhalten hatte, mit dem jetzt ein anderer Unternehmer durch die Welt zog. Frau Müller verdiente durch Nähen und Sticken, soviel sie nur konnte, auch der vierzehnjährige Martin hatte tapfer Beschäftigung gesucht, hatte im Winter Schnee geschaufelt und Kohlen getragen; aber das alles trug nur ein schmales Brot. Jetzt war Martin mit dem Onkel Pepi wieder bei einer anderen Wandertruppe und nur Heinrich und Marie waren zu Hause.

»Die kleine Marie ist wirklich ein süßes Kind,« erzählte Doktor Schlosser, »eine holde, kleine Erscheinung, aber von durchsichtiger Blässe und Zartheit. Der Bruder ist etwas kräftiger. Aber der Frau stehen Sorge und Kummer ins Gesicht geschrieben.«

Frau Doktor Schlosser war ganz ergriffen. »Könnte man nicht irgend etwas für die Familie tun?« fragte sie dringlich.

»Ich habe schon etwas für sie getan,« sagte Doktor Schlosser mit einem behaglichen Schmunzeln.

»Ja, was denn, was denn, Ernst?«

»Ich habe nachher bei Kommerzialrat Sutor gespeist. Das war ein Gegensatz! Hier Luxus und dort – diese Armut. Da kam mir ein Gedanke. Ich brachte den Kommerzialrat auf sein Lieblingsthema: die Einstellung neuer Maschinen für Arbeiter, die durch einen Unfall in seinem Betrieb zu Krüppeln geworden sind. Ich ließ ihn erst des langen und breiten die Vorzüge und Erfolge dieser Neueinführung schildern, dann sagte ich: ›Nun, Herr Kommerzialrat, ich wüßte einen Mann, dem mit der Beschäftigung an einer solchen Maschine ganz hervorragend geholfen wäre.‹? ›Und wer wäre das?‹ fragte er. Da erzählte ich ihm die ganze Geschichte von Berthold Müller. Als ich das Wort ›Wanderzirkus‹ aussprach, wurde sein Gesicht sehr abweisend und er sagte: ›Ich habe bei der Aufstellung dieser Maschinen an die Versorgung meiner eigenen Arbeiter gedacht, nicht aber an verunglückte Seiltänzer.‹ Ich ließ aber nicht locker, schilderte ihm die Notlage, die Ehrlichkeit und Anständigkeit der Familie so eindringlich, daß er mir schließlich bestimmt versprach, Erkundigungen einzuziehen und, wenn sie gut ausfallen, den Mann bei sich anzustellen.«

»Das wäre ja ein großes Glück!« rief Frau Doktor Schlosser erfreut.

»Gewiß. Wenn der Mann sich bewährt – und er macht einen recht guten, wenn auch verbitterten Eindruck –, so wird er mit der Zeit gar nicht schlecht verdienen. Vielleicht kann später auch der kleine Junge als Lehrling in die Fabrik eintreten. Kommerzialrat Sutor hat mir mit Handschlag versprochen, daß er sich um die Familie kümmern will, und ich weiß, er ist ein Mann, der sein Wort hält.«

Als Traudel am nächsten Morgen gleich beim Erwachen fragte: »Vater, hast du die Marie gefunden?« und von dem Erfolg seiner Reise vernahm, freute sie sich so sehr, daß sie sich nun endlich auch zum Schreiben entschloß. Gleich nach der Schule legte sie sich Briefpapier, Tinte und Feder zurecht und schrieb:

 

»Liebe Susi!

Ich bin die Traudel, der die Puppe Liesel früher gehört hat. Sie ist mir voriges Jahr, am 28. Juni, als wir aufs Land fuhren, aus dem Eisenbahnzug gefallen. Wahrscheinlich hat sie der Raubvogel auf der Wiese gefunden und zu Dir getragen. Ich danke Dir, daß Du sie so gut gepflegt hast. Ich habe sie gleich wieder erkannt.

Gestern war der Vater in Wiener Neustadt bei Marie. Sie wohnt in der Dreyergasse Nr. 41. Es geht ihr sehr schlecht. Ihr Vater hat ein kurzes Bein und sie haben den grünen Wagen und alles verkaufen müssen. Sie können nicht mehr nach Lichtenbrunn und Recknitz fahren. Aber mein Vater hat mit einem Herrn gesprochen, daß der Herr Müller in seiner Fabrik arbeiten darf. Er glaubt, er wird es tun.

Es grüßt Dich Deine Dich liebende

Waltraut Schlosser.«

 

Und was niemand gedacht hatte, auch auf diesen Brief kam Antwort. Ein Blättchen Papier mit Eselsohren und Tintenspritzern, krumm und schief geschrieben, aber doch leserlich.

 

»Liebe Traudel!

Die Mutter hat der Marie geschrieben, daß sie im Sommer zu uns kommen soll. Ich freue mich so fürchterlich!!! Liebe Traudel! Bitte, besuche mich auch mit der Puppe Liesel!

Deine Susi.

 

NS. Die Puppe Liesel ist erst am 21. Juli zu uns gekommen. Nicht am 28. Juni. Der Vater hat es ausgeschrieben.

NS. Wenn die Marie den ganzen Sommer bei uns ist, lerne ich bestimmt auf den Händen laufen.«

   

Traudel zeigte den Brief freudestrahlend ihren Eltern.

»Das ist hübsch von Frau Pausewang, daß sie die kleine Marie über den Sommer zu sich nimmt,« sagte die Mutter.

»Sie ist überhaupt eine sehr gute Frau,« sprach der Vater, »Frau Müller hatte Tränen im Auge, als sie von ihr erzählte. Aber jetzt stimmt mir wieder etwas nicht.«

»Was denn, Vater?«

»Wir dachten doch, der Raubvogel hätte die Puppe auf der Wiese neben der Eisenbahn gefunden. Aber jetzt schreibt uns die Susi, daß er erst drei Wochen später geschossen worden ist. Wo war denn da die Puppe in der Zwischenzeit? Hätte sie immer auf der Wiese gelegen, so wäre sie doch öfters vom Regen durchnäßt und ganz ruiniert worden.«

»Nein, die Liesel war noch ganz schön,« rief Traudel eifrig.

»Drum glaube ich ja eben, daß sie in der Zwischenzeit wo anders war. Aber bei wem? Das werden wir wohl nie erfahren.«

Acht Tage später kam nochmals ein Brief an – der letzte der vielen Briefe, die mit der Auffindung der Puppe zusammenhingen.

 

»Sehr geehrter Herr Doktor!

Gestatten Sie mir, Ihnen mitzuteilen, daß mein Mann seit zwei Tagen in der Fabrik von Sutor arbeitet. Die Arbeit geht ihm sehr gut vonstatten und er ist bereits ein ganz anderer Mensch.

Werde ich jemals imstande sein, Ihnen, Herr Doktor, und Frau Pausewang für die Güte zu danken, die Sie uns erwiesen haben? Gott lohne es Ihnen an Ihren Kindern!

Hochachtungsvoll und dankbar

Ihre ergebene Agnes Müller.«

 

*


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