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Susi Pausewang war das jüngste von vier Geschwistern und das einzige Mädchen unter lauter Buben, daher war es wohl zu erklären, daß der Vater sie gar so sehr in sein Herz geschlossen hatte und daß er sie alles tun ließ, was sie wollte, und für ihre wilden Streiche und zerrissenen Kleider immer ein Lachen, aber nie ein Scheltwort fand. Ja, selbst der Anblick von Susis Schulzeugnis konnte ihn nie ernstlich verstimmen, und doch war es – ach, wir können es nicht verhehlen – schlecht, sehr, sehr schlecht. Der Bruder Hubert dagegen war jedesmal sehr böse auf seine Schwester. »Wenn du noch dumm wärest und nichts begreifen könntest,« sagte er, »dagegen ließe sich nichts machen; aber du bist ja nicht dumm, du könntest die Erste in deiner Klasse sein – du bist nur faul, nachlässig, gedankenlos!«
»Jeder kann nicht so ein Musterknabe sein wie du,« spottete Susi. Huberts Zeugnisse waren ausgezeichnet. »Ich will Förster werden, und da muß man viel lernen,« sagte Hubert und reckte sich höher.
»Und ich will Förstersfrau werden, und da braucht man gar nichts zu lernen!« war Susis rasche Antwort.
»Oho!« sagte die Stimme ihrer Mutter hinter ihr. »Ich bin auch eine Förstersfrau, und glaubst du, daß ich nichts gelernt habe? Oder, daß ich für euch alle so sorgen könnte, wie ich es tue, wenn ich nichts gelernt hätte?«
Susi flog ihrer Mutter um den Hals. »Einzige Mutter,« sagte sie, »du kannst natürlich alles. Aber du weißt ja sicher, ich lerne auch noch was! Ich kann schon vieles, oh– vieles! Nächstens will mir Loni das Melken zeigen!«
»Ja, glaubst du denn, mit dem Melken ist's getan?« fragte die Mutter, wider ihren Willen zum Lachen gezwungen.
»Du meinst natürlich, die Hauptsache ist Kochen,« erwiderte Susi weise, »Mutter, ich verspreche dir, Kochen lerne ich auch noch – wenn ich größer bin! Ich will alles, alles lernen. Nur nicht stillsitzen in der ekelhaften alten Schule und die Finger krumm schreiben oder wund stricken oder so etwas …«
»Kind, Kind! Du hast dir noch nie die Finger wundgestrickt!« seufzte die Mutter. Aber Susi war schon wieder davongelaufen. Sie hatte des Vaters Schritt auf den Gartenwegen erkannt. Und wie sie ihm entgegenkam, packte der Vater sie an den Schultern und hob sie hoch empor. Und dann fing er sein Lieblingslied zu singen an:
»Rothaarig ist mein Schätzelein,
Rothaarig wie ein Fuchs,
Und Zähne hat's wie Elfenbein,
Und Augen wie ein Luchs!«
Und Susi wußte, daß sie damit gemeint war und tanzte lustig um den Vater herum.
Ja, so war Susi Pausewang, aber bei allen ihren Fehlern konnte ihr doch niemand gram sein, denn sie war gar so offenherzig und freundlich und ohne Falsch. Ihr lustiges, kleines Gesichtel war immer eitel Sonnenschein und machte alle Menschen froh, die sie ansahen.
Aber als sie am Morgen nach dem denkwürdigen Sonntag, an dem der Vater den Raubvogel geschossen hatte, das große, eichenholzgetäfelte Zimmer betrat, wo die Eltern und Hubert sich eben zum Frühstück gesetzt hatten, da leuchteten ihre Augen noch heller als sonst, und sie lächelte mit solcher Glückseligkeit, daß ihr Vater gerade sagen wollte: »Na, was hast du denn heute Schönes geträumt?« Aber er brachte nur die ersten Worte heraus, denn Susi fing plötzlich laut zu singen an:
»Ich weiß, wie sie heißt;
Ich weiß, wie sie heißt!
Ich weiß, wie sie heißt …«
Und dabei drehte sie sich im Kreise, daß die roten Locken und das gestreifte Röckchen flogen.
»Wen meinst du denn, du närrisches Ding,« schalt die Mutter, »wer ist denn sie?«
»Meine neue Puppe!« rief Susi und hob die Puppe in die Höhe, die sie eng im Arm getragen hatte.
»Ja so, die Puppe,« sagte die Mutter mit einem feinen Lächeln, »also wie heißt sie denn?«
»Liesel!« rief Susi, und begann wieder zu tanzen:
»Liesel heißt sie,
Liesel heißt sie,
Liesel heißt sie, heißassa!«
»Und woher weißt du, daß sie so heißt?« fragte Hubert examinatorisch.
»Es steht auf ihrem Hemdchen – da!«
Und nun legte sie die Puppe endlich auf den Tisch und da konnten sie alle es wirklich sehen: Der Ausschnitt des zerfetzten rosa Kleidchens ließ ein Stückchen des niedlichen Hemdchens frei und mit ganz feinen, zarten Buchstaben war darauf gestickt: Liesel.
»Ei, Donnerwetter,« sagte der Vater, »das ist ja sehr praktisch! Die Puppe hat sich auf ihre Luftreise sogar einen Paß mitgenommen!«
»Ich wundere mich, daß sie Gnade vor deinen Augen gefunden hat,« meinte Hubert. »Wie du alle deine bisherigen Puppen behandelt hast, das war ja schandbar!«
Susi blickte ihn grimmig an. »Die anderen Puppen waren steife, tote, alte Dinger; aber diese da – das ist ein richtiges Kind.«
Die Mutter nickte ihr freundlich zu. »Du hast recht, Susi. Sie sieht wirklich wie ein liebes, gutes Kind aus. Aber weißt du, das zerrissene Kleidchen müssen wir ihr doch ausziehen.«
»Ja, natürlich,« rief Susi und wunderte sich, daß ihr das nicht längst eingefallen war. Bald lag die Puppe im Hemdchen und Höschen auf dem Frühstückstisch. Es zeigte sich, daß die Fänge des Vogels auch noch durch die Wäschestücke gedrungen waren, das Höschen war nicht mehr zu brauchen. Auch das Hemdchen hatte einen Riß; »aber den kann ich stopfen,« sagte die Mutter. Schnell, wie immer, hatte sie ihr Nähzeug bei der Hand, und während nun Susi ihre Milch trank und sich das dickbestrichene Butterbrot schmecken ließ, nähte sie den Riß so fein zusammen, daß man ihn kaum noch fand.
»Aber wo nehmen wir jetzt ein Kleid her?« sagte sie nachdenklich.
»Näh' mir eins, Mutter,« bat Susi schmeichelnd.
»Susi, du weißt, was es jetzt in der Wirtschaft zu tun gibt. Ich habe jetzt wirklich keine Zeit, um Puppenkleider zu nähen. Wenn du dir in der Handarbeitsstunde mehr Mühe gegeben hättest, könntest du dir jetzt ganz hübsch selber eins nähen.«
Susi sah betrübt vor sich hin. Plötzlich sprang sie auf: »Ich weiß schon was! Oben im Kasten liegt ja noch die Jägerin. Die war gerade so groß wie die Liesel. Vielleicht könnte sie ihr Kleid tragen.«
Und husch! war sie schon bei der Türe draußen, und man hörte ihre Sandalen die Stiegen hinauftrappen.
Als sie zurückkam, legte sie die arme, kopflose Puppe im Lodenkleidchen, die Liesel des Abends zuvor im Schrank gesehen hatte, vor die Mutter hin. Die Mutter musterte sie und meinte: »Du hast recht. Es ist fast dieselbe Größe.« Und während ihre Finger das Lodenkleidchen auszogen, seufzte sie: »Das war auch so eine feine, teure Puppe, Susi! Und du hast sie nur ein paar Tage gehabt.«
»Aber sie hatte so ein ekelhaftes Gesicht, Mutter,« erwiderte Susi leicht zerknirscht, »erinnerst du dich nicht? So knallrote Wangen, und so kalkige Augen, und so eine gräßliche Perücke von blonden Locken, wie sie's gar nicht gibt. Wie Suppennudeln. Ich konnte sie gleich nicht leiden. Ich war ordentlich froh, wie Waldis Junge mit ihr spielen wollten und ihr den Kopf abbissen.«
Indessen hatte die Mutter die Anprobe vollendet, und siehe da, das Lodenkleidchen paßte der Puppe Liesel ganz vorzüglich. Susi war begeistert. »Jetzt sieht sie ein bißchen älter aus, nicht wahr, Mutter? Gerade wie eine lustige, kleine Försterstochter, die gerne mit auf die Bäume steigt …«
»Na, du hast ja schöne Absichten, das sehe ich schon! Es ist nur ein Glück, daß die Puppe Liesel sehr solid gemacht scheint. Vielleicht hält sie es aus, mit dir zu leben!«
Und Puppe Liesel hielt es aus.
Es war freilich ein ungeheurer Unterschied zwischen dem Leben, das sie jetzt führte, und dem bei ihren früheren Müttern. Bei Traudel war es gewesen wie ein fröhlicher Plauderbach, bei Resi wie ein kleiner, stiller See, bei Susi aber war's wie ein Gießbach, der sich kopfüber über Stein und Wurzeln stürzt, alle Augenblicke seine Richtung ändert und ohne Unterlaß schäumt und gischtet und braust. Susi bewies ihre Liebe zu Puppe Liesel in erster Linie dadurch, daß sie sie auf alle ihre abenteuerlichen Wege mitnahm: in den Kuhstall, wo sie alle die stattlichen, schöngehaltenen Tiere bei Namen nannte, auf der Stirne kraute und mit salzbestreuten Brotkrusten oder ähnlichen Leckerbissen fütterte; in den Schweinestall, wo sie täglich die Fortschritte beobachten mußte, die die jungen Schweinchen im Wachstum machten; in den Taubenschlag – ach und da oben war es so heiß und eng! – wo sie die Eier in den Nestern zählte, die jungen, plumpen, blinden Täubchen in die Hand nahm, streichelte und wieder zurücklegte; oben in den Heuboden, wo sie alle Hennennester kannte und von wo sie täglich mit einem Schürzchen voll Eier in die Küche hinunter kam – eine der wenigen Tätigkeiten, für die sie gelobt wurde, und überall, überall mußte Puppe Liesel mit. Dort, wo der Garten in den Wald überging, war ein dichtes Dorngestrüpp, in welchem Susi ein Nachtigallennest mit Jungen wußte. Sie hätte die scheuen, seltenen Vögel um keinen Preis gestört oder gar verscheucht, aber sehen mußte sie die Jungen doch! Und so hatte sie sich einen Schlupf durch die Dornen gebahnt, von dem aus sie unbemerkt einen Blick auf das Nestchen werfen konnte. Auch da mußte Liesel mit, und es war wirklich gut, daß sie ein so starkes, festes Lodenkleidchen bekommen hatte; ein anderes wäre längst in Fetzen in der Hecke hängen geblieben. In dem großen Obstgarten hinter dem Hause gab es auch ein paar Kirschbäume, die in der hochgelegenen Gegend eben jetzt ihre Früchte reiften. Da kletterte Susi, flink wie ein Eichkätzchen, öfters hinauf – immer ihre Liesel im Arm. Es kann aber nicht verschwiegen werden, daß an diesen Exkursionen auf den Kirschbaum sich auch Bruder Hubert beteiligte. Susis eigentlicher Lieblingsbaum aber war die Blutbuche beim Springbrunnen. Ihre Äste fingen so niedrig über der Erde an und waren so regelmäßig gewachsen, daß man wirklich fast wie auf einer Leiter bis in den Gipfel hinaufsteigen konnte. Dort oben saß Susi manchmal stundenlang und äugte scharf wie ein Falke nach allen Seiten, sah die Wolken oben am Himmel aufsteigen und zerfließen, sah aufs Gebirge hin und beobachtete die Schatten der Felsen, wie sie wuchsen und sich wandelten, sah die Vögel, die über den Wald hinflogen, und nannte ihre Namen der Puppe Liesel, die schweigsam und geduldig neben ihr in der Astgabel lehnte. Auch Liesel war recht gern in der Blutbuche, ihr kam es immer vor, als könnte sie hier ein bißchen ausruhen, denn wirklich, hier war der Platz, wo Susi Pausewang am längsten und ruhigsten verweilte. Aber einmal erlebte sie hier ein schreckbares Abenteuer. Das war an einem schönen Sommernachmittag, als Susi mit ihr oben in den Ästen saß und plötzlich von der Ferne Räderrollen und Peitschenknall hörte. Gleich fuhr sie auf und spitzte die Ohren. »Besuch!« sagte sie zu Liesel. Sie schob sich auf dem Aste weiter vor und spähte zum Fuhrweg hinunter. Nun konnte man schon das leichte Wägelchen erkennen, auf dem ein Herr und eine noch jugendliche Dame saßen. »Der Onkel aus Kirchdorf!« rief Susi hocherfreut und, hast du nicht gesehen, haspelte sie sich mit Windeseile an den Zweigen hinunter, und als der Wagen vor dem Gartentor hielt und die Insassen ihm entstiegen, flog ihnen schon die kleine zerzauste Gestalt stürmisch entgegen. »Na, da haben wir ja als erste wieder die wilde Hummel!« sagte der Onkel lächelnd. Und sie gingen dem Hause zu, aus dem ihnen schon die Mutter entgegenkam, und durch die offenen Fenster scholl bald freudiges Bewillkommnen und Plaudern.
Indessen saß die arme Puppe Liesel mutterseelenallein auf dem höchsten Ast der Blutbuche. Ach ja, in ihrer Eile und Freude hatte Susi zum erstenmal vergessen, ihr liebes Kind mit sich zu nehmen. Puppe Liesel saß still und fürchtete sich nicht, so wenig wie sie sich im Rosenstrauch und in den Krallen des Raubvogels gefürchtet hatte. »Susi wird mich schon holen,« dachte sie. Fliegen und Käfer umsummten sie, und fast wäre sie eingeschlafen.
Da hörte sie plötzlich in den Zweigen der benachbarten Kastanie ein Knacken und Brechen und gewahrte, daß sich dort unter dem grünen Blätterdach etwas bewegte. Es kam auf dem langen Ast, der sich der Buche entgegenstreckte, immer näher; die Spitze senkte sich – auf einmal fuhr sie wieder in die Höhe und ein rotes Etwas flog durch die Luft und tauchte in das Buchenlaub. Und gleich rauschte und prasselte es jetzt durch die Äste zu ihr empor – und auf einmal, eine Spanne weit von ihr entfernt, schnellte es auf ihren Ast und blieb verwundert und zornig sitzen.
Puppe Liesel sah ein Paar lange Ohren, mit roten Haarbüschelchen geziert, ein Paar zierliche Pfötlein, in Brusthöhe erhoben, ein weißes Bäuchlein, einen herrlichen rotbuschigen Schweif, der sich zornig sträubte: oh, sie wußte, das war ein Eichkätzchen. Ein ganz besonders keckes und tollkühnes Tierlein mußte es sein, denn Eichkätzlein waren beim Försterhaus gar nicht gern gesehen und wußten das auch und kamen selten in seine Nähe. Das Eichkätzlein, das der Puppe gegenübersaß, war über diese Begegnung nicht etwa erfreut, sondern halb böse und halb erschrocken. Was war das für ein buntes, seltsames Ding? Ein Vogel nicht; ein Marder, des Eichkätzchens grimmigster Feind, glücklicherweise auch nicht; aber eine Blume oder eine Frucht war es auch nicht – also was dann? Es rührte und regte sich nicht; es sah nicht gefährlich aus; oder verstellte es sich nur? Das Eichkätzchen knurrte und fauchte empört, dann keckerte es plötzlich hell auf und mit einem weiten Sprung schwang es sich auf den nächsten Baum. An dem Wogen der Wipfel konnte Liesel noch lange seinen Weg verfolgen, wie es in den Wald zurückfloh.
Inzwischen hatten sich unten lachende Stimmen auf den Gartenwegen genähert, sie waren es wahrscheinlich gewesen, die das Eichkätzchen verscheucht hatten. Liesel konnte deutlich Susis helles Rufen unterscheiden. »Oh, jetzt kommt sie herauf und holt mich,« dachte sie. Aber die Stimmen verklangen wieder und niemand war zu ihr gekommen. Das war eine große Enttäuschung. Es begann nun schon dämmerig zu werden. Ein leiser Abendwind erhob sich und ließ die Laubkronen rings um Liesels luftigen Sitz leicht erschauern. Im Forsthaus unten erhellten sich die Fenster. Da saßen sie nun wohl fröhlich um den gedeckten Tisch, und niemand dachte an die arme, kleine Puppe in ihrer Astgabel!
Der Wind wurde stärker, die Blätter sausten und rauschten, und der Ast, auf dem die Puppe saß, schwankte hin und her, völlig dunkel war schon der Himmel. Da hörte Liesel in der Nähe plötzlich ein leises »Kuwitt – kuwitt«. Und mit weichem, lautlosen Flügelschlag strich ein schattenhaftes Wesen dicht über ihr vorbei, hielt im Fluge inne und krallte sich neben ihr an den Ast. Zwei feurige Augen, zwischen denen ein scharfer krummer Schnabel drohte, starrten die Puppe an. Da ward es sogar der tapferen Puppe Liesel bang ums Herz. Das war nun sicher eine Eule, sie hatte noch nie eine gesehen, aber Susi hatte ihr von ihnen erzählt. Wenn die sie nun packte und in ihr Nest schleppte, wo acht junge Eulenkinder saßen, alle mit feurigen Augen und krummen Schnäbeln! Nein, nein, sie wollte nicht in der finsteren Nacht verschleppt und zerrissen werden!
Aber die Eule tat ihr nichts. Sie glotzte sie nur unverwandt an, ebenso über das sonderbare Wesen erstaunt, wie zuvor das Eichhörnchen. Es war ein gutes, braves Käuzchen, das den Menschen mit dem Fang von Mäusen und schädlichen Nachtschmetterlingen gar nützliche Dienste erwies; es dachte auch nicht, daß es der Puppe solche Angst einjagte; es fühlte sich nur verpflichtet, diese neue Erscheinung in seinem Revier eingehend zu betrachten und zu prüfen.
Da floß plötzlich ein lichter Glanz über die Zweige. Der Mond war hinter dem Walde aufgegangen und sein weißer Schimmer füllte alles mit silbernem Licht. Nun konnte auch die Eule Puppe Liesels sanftes Gesicht und ihre ruhige Haltung deutlich erkennen. Nein, von diesem Wesen drohte keine Gefahr! Und lautlos schwang sie sich wieder von dannen.
Puppe Liesel atmete erlöst auf. Jetzt war um sie nichts als das Rauschen der Blätter im Nachtwind und das Klingen des Springbrunnens unten im Garten. Nun lag Susi schon lang im Bett und schlief! Liesel mußte schon bis zum Morgen ausharren! Aber was war denn das – klang nicht die Tür des Forsthauses? Und knirschte der Kies nicht unter leichten, hastigen Tritten? Ach ja, unten kratzte es am Stamm, eine weiße Gestalt schwang sich höher und höher – und nun tauchte neben Liesel das atemlose, keuchende Gesicht Susis auf. »Ach, da bist du ja!« rief sie freudig und ein paar helle Tränen kugelten über ihre runden Wangen. Sie bedeckte die Puppe mit Küssen und drückte sie innig an ihr weißes Nachthemdchen. Und dann glitt sie wieder rasch und sicher zum Boden hinunter.
»Sei mir nur nicht böse, meine arme Liesel,« flüsterte sie während des Abstiegs, »der Onkel war da und die Tante – die hatten so viel zu erzählen! Und wir mußten ihnen soviel zeigen, und es war so lustig, und ich habe dich ganz vergessen! Und nachher war ich so müde und bin so schnell eingeschlafen. Aber du hast mir doch gefehlt, denn auf einmal bin ich aufgewacht und hab' dich gerufen und du warst nicht da, und da ist mir eingefallen, ich mußte dich auf dem Baum gelassen haben. Und da bin ich heimlich und schnell herausgelaufen – das darf niemand wissen, hörst du, niemand! Ach, ich habe ja solche Angst um dich gehabt! Ich dachte, vielleicht hätte dich der Wind hinabgeschleudert, oder ein Marder hätte dich fortgeschleppt …«
Wie gerne hätte Puppe Liesel ihr berichtet: »Nein, ein Marder war nicht bei mir, aber ein Eichkätzchen und eine Eule!« Aber leider ist nun einmal den Puppen die Sprache versagt, und so konnte sie nur stumm die Freude genießen, daß sie wieder in Susis warmen Armen lag. Diesmal ging es nicht mit dem üblichen Getöse die Treppe hinauf, sondern leise, ganz leise, und als Liesel wieder auf Susis Kopfkissen lag, flüsterte ihr das Mägdlein noch voll Seligkeit zu: »Und weißt du, was morgen sein wird? Morgen gehen wir in den Zirkus! Onkel Kurt hat uns gesagt, daß heute einer im Dorf angekommen ist. Weißt du, was ein Zirkus ist? Pferde und Männer, die durch Reifen springen, und mit Eisenkugeln Ball spielen und so …« Und da war die wilde Hummel wieder eingeschlafen.
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