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Und nun war wieder ein Sonntag gekommen – der dritte, seitdem Liesel bei Resi Schwebskichl im winzigen, winzigen Häuschen wohnte. Dem Sonntag zu Ehren hatte Reserl ihr wieder das rosa Kleidchen angezogen, darin sie gefunden worden war, für die Wochentage hatte sie ihr schon längst ein blaues Kattunkleidchen angefertigt, so ähnlich wie sie selbst eins trug. Auf den Kopf drückte sie ihr ein niedliches Kränzchen aus bunten Stoffblümchen. Sie setzte die geschmückte Puppe vor die Türe des Häuschens auf die steinerne Stufe, den Rücken an die Wand gelehnt, und sagte: »So, Liesel, da kannst du in der Sonne sitzen und warten, bis du mich auf dem Wege zurückkommen siehst.« Denn Resi ging mit der Mutter ins Dorf zur Kirche, den Franzi trug die Mutter auf dem Arme mit, er sollte während des Gottesdienstes bei einer Muhme bleiben. Der Vater blieb des Dienstes wegen zu Haus. Alles war schön verwahrt und versorgt und die Mutter war mit den Kindern schon ein Stück weit durch die Wiese gegangen, da lief auf einmal die Resi wieder zurück, lockte die Henne mit den Küchlein in die Küche hinein und schloß hinter ihr zu. »Weißt, sonst kommt der Geier,« sagte sie wichtig, »und der Vater hat nicht Zeit zum Aufpassen.« Und dann lief sie der Mutter nach und Liesel sah sie miteinander durch die Wiese gehen, bis der Weg zu einem Ährenfelde führte und die hohen Getreidewogen über den Schreitenden zusammenschlugen.
Ganz still saß Puppe Liesel in der Sonne und hörte das Summen der Bienen und das Zirpen der Grillen und den hellen Klang der Glocken, der immer dringlicher zur Kirche rief. Sie sah in den blauen Himmel hinauf und nach den kreisenden, jagenden Schwalben. Sie war ganz glücklich und zufrieden, freute sich auf Resis Rückkunft und dachte an keine Gefahr …
Georg Schwebskichl, der an den Bahnschranken lehnte, hörte den gellenden Pfiff und lief, so schnell er konnte, herbei, er wußte nicht, daß die Hühnchen in der Küche waren … er rannte und schrie … aber schon war der schwarze Schatten vor seinem Hause niedergestoßen und wieder in die Höhe geflogen und er sah deutlich, daß er ein helles Bündelchen in den Fängen hielt. Laut schrie der Bahnwärter und klatschte in die Hände, in der Hoffnung, der Vogel würde die Beute fahren lassen, aber er flog pfeilschnell dem Walde zu und der Bahnwärter konnte gerade noch so viel sehen, daß das, was er in den Fängen trug, jedenfalls kein Küchlein war – es war viel größer und rosa gefärbt.
Die Puppe!
Ja, wahrhaftig, die Puppe. Der Bahnwärter erinnerte sich genau, daß sie auf der steinernen Stufe gesessen hatte. Und nun war sie verschwunden. Der hungrige Raubvogel hatte sie wohl für ein buntes Vöglein gehalten … und nun war sie weg. Georg Schwebskichl schüttelte den Kopf und ging eilends an seinen Posten zurück. Gleich mußte der Eilzug kommen, da mußten die Schranken geschlossen sein. »Was wird die Resi sagen?« dachte er dabei. Ein Eisenbahnzug brachte ihr die Puppe und ein Geier trägt sie ihr davon.
Ja, da flog die Puppe Liesel nun wirklich durch die Luft– so pfeilschnell und sausend, daß ihr, wäre sie ein Mensch gewesen, bestimmt die Sinne vergangen wären. Da sie aber nur eine Puppe war, kam sie nach dem ersten Schreck bald wieder zu ruhiger Besinnung. Was war denn nur mit ihr geschehen? Statt eines Hühnchens hatte der Raubvogel sie selber gepackt. Seine spitzigen, stählernen Klauen hatte er durch ihr schönes Sonntagskleid geschlagen und trug sie fort, weit, weit weg, seinem Horste zu. Wo der wohl sein mochte? Puppe Liesel hing mit dem Gesichte zur Erde und sah das ganze Gebiet der Felder und Wiesen wie ein großes Schachbrett unter sich liegen. Erst unterschied sie noch das bräunliche Band der Bahnstrecke und daneben ein kleines weißes Würfelchen, das winzige, winzige Häuschen. Dann verschwand das Bekannte, sie flogen über einen hohen dunklen Wald dahin, und dann wieder über Felder – nun kam ein anderer Wald, aus dessen Mitte der Spiegel eines kleinen Sees blinkte, und wieder Felder, Wiesen, Wälder in unaufhörlichem Wechsel. Liesel konnte deutlich erkennen, wie das Land immer gebirgiger und unwirtlicher wurde. Manchmal sah sie vereinzelte Häuser, einmal ein großes Dorf; wenn sich der Flug ein wenig senkte, konnte sie sogar Menschen dort unten unterscheiden! Aber noch immer flog der Vogel weiter. In der Ferne reckte sich eine steile, schwindelnde Felswand in die Höhe, dorthin schien er zu zielen.
»Was wird dort mit mir geschehen?« dachte sich Liesel neugierig, aber nicht eigentlich bang. Denn so viel wußte sie, daß Puppen nicht dazu geeignet sind, von Raubvögeln aufgefressen zu werden.
Der Vogel strich nun mit niedrigerem Fluge über einem hohen Fichtenwalds dahin. Eine heimliche grüne Lichtung öffnete sich zwischen den rauschenden Wipfeln. Deutlich erkannte Puppe Liesel im Dahinsausen einen Mann da unten, der stehen blieb und herauf sah. Im selben Augenblick aber schon schoß ein jäher Feuerstrahl an ihren Augen vorbei, ein betäubender Knall folgte und in schwindelndem Sturze flog sie zur Erde nieder.
Der Herr Förster Andreas Pausewang war ganz ruhig und gemütlich an dem schönen Sonntagmorgen durch sein Revier spaziert, hatte sein Gewehr wohl auf dem Rücken gehabt, aber nicht daran gedacht, daß er es gegen irgend eine Kreatur würde anlegen müssen. Und als er gerade beim Kalten Brünndl war, ja, wahrhaftig! da sah er doch den Geier oben fliegen, den er schon seit Wochen beobachtete und der ihm noch nie zu Schuß gekommen war. Und richtig trug er eine Beute in den Fängen! Die Büchse flog ans Ohr, das falkenscharfe Auge des Försters zielte einen Augenblick, dann krachte der Schuß – und der böse Vogel fiel, immer schneller und schneller wirbelnd, vor die Füße des Försters herab.
Aber was war denn das? Was trug denn der Vogel für einen Raub, den er selbst sterbend nicht losgelassen hatte? Eine – Puppe? Ja, wahr- und wahrhaftig, eine Puppe! Andreas Pausewang setzte sich auf einen Baumstamm und lachte, daß sein breiter Bart wackelte. Der Vogel war wohl weit umhergestrichen, ohne Nahrung zu finden und war schließlich, vom Hunger verblendet, auf das bunte Püppchen niedergefahren, das er für ein scheckiges Tierlein hielt. So etwas hatte der Förster noch nie gesehen. Vorsichtig löste er die Puppe aus den scharfen Klauen. »Mir scheint, es ist ihr gar nicht viel geschehen!« brummte er dabei vor sich hin, band die Fänge des toten Vogels zusammen, hängte ihn über den Rücken, stopfte die Puppe in die Jagdtasche und schritt seinem Hause zu.
In einem lieblichen Waldtälchen lag die stattliche Försterei mit ihren grünen Fensterläden und dem Hirschgeweih am Giebel. Ein blühender Garten, in dessen Mitte ein kleiner Springbrunnen mit einer blinkenden Kugel spielte, gehörte dazu, weiter noch Ställe und Scheunen, Äcker und Wiesen, ein Hühnerhof voll Geflatter und Gegacker und ein Gehege mit einem zahmen Reh: wahrhaftig, ein ganzes kleines Königreich beherrschte der Herr Andreas Pausewang. Als er jetzt durch das Gartentor schritt und laut »Hubert, Susi!« rief, da umringte ihn die Hundemeute mit freudigem Gebell und eine Stimme sprach aus dem Hause: »Ich komme schon, Vater!« und eine helle, hitzige Stimme schrie aus dem Geäst der Blutbuche: »Vater, Grüß Gott! Hast du was mitgebracht? Oh, der schöne Raubvogel! Warte, ich komme gleich!« Und es rauschte in den Zweigen und krachte am Stamm, und zuerst wurden zwei Sandalen sichtbar, dann zwei braune Beinchen, dann ein gestreiftes Röckchen, dann ein kurzes rotes Gelock und auf einmal sprang ein ganzes zerzaustes und erhitztes Mägdlein herunter und lief auf den Vater zu und rief: »Oh, der schöne Geier! Oh, der schöne Geier!« Und sie löste dem Vogel die Füße aus der Schlinge, zog die Schwingen auseinander und bewunderte das schöne gestreifte und geflammte Gefieder. Ihr Bruder Hubert, der aus dem Hause getreten war und in seiner Ruhe einen krassen Gegensatz zu der wilden Susi bildete, gab ernste, sachgemäße Bemerkungen dazu. »Wo hast du ihn geschossen? Wann hast du ihn geschossen, Vater?« sprudelte Susi ohne Unterlaß hervor. »Ist es der, von dem du schon vor vierzehn Tagen gesprochen hast?«
»Ja, der ist es,« sagte der Förster schmunzelnd, »aber das Allermerkwürdigste hab' ich noch nicht erzählt.«
»Was denn? Was denn?«
»Der Vogel hielt etwas in den Fängen.«
»Was war es denn, Vater?«
»Nun ratet einmal!«
»Ein Rehkitz!«
»Ein Junghase!«
»Nein, das war es nicht!«
»Ein Eichkatzel! Ein junges Lamm! Ein Singvogel! Eine Feldmaus!« stieß Susi aufgeregt hintereinander hervor. Aber der Vater schüttelte jedesmal den Kopf.
»Nein, das war es alles nicht. – Ihr erratet es nie.«
»Nun, sag es doch schon, Vater,« bettelte Susi.
»Es war – eine Puppe!«
»Eine Puppe!« echoten die Kinder, Hubert mit grenzenlosem Staunen, Susi ehrlich enttäuscht.
»Ja, eine Puppe – da habt ihr sie.« Der Förster zog aus der Jagdtasche die Puppe hervor und legte sie in Susis Hände. »Da, die schenk' ich dir – eine Puppe, die dir ein Geier zugetragen hat, hast du noch nie besessen.« »Danke schön, Vater,« sagte Susi und sah die Puppe flüchtig an. Das schöne rosa Gewand hing zerfetzt und zerknittert herunter; die Arme lagen quer über dem Gesicht, denn Herr Pausewang hatte sie ohne viel Aufpassen in die Tasche hineingeschoben. Puppe Liesels freundliches Gesicht bekam Susi gar nicht zu sehen. Sie legte die Puppe achtlos nahebei auf eine Bank und lief in die Küche, um mit schallender Stimme der Mutter und der Magd das große Ereignis zu verkünden. Die großen Leute wunderten sich auch über die Maßen, besahen den Vogel, bestaunten die Erzählung, hatten aber soviel mit ihrer Arbeit zu tun, daß sie zunächst gar nicht daran dachten, die Puppe hereinzuholen. Erst als das Mittagessen fast beendet war, fragte die Frau Försterin ihre Tochter: »Ja, und wo ist denn eigentlich die abenteuerliche Puppe? Du hast sie mir ja gar nicht gezeigt!«
Susi sah einen Augenblick betreten vor sich hin. »Ich weiß schon,« erwiderte sie dann und huschte hinaus in den Garten.
»Mir scheint, die Puppe interessiert das Mädel nicht gar sehr,« meinte der Förster, »und ich hab' gedacht, sie würde rechte Freude an einem Spielzeug haben, das auf so sonderbare Art in ihre Hände gekommen ist.«
»Susi hat sich noch nie für Puppen interessiert,« antwortete seine Frau. »Sie mag nur lebendes Spielzeug – alle Puppen, die sie bisher bekommen hat, waren binnen kurzem gebrochen und versteckt.«
»Versteckt? Wieso?«
»Sie gibt sie alle in den alten geschnitzten Schrank in ihrem Zimmer. Sie wird es mit der Geierpuppe nicht anders machen.«
Jetzt erschien Susi wieder im Zimmer, ging zur Mutter, hielt ihr die Puppe flüchtig unter die Nase, rief: »Das ist sie!« und lief bei der anderen Türe wieder hinaus. Der Förster und die Försterin wechselten einen bedeutungsvollen Blick. Die Frau sah bekümmert aus, der Förster lachte.
Im Giebel des Försterhauses lagen nebeneinander zwei hübsche, weiße Stuben, von denen die eine Hubert, die andere Susi gehörte. Die beiden hatten noch zwei größere Brüder, die aber schon beide außer Haus waren. In Susis Zimmer stand neben ihrem Bett ein hoher geschnitzter nußbaumener Schrank, der wohl schon seine zweihundert Jahre oder mehr alt sein mußte. Er war Susis Zuflucht in allen Fällen, wenn sie nicht recht wußte, wohin mit einem neuen Ding. Er verschlang gutwillig alles, was sie ihm bot, und bewahrte es treu in seinem geräumigen Innern: mißratene Handarbeiten, zerlesene Bücher, zerrissene Strümpfe und zerbrochenes Spielzeug. Aber es war doch gut, daß die Mutter von Zeit zu Zeit heimlich revidierte und einen Teil des Inhalts entfernte, sei es zur Vernichtung, sei es zur Wiederherstellung. Sonst hätte selbst der große alte Schrank nicht mehr Raum genug gehabt, um Susis sämtliche Missetaten zu verbergen.
Wie sie nun in ihr Zimmer gelaufen kam – gehen konnte Susi nämlich gar nicht, sie lief, rannte, sprang, kletterte und hüpfte –, riß sie schnell den einen Flügel des Schrankes auf, stopfte die arme Puppe Liesel, ohne sie auch nur anzusehen, hinein und sagte: »Da bleib!«, und dann warf sie die Türe zu, rannte hinaus, ließ auch die Zimmertüre ins Schloß fallen und rutschte wie ein Wirbelwind das Treppengeländer hinunter.
Da lag nun die arme Puppe Liesel eingesperrt im finstern Schrank und konnte einen wehmütigen Vergleich ziehen zwischen dem Empfang, den ihr die gute Resi Schwebskichl, und dem, den ihr das wilde Försterkind bereitet hatte. Auf dem Fluge durch die Luft war ihr nicht so bänglich zumute gewesen wie jetzt. Sollte sie von jetzt an immer – immer – immer in dunkler Einsamkeit liegen? Nie mehr auf eines Kindes Schoß sitzen? Nie mehr die Freude an ihrer kleinen Person in Kinderaugen blitzen sehen? Nie mehr … zu ihrer ersten, eigentlichen und echten Mutter Traudel zurückfinden?
Das waren traurige Gedanken für ein kleines Puppenherz. Allmählich gewöhnten sich Liesels Augen an das Dunkel: hie und da klaffte ein kleines Spältchen im Holze des Schrankes, zarte Lichtstrahlen drangen ein und verbreiteten eine matte Dämmerung, in der Puppe Liesel erkennen konnte, wer da mit ihr gefangen lag. Ach, es war keine erfreuliche und erheiternde Gesellschaft! Da lag eine große, schöne Puppe in einem blauen Seidenkleid mit langen, schwarzen Zöpfen; aber ach, ihr rosiges Porzellangesicht war zerbrochen – lauter Scherben steckten dort, wo es einst gewesen war. Eine Badepuppe aus Zelluloid war da, deren Gesichtchen noch immer freundlich lächelte; aber ihr Leib war von oben bis unten gespalten – nur der hohle Rücken lag noch da, wer weiß, wohin die Vorderseite gekommen sein mochte! Die nächste Puppe hatte überhaupt keinen Kopf, sie war ungefähr von Liesels Größe und ihr nettes Lodenkleidchen, das beinahe wie ein Jagdgewand aussah, bewies, daß es einmal eine hübsche und feine Puppe gewesen sein mochte; aber jetzt … O weh, wohin Puppe Liesel sah, traf ihr Blick nur lauter arm-, bein- und kopflose Gestalten, von denen man sich keine Rede, geschweige denn einen Trost erwarten konnte, und wenn sie selbst auch – bis auf das zerrissene Kleidchen – ganz unbeschädigt war, so begann sie sich in dieser Gesellschaft bald schon selbst als ein Krüppel zu fühlen. »Susi ist ein böses Mädchen,« dachte Puppe Liesel tief betrübt, »ein böses Mädchen mit einem harten Herzen. Ich wollte, der Vogel hätte mich in sein Nest genommen. Die jungen Geier hätten vielleicht ganz hübsch mit mir gespielt.«
Mit diesem Gedanken nun hatte Puppe Liesel gewiß Unrecht, und mit ihrem Urteil über Susi hatte sie's auch. Susi Pausewang hatte sicher kein böses Herz, aber sie war mitten im Walde aufgewachsen und hatte von klein auf lebende Tiere, so viel sie wollte, zum Spielzeug gehabt; es war ihr noch nie in den Sinn gekommen, daß man auch einem anscheinend leblosen Ding seine Liebe schenken und auch bei einem andern Spiel glücklich sein konnte als nur im Klettern, Haschen und Springen. Und vielleicht – vielleicht hatte sie auch noch nie die richtige Puppe gesehen!
Aber als sie nun am Abend dieses Tages, vom Herumtollen tief ermüdet, in ihr Zimmerlein trat, in das der silbrige Mond sein weißes Licht verstreute, da fiel ihr auf einmal ein, daß sie heute eine Puppe geschenkt erhalten hatte … eine Puppe, die auf ganz besondere, auf abenteuerliche, auf wundersame Weise zu ihr gekommen war, und daß sie diese Puppe noch nicht einmal angesehen hatte. Sie war schon in ihrem weißen Nachtkittelchen, als sie noch einmal vor den alten Schrank trat. »Nur das Gesicht will ich schnell anschauen, ob es sehr zerkratzt ist,« sagte sie, schloß auf und langte die Puppe heraus. Sie trat mit ihr ans Fenster und hob sie ins Mondlicht. Das zerrissene Röckchen schlug sie herunter. Die kleinen Ärmchen zog sie von dem Puppengesicht weg – und Puppe Liesels freundliches Kinderantlitz blickte ihr zum erstenmal entgegen. Ihr wißt ja, Puppe Liesel war keine von den steifen Puppen mit den gläsernen Augen und dem gefrorenen Lächeln. Sie hatte ein wirkliches Kindergesicht und blickte jeden Beschauer so lieb und treuherzig an, daß ihr keiner gram sein konnte.
Susi Pausewang aber hatte bis jetzt nur die steifen Puppen mit den gläsernen Augen und dem gefrorenen Lächeln gesehen. Sie waren ihr immer so fremd und gemacht vorgekommen, nicht besser und nicht schonenswerter als das erste beste Stückchen Holz. Aber diese – diese war etwas ganz anderes. Die war ja ein richtiges Kindchen zum Liebhaben! Und wie sie sie so im Mondschein betrachtete, sah sie auf einmal in das weiße Hemdchen, das unversehrt geblieben war, einen Namen eingestickt. Und mit einiger Mühe brachte sie heraus, was es hieß: Liesel.
»Liesel heißt du?« fragte Susi freudig, »meine Mutter heißt auch Elisabeth!« Und ehe sie wußte, was sie tat, hatte sie der Puppe einen stürmischen Kuß gegeben! Da wußte Puppe Liesel, daß sie nun nicht mehr in den finsteren Schrank zurück mußte. Und sie kam auch wirklich nicht mehr hinein. Susi glättete ein Eck ihres Kopfkissens besonders fein, legte die Puppe darauf und sagte: »So, da kannst du schlafen!« Und dann bettete sie ihren eigenen lockigen Kopf daneben und war im selben Augenblick eingeschlafen.
Als nach einer Weile Frau Pausewang auf den Zehenspitzen hereinkam und die Puppe auf Susis Kopfkissen schlafen sah, lachte sie leise.
Aber Resi Schwebskichl hätte es natürlich ganz anders gemacht. Sie hätte der Puppe sicher noch am selben Abend irgendwo ein eigenes Bettlein gemacht.
Und Traudel? Oh, Traudel– hätte der Puppe zum mindesten das zerrissene Kleidchen ausgezogen.
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