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Im verschneiten Bauernhof

Oh, wie einsam, wie einsam war der Puppe Liesel in ihrer Höhle mitten im großen, wilden Walde jetzt zumute! Keine Gesellschaft hatte sie jetzt, kein Häslein, das sich warm an sie geschmiegt hätte, keinen Schmetterling, der sie mit großen Augen ansah, nicht einmal eine Ameise, die über ihr Kleid lief. Draußen im Freien gaukelte wohl allerhand Insektenvolk über die Beerenstauden und Farne; aber in die dämmerige Höhle kam keines herein. Ein einziges Mal sah ein buntmäuliger, schön schwarz und gelb gefleckter Salamander zu ihr herein; aber er war ihr mehr zum Fürchten, und er tappte auch gleich wieder durchs feuchte Gras davon. Das kleine Puppenköpfchen hatte allerhand Gedanken, die aber gar nicht erfreulich waren. »Damals auf dem Rosenbusch,« dachte sie, »da saß ich so offen am Wege, da mußte über kurz oder lang jemand kommen und mich finden, aber hier? Wer findet mich hier? Meine gute Marie, die doch wußte, daß ich hier bin, nicht einmal sie hat mich finden können! Es ist ja wahr, daß ich hier vor Regen und Wind geschützt bin, viel besser als damals auf dem Rosenbusch; aber wenn ich nun immer hier sitzen muß? Wenn mich gar, gar niemand holen kommt?« Und dann gingen ihre Gedanken wieder zu Marie zurück.

»Mein armes Mütterlein fährt jetzt schon weit von hier in ihrem grünen Wagen und weint, ach, das weiß ich. Was wird nun aus ihr werden? Und was wird aus mir werden?« Das waren keine fröhlichen Gedanken, nicht wahr, die die arme Puppe heimsuchten. Wäre sie ein lebendiges Menschenkind gewesen, so hätte sie sicherlich schon längst geweint. Aber sie konnte ja nicht weinen, konnte nicht einmal das Gesicht verziehen. Und so saß sie trotz ihrer Bangigkeit immer mit dem gleichen lächelnden Gesichtlein da und sah in den grünen Wald hinaus! Wieviel Stunden des Tages mochten nun wohl schon vergangen sein? Puppe Liesel sah, daß die Sonnenstrahlen jetzt von einer anderen Seite aus durch die Büsche brachen. Die Blumen vor der Höhle, die zuvor im Schatten gewesen waren, zeigten sich jetzt hell beleuchtet. Vielleicht war es schon später Nachmittag; aber Puppe Liesel konnte das natürlich nicht so genau wissen. Es war nur ein Glück, daß sie keinen Hunger fühlte. All ihre kleinen Mütter hatten es sich immer angelegen sein lassen, ihr gelegentlich allerhand niedliche Leckerbissen auf winzigen Tellerchen oder grünen Blattschüsselchen vorzusetzen und hatten sie gelobt, daß sie so brav esse; aber das war immer nur im Spiel gewesen; in Wirklichkeit hatte Puppe Liesel nie einen Bissen geschluckt und jetzt in ihrer Verlassenheit war es gut, daß sie es nicht nötig hatte!

Da auf einmal – horch! Waren das nicht menschliche Tritte in der Nähe? Es rauschte und raschelte in den Büschen. War das ein Reh? Nein, nein, es klang geradeso, als ob ein Mensch näher und näher käme. Es war kein heftiges, aufgeregtes Suchen, wie das von Marie; ganz bedächtig und ruhig klangen die Schritte, aber wirklich, wirklich sie kamen näher. Oh, wie voll von gespannter Erwartung war nun Puppe Liesel! Würden die Schritte vorübergehen? Würden sie sich entfernen und verhallen? Nein, nein, der Mensch, der das sein mußte und den sie nicht sehen konnte, hielt von Zeit zu Zeit einen Augenblick inne, aber dann kam er – sie hörte es deutlich – immer näher an sie heran. Und jetzt – und jetzt – und jetzt sagte eine Stimme: »Da ist sie ja!« Und eine Hand griff in die Höhle, faßte die Puppe und zog sie heraus – und Puppe Liesel sah vor sich das freundlich lächelnde Gesicht der kleinen Anna.

Das war nun wohl eine wunderbare Erlösung aus langer Pein! »Marie hat ihr gesagt, wo ich bin und daß sie mich holen soll,« dachte sich Liesel mit dankbarem Herzen. Ruhig, wie sie gekommen war, ging Anna wieder aus dem Wald und trug sie durch das Dorf, dem Höllgruberhofe zu. Der lag stattlich und breit hinter den beiden großen Nußbäumen, die vor seinem Giebel emporragten. Im Hofe stand eine große, nicht mehr junge Frau: »Mutter, ich hab' die Puppe gefunden,« sagte Anna zu ihr. Dann ging sie in die große Wohnstube mit der niederen, schöngeschnitzten Balkendecke, dort auf dem Fensterbrett lag schon die Karte mit den Rosen und Vergißmeinnicht, die sich Anna schon vorher besorgt hatte. Sie setzte sich auf einen Stuhl und schrieb langsam mit großen, steifen Buchstaben, indem sie jedes Wort laut vor sich hersagte:

 

»Liebe Marie!

Ich habe die Puppe Liesel gefunden und hebe sie Dir auf, bis Du im nächsten Frühling wiederkommst.

Es grüßt Dich Deine treue Freundin

Anna Höllgruber.

An Marie Müller beim Zirkus Molinari Kirchdorf.«

 

So, jetzt war das wichtige Geschäft beendet. Anna nahm die Puppe auf den Arm und ging mit ihr zum Postamt, wo der Briefkasten war. Dort warf sie die Karte hinein, und von jetzt an blieb Liesel im Höllgruberhofe in Lichtenbrunn.

Auf dem Höllgruberhofe ging es, obwohl so viele Leute dort in ununterbrochener emsiger Tätigkeit waren, still und ruhig zu. Der Bauer und seine Frau waren recht wortkarge Leute und ebenso ihre erwachsenen Kinder, so weit sie noch zu Hause waren und als Knechte und Mägde beim Vater arbeiteten. Auch das Gesinde hatte sich daran gewöhnt, bei der Arbeit ohne viel Worte auszukommen. So hatte die kleine Annerl, das spätgeborene, jüngste Töchterlein, eine für ein Kind recht ernste Umgebung, aber da sie selbst so ruhig und bedachtsam war, fügte sie sich gut hinein und hatte auf ihre stille Weise doch Freude genug. Puppe Liesel, die nun ihre unzertrennliche Begleiterin war, wurde von ihr nicht soviel gehegt und gestreichelt wie von ihren anderen Müttern, aber sie fühlte sich bei ihr doch wohl und geborgen. Für Annerl gab es jetzt noch eine schöne Zeit, so lang sie täglich die Kühe ins Freie treiben konnte. Da saß sie auf der sonnigen Halde und Puppe Liesel saß neben ihr im Gras und sah den ziehenden Wolken und den Schwalben zu, die immer eifriger ihren Flug rund um den Kirchturm veranstalteten und immer aufgeregter auf den Telegraphendrähten miteinander schwatzten. Und eines Morgens, als sie wieder hinauskamen und nach den Schwalben sahen, da waren sie weg! Alle, alle mit einem Schlage weggezogen. Und an den Gräsern hing der erste Reif. »Sie sind heuer eh' lang dageblieben,« sagte Annerl.

Inzwischen hatte auch die Schule wieder begonnen und Annerl ging jeden Morgen mit ihren Büchern vom Hause weg. Jedesmal setzte sie die Puppe zuvor an das Fenster an der Ecke des Hofes, damit sie sie beim Heimkommen gleich erblicken konnte. Ungestört saß Puppe Liesel und guckte auf die Dorfstraße hinaus und die Zeit wurde ihr nicht lang, denn draußen gab es immer etwas zu sehen: spielende Kinder und raufende Hunde, ein Kätzlein, das sich in der Herbstsonne dehnte, Tauben, die sich über die Giebel schwangen, und schwerbeladene Bauernwagen, die mit Kartoffeln oder Rüben vom Feld heimknarrten. Wenn es dann vom Kirchturm Mittag läutete, kam der Schwarm der Schulkinder die Straße herunter und Anna löste sich aus ihm los und schritt dem Hause zu. Wenn sie ihre Puppe sah, nickte sie ihr lächelnd zu. Drin in der Stube hatten sich beim Mittagläuten die Bauersleute und das Gesinde eingefunden. Auf dem Tisch im Herrgottswinkel, um den die braune Bank lief, stand schon die dampfende Schüssel. Und die Bauersleute, Annerl mit ihnen, standen in einiger Entfernung vom Tische und sprachen mit lauter, eintöniger Stimme ihre Gebete. Wenn sie beendet waren, dann erst setzten sie sich, und langsam, mit gleichmäßigen Bewegungen, ohne zu sprechen oder zu lachen, aßen sie ihr Mittagmahl. Jeder hatte seinen bestimmten Platz, so wie jeder seine bestimmte Arbeit zu verrichten hatte. Da gab es keinen Streit und kein Sichdrücken. Am Nachmittag dann hatte Annerl manchmal Schulaufgaben zu machen; sie saß recht lange über ihnen, und sie waren dann nicht so besonders geraten, aber doch immerhin so gut, daß Annerl sich einen ehrenvollen Platz in der Schule behauptete. Viel lieber war es aber dem kleinen Mädchen, wenn es irgendwie an den Arbeiten des Hofes mithelfen konnte. Kühaustreiben war ihr das liebste! Aber sehr lustig war es auch, als sie draußen im Grasgarten die Pflaumen und später die Äpfel und Winterbirnen ernteten, und als sie die Nüsse von den beiden großen Nußbäumen schlugen. Auch war es Annerls Amt, tagtäglich die Hühnernester nach Eiern abzusuchen, gerade so, wie das Susi im Försterhaus getan hatte, und Enten und Gänse morgens aus den Ställen zu lassen und abends wieder einzusperren. Oh, sie war kein müßiges Kind, die kleine Anna; wie jedem andern, so waren auch ihr in dieser tätigen Menschengemeinschaft ihre besonderen Pflichten und Beschäftigungen zugewiesen und es war ihr Ehrgeiz, sie richtig und wacker zu erfüllen. Und ganz, ganz selten konnte es auch vorkommen, daß der alte Höllgruber seinem jüngsten Mägdlein über den Kopf strich und sagte: »Die Annerl wird ein braves Dirndl.«

Der Winter kam und deckte ganz Lichtenbrunn mit dicken, weißen Decken zu. Alle Zaunstäbe und alle Giebelsparren hatten weiße Hauben auf, die Rinder kamen jetzt nicht mehr ins Freie hinaus, sie lagen behaglich wiederkauend im warmen Stall. Für den Bauern und seine Angehörigen war jetzt die Ruhezeit gekommen, mit dem Vieh und seiner Wartung, mit Dreschen und anderen Dingen hatten sie wohl viel zu tun, aber es war nicht mehr so, daß eine Arbeit die andere drängte, wie in der Erntezeit. Da saß nun öfters der alte Bauer, mit einer Brille auf der Nase, und las andächtig die ganze Zeitung, vom ersten bis zum letzten Buchstaben durch; und die alte Höllgruberin, die niemals müßig gehen konnte, häkelte mit ihren arbeitsharten Händen viele Meter kräftiger, derber Spitzen für ihrer Töchter Ausstattung. Annerl aber huschte oft mit Puppe Liesel auf dem Arm über den Hof, wo in einer Kammer die fünfundachtzigjährige Einlegerin Hanna hauste. Die saß in einem alten Lehnstuhl bei ihrem kleinen Öfchen und hatte ständig eine von den sechs Katzen auf dem Schoß, die auf dem Höllgruberhofe scharfe Jagd auf Ratten und Mäuse machten. In ihren halberloschenen kleinen Augen glomm eine herzliche Freude auf, wenn sie der kleinen Anna gewahr wurde. Und Anna kauerte sich mit Puppe Liesel auf einen Schemel zu ihren Füßen nieder, und Hanna fing zu erzählen an. Hannas Kopf war voll von Märchen und Geschichten und Liedern. Einem Fremden wäre es vielleicht schwer geworden, sie zu verstehen, denn ihr alter, zahnloser Mund brachte viele Worte nur sehr undeutlich hervor, aber Anna war daran gewöhnt und fand ihre größte Wonne daran, den Geschichten der alten Hanna zu lauschen. Und da sagte sie auch manchmal: »Die Marie, die hat auch so schön erzählen können, gelt, Liesel?« Und Puppe Liesel verstand sie und nickte nicht, und die alte Hanna verstand sie nicht und nickte.

Manchmal wickelte Anna ihre Puppe auch in ein warmes Tüchlein ein, vermummte sich selbst, so warm sie nur konnte, zog den kleinen Schlitten aus dem Stall und stapfte mit einem ganzen Trupp lustig lachender Kameraden in den Wald hinaus. An dem obern Ende eines verschneiten Hohlwegs stellten sich die Kinder auf, und eins nach dem andern sauste auf seiner Rodel lachend und schreiend in die Tiefe. Ach, wie fein war das, in der klaren Winterluft so sausend dahinzugleiten! Puppe Liesel, warm auf Annas Schoß sitzend, freute sich mit den Kindern über die vergnügte Fahrt. Immer und immer wieder wurden die Schlitten hinaufgezogen, bis die letzte Fahrt sie schließlich bis ganz dicht vor die alten Häuser des Dorfes führte und alle Kinder mit roten Backen und hungrigem Magen dem Vaterhause zustrebten. Lustig war auch das Schleifen auf einer vereisten Wiese, wo sich die Dorfkinder mit und ohne Schlittschuhe fröhlich tummelten. Bei allen diesen Gelegenheiten, wo Anna mit andern Kindern zusammentraf, konnte Puppe Liesel beobachten, wie sie mit ihrer Ruhe und ihrem Gerechtigkeitsgefühl manchen Zwist zwischen andern im Entstehen schlichtete, wie sie aber gelegentlich, wenn es einen offenkundigen Übeltäter, wie den Moserferdl, zu strafen galt, auch ihre kräftige kleine Faust sehr tüchtig zu gebrauchen wußte. Selber aber, das sah Liesel genau, fing sie niemals Händel an. Je länger sie bei ihr war, desto lieber gewann sie die kleine Anna, die ihr zuerst nur gleichgültig und derb vorgekommen war.

So ging der Winter friedlich und fröhlich dahin, immer näher kam die Weihnachtszeit, auf die sich das ganze Haus schon wochenlang vorher freute. Selbst Anna wurde vor dem Feste redseliger als sie es sonst gegenüber der Puppe war. »Weihnachten ist schön,« sagte sie; »da gehen wir alle in die Mitternachtsmette. Ach, Liesel, wenn ich dich da mitnehmen könnte! Aber in die Kirche darf man keine Puppe mitbringen. Und was es da alles zu essen gibt! Und einen Baum! Und Geschenke!«

Ach, Liesel wußte nur zu gut, was Weihnachten bedeutete. Beim letzten Weihnachtsfeste – für sie war es das erste gewesen – hatte sie selbst unter einem strahlenden Lichterbaum gesessen und einem blondlockigen Mädchen entgegengelächelt, das mit seligen Augen und einem Jubelruf auf den Lippen auf sie zustürzte. Das war die liebe, die gute, die unvergeßliche Traudel gewesen. Wo sie jetzt nur war, die kleine Traudel? Ob sie noch an ihre Puppe dachte, von der sie nun schon lange getrennt war?

Beinah hätte der Gedanke an das Weihnachtsfest die Puppe in trübe Stimmung gebracht, aber es geschah doch nicht, denn es gab unendlich viel zu sehen und zu beobachten. Die Hausbewohner hatten wieder alle Hände voll zu tun. Geschlachtet wurde, gebraten und gebacken; ganze Körbe voll Krapfen, ganze Girlanden von Würsten, ganze Berge von Kuchen entstanden. Und alle Zimmer und Kammern und alle Winkel und Ecken wurden blitzblank gescheuert. Am Heiligen Abend dann ging die Bäuerin mit einer großen Räucherpfanne durch alle Räume; das sollte dem Hause Segen bringen. Und um Mitternacht, als die Kirchenglocken mit freudvollen, weihevollen Klängen über die weißflimmernden Felder hin läuteten, da zogen alle Leute vom Höllgruberhofe dem Gotteshause zu, dessen Fenster schimmernd in die Nacht leuchteten. Niemand blieb im Hofe zurück als Puppe Liesel und die alte Hanna mit ihren Katzen.

Am anderen Morgen aber, als Anna aus dem Schlaf erwachte, stand beim Fenster, in der Wintersonne glänzend, der Weihnachtsbaum und unter ihm lagen ihre Geschenke. Das waren nun freilich hauptsächlich praktische Sachen, neue Schuhe, ein neuer Mantel, ein Sonntagskleid und dergleichen mehr, aber Anna freute sich doch sehr darüber, und dann war ja auch ein schönes Märchenbuch da und, denkt euch, ein kleines Nudelbrett mit einem Walker, ein kleines Waschschaff mit einer Rumpel und ein richtiges kleines Bügeleisen. Das war das rechte Spielzeug für Anna. Die arme Puppe Liesel mußte es sich jetzt oft gefallen lassen, nackt unter Annas dickem Federbett zu stecken, weil ihr Hemd und ihr Höschen gerade in der Wäsche waren. Anna hätte ihr ja eigentlich ganz leicht ein neues Hemdchen nähen können; ihre Nadelfertigkeit hätte dazu auch ausgereicht; aber sie traute sich nicht, es allein zuzuschneiden und niemand auf dem ganzen Höllgruberhofe hatte Zeit gehabt, sich mit solchem Puppenzeug abzugeben. So mußte Puppe Liesel eben im Bette bleiben und war nur froh, daß ihr Kleidchen und ihre Wäsche so gut und fest waren, daß sie allen ihren bisherigen Abenteuern und auch den vielen von der kleinen Anna veranstalteten Waschtagen standgehalten hatten.

Ach, sie sollte sich nicht lange an ihren neuen Spielsachen freuen, die arme, kleine Anna? Eine schwarze, schwarze Wolke zog über dem Höllgruberhofe auf und lagerte bald dicht über seinem Giebel. Eines Nachmittags war Anna mit der Puppe und den Kameraden noch fröhlich zum Schlittenfahren ausgezogen. Am Abend, als sie heimkam, war sie noch über ihre Gewohnheit hinaus still und in sich gekehrt. Am andern Morgen in der Früh lag sie fiebernd mit hochrotem Kopf in ihren gewürfelten Kissen und redete irre. Frau Höllgruber saß neben ihrem Bett, flößte ihr Tee ein und beruhigte sie mit leisen, tröstenden Worten, aber das Fieber stieg und stieg und das Irrereden klang immer lauter und wilder. Am Nachmittag schickte der Bauer um den Arzt, der machte ein ernstes, ernstes Gesicht. »Lungenentzündung,« sagte er. Er redete lange mit der Bäuerin und schrieb etwas auf ein Stück Papier. »Morgen früh komme ich wieder,« sagte er, als er ging.

Von den kleinen Mädchen, bei denen Puppe Liesel bis jetzt ihr abenteuerliches Leben verbracht hatte, war in dieser Zeit noch nie eines krank gewesen. Es war zum ersten Male, daß sie einen kranken Menschen sah. Der Anblick war ihr schrecklich und beängstigend. Warum stand Anna gar nicht auf? Warum spielte sie nicht mit ihr? Warum ließ die Bäuerin alle andere Arbeit stehen und liegen und wich Tag und Nacht nicht von Annas Bette? Warum gingen die anderen Leute auf den Zehenspitzen, wenn sie eintraten, und blieben gleich bei der Türe stehen. Fragten nur mit flüsternder Stimme? Um sie kümmerte sich niemand. Sie saß in der tiefen Fensternische und sah ins Zimmer hinein. Sie hörte alles, was in der Stube vorging, und allmählich wurde ihr klar, was krank sein heißt. In Annas Körper war etwas nicht in Ordnung! Irgend etwas darin war kaput, und wenn es nicht ganz gemacht wurde, ging am Ende die ganze arme, liebe, kleine Anna kaput. Ja, das mußte wohl das Wort »sterben« bedeuten, das immer häufiger im Reden der Menschen wiederkehrte. Tagelang lag Anna nun schon krank, und keine Besserung war zu spüren. Eine heiße Angst ergriff die kleine Puppe. Ach, sie war schon von so vielen kleinen Mädchen, die sie lieb gehabt hatte, auf schreckliche Weise getrennt worden! Von Traudel durch die Eisenbahn, von Reserl durch den Geier, von Marie durch das Ungewitter. Sollte sie so ihr letztes Mütterchen auf die allerschrecklichste Weise verlieren? Durch dieses »Sterben«, von dem die Menschen immer sprachen? Und wer würde sich dann um sie kümmern? Es war kein kleines Mädchen auf dem Hofe, das sie hätte nehmen können, unbeachtet und ungepflegt würde sie in einem Winkel liegen – das ist das Allerschrecklichste für eine Puppe.

Aber Liesel dachte nicht in erster Linie an sich, sondern immer an Anna. Immer und immer wieder spähte sie nach dem armen, fieberheißen Gesicht in den zerwühlten Kissen. Warum führte Anna manchmal so seltsam irre Reden? Warum schrie sie so oft auf und streckte die Hände abwehrend gegen einen Winkel aus, in dem sich gar niemand befand? Der Doktor kam nun zweimal im Tage und jedesmal schüttelte er den Kopf.

»Wenn ihr nicht ihre gute Natur hilft, Frau Höllgruber,« sagte er, »wir Ärzte können bei so einer Sache wenig machen.«

Aber er tat alles, was er nur konnte. Und die Bäuerin befolgte jede seiner Vorschriften mit ängstlicher Genauigkeit. Sie schien der Puppe Liesel ganz verwandelt, sonst war sie so eine strenge, wortkarge Frau gewesen, hatte ihrem kleinsten Mägdlein kaum jemals eine Liebkosung oder ein zärtliches Wort geschenkt, war ihr kaum je einmal freundlich über das braune Köpfchen gefahren, wie es der Vater doch hie und da getan hatte. Aber jetzt dachte sie nur an das Kind, diente nur dem Kind. Ihre groben, schweren Hände wurden so lind und leicht, wenn sie das Kind hob und stützte oder ihm einen Trunk reichte. Ihre barsche Stimme klang sanft und zärtlich. Die Füße in den derben Schuhen gingen lautlos und sachte über den Boden. Aus ihrem knochigen, frühgealterten Gesicht schien die tiefe Angst der Mutterliebe: »Lieber Gott, lieber Gott, erhalte mir mein Kind!«

Einmal kam auch die alte Hanna, bis zur Unkenntlichkeit vermummt, zitternd und auf einen Stock gestützt. Sie betrachtete das Kind, das in einem Fieberschlafe lag und flüsterte: »Das kann doch nicht sein, das kann doch nicht sein! Die Annerl ist so jung und ich bin fünfundachtzig.« Dann kniete sie mühsam nieder und betete lange und still. Und mit einem stillen Seufzer humpelte sie schließlich wieder hinaus.

Eines Abends, als der Arzt wiederkam, sagte er zu der Bäuerin: »Frau Höllgruber, in der heutigen Nacht ist die Entscheidung. Wenn sie sie gut übersteht, dann ist sie gerettet. Wenn nicht – so war es halt so bestimmt, müssen Sie denken.«

»Ja, Herr Doktor,« sagte die Mutter. Und sie saß neben dem Bette des Kindes und verwandte kein Auge von seinem Gesicht. Es war eine stürmische Winternacht. Es heulte und brauste ums Haus, die Wetterfahne auf dem Kirchdach kreischte in schauerlichen Tönen. Puppe Liesel hörte das alles genau und hörte doch zugleich auch das röchelnde, schwere Atmen des Kindes und das Ticken der Wanduhr. »Was wird die Nacht bringen?« dachte sie.

Manchmal setzte der Atem des Kindes aus und dann schnellte die lauschende Mutter entsetzt in die Höhe und beugte sich über die Kranke. Aber schon begann wieder das Keuchen und Pfeifen. Und dann kam wieder das Irrereden und steigerte sich immer mehr. Aufrecht saß Anna in ihrem Bett und schrie vor Angst. Alles zarte, linde Beschwichtigen der Mutter half nichts. Schwer erschöpft sank sie schließlich wieder in die Kissen und das röchelnde Atmen begann aufs neue. Allmählich wurde es leiser und leiser. O Gott, es verstummte doch nicht ganz? Die Mutter hielt ihr Gesicht ganz nahe zu ihrem Liebling hin. Nein, der Atem ging noch, nur leiser, langsamer – und ein klein bißchen besser? Ein klein bißchen leichter?

Die Mutter wagte es kaum zu hoffen. Unbeweglich saß sie und lauschte. Und unbeweglich lauschte die Puppe auf dem Fensterbrett. Sie wußte gar nicht, was jetzt vorging. Sie konnte nur aus dem Gesichtsausdruck der Mutter erraten, ob es dem Kinde besser oder schlechter ging. Und das Gesicht kam ihr, je länger, desto beruhigter und freudiger vor. Ja wirklich! Als die endlose Nacht vorbei war und die späte Morgendämmerung durch die Scheiben drang, lag die kleine Anna in süßem, tiefem Genesungsschlummer. Draußen aber schwieg der Sturm, der Winterhimmel stand blau über der weißen Welt.

Als heute der Doktor kam, war er hochbefriedigt. Anna schlief noch immer. »Ich gratuliere! Ich gratuliere!« sagte er immer wieder. »Jetzt ist das Schwerste überstanden. Jetzt heißt es nur aufpassen, daß kein Rückfall kommt.«

»Ich werd' schon aufpassen, Herr Doktor!«

»Sie müssen jetzt aber auch an sich selber denken, Frau Höllgruber. Sie sehn ja aus, als ob Sie selbst krank waren. Schaun Sie, daß Sie sich ordentlich ausschlafen. Es kann ja einmal ein anderer bei dem Kinde sitzen.«

»Ja, Herr Doktor,« sagte die Bäuerin. Ihr Gesicht war aschgrau und verfallen, ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Aber sie sah glücklich und strahlend aus. Sie ging noch nicht von dem Kinde fort, bis es erwachte. Das war zu Mittag.

»Mutter,« sagte Anna leise. Zum erstenmal erkannte sie die Mutter wieder.

Überglücklich, aber ohne ein überflüssiges Wort zu verlieren, besorgte die Mutter ihr Kind, gab ihm Arznei und Milch, bettete es sorglich und sagte:

»Magst du noch etwas, Annerl?«

Schwach und langsam schüttelte das Kind den Kopf. Aber dann kam ein hellerer Funke in seine Augen und es flüsterte:

»Puppe Liesel!«

Die Mutter sah sich um und entdeckte die Puppe Liesel auf dem Fensterbrett. Rasch langte sie sie der Kranken herüber. Anna schloß die Puppe in den Arm und ein Lächeln ging über die armen, abgezehrten Züge. Dann schlossen sich die Lider wieder und sie schlief von neuem ein.

Frau Höllgruber rief eine ihrer Töchter herein und gab ihr flüsternd Weisungen. Dann ging sie in ihre Schlafkammer und warf sich angekleidet ins Bett. Im nächsten Augenblick schlief sie schon. Sie schlief den ganzen Nachmittag, die ganze Nacht. Aber am nächsten Morgen saß sie schon wieder frisch und gerade an Annerls Bett. Auch die hatte der lange Schlummer wunderbar gestärkt. Und von Stund an machte ihre Genesung rasche Fortschritte. Der Doktor brauchte bald immer seltener und seltener zu kommen. Annerl war wohl sehr, sehr schwach, aber jeder Tag bedeutete einen kleinen Fortschritt. Nach einiger Zeit durfte sie schon aufrecht im Bett sitzen und mit der Puppe spielen. Dann durfte sie in einen alten Lehnstuhl, den ihr die Mutter ans Fenster stellte. Da kamen manchmal ihre Schulfreundinnen und blickten durchs Fenster zu ihr hinein und nickten und winkten. Und dann durfte sie schon ein bißchen durchs Zimmer gehen und jeden Tag länger und länger aufbleiben. Aber auch, als sie schon lange gesund war, erlaubte der Herr Doktor das Ausgehen noch nicht. Erst zu Ostern durfte sie das erstemal ins Freie.

In ihrer langen Zimmerhaft hatte Anna ihre Puppe womöglich noch mehr in ihr Herz geschlossen, als bisher. Und als nun die ersten Anzeichen des Frühjahrs kamen, als die Schneeglöckchen und Veilchen an sonnigen Rainen sprießten und die Schwalben in ihre Nester unterm Stalldache zurückkehrten, da sagte sie manchmal: »Jetzt im Frühling wird die Marie kommen und dich holen, Liesel. Ich freue mich auf die Marie, aber dich möchte ich am liebsten gar nicht mehr hergeben.«

Auch Liesel selber hätte jetzt nicht mehr sagen können, ob sie lieber bei Marie oder bei Anna hätte bleiben können.

»Wir werden ja sehen, wie alles kommt,« dachte sie sich im stillen.

Aber es kam alles ganz anders.

*


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