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Die Nacht unter der Baumwurzel

So hatte nun Liesel, freilich nicht auf so abenteuerliche Weise, wie die beiden ersten Male, wiederum eine neue Mutter erhalten und schlief in dieser Nacht wieder in einem anderen Bett, – in einem ganz schmalen, sonderbaren Bett im grünen Wagen. Marie hatte sich mit verhaltenen, leisen Tränen in den Schlaf geweint, und Liesel lag neben ihrer Wange und dachte: »Es muß wohl meine Bestimmung sein, daß ich nie lange an einem Platz bleiben darf. Ich darf nicht unzufrieden sein; es ist ja auch schön, vielen Kindern Freude zu machen. Ob Susi um mich auch so weint, wie um Marie? Ach, sie hat ihr ja gesagt, daß sie im nächsten Jahr wieder in dasselbe Dorf kommen werden: da sehen wir uns ja dann alle wieder! Was mag nun inzwischen mit Reserl geschehen sein? Und wo ist meine liebe, gute Traudel?« Aber während Liesel so an ihre Mütter dachte, wurde sie auch immer müder und müder und endlich schlief sie ein!

Als sie aufwachte schien die helle Sonne durchs Fenster. Es war ein ganz winzig kleines Fenster, mit weißen Vorhängen, die Liesel bestimmt noch nicht gesehen hatte. Ach ja, sie war ja im grünen Wagen! Und dort stand ja Marie, in einfachem Kittelchen, und kämmte ihre schönen, langen Haare! Und ringsum war so viel Lärm und Bewegung. Sie hörte Rufen und Schreien und Heben. Als Marie fertig gekämmt war, nahm sie Puppe Liesel auf den Arm und trat ins Freie. Da sah Liesel ein paar Männer, die eifrig damit beschäftigt waren, das Zirkuszelt zu zerlegen. Fast waren sie schon fertig damit. Sie erkannte in dem einen Mann Signor Molinari; aber heute sah er gar nicht wie ein König aus. Dann war noch ein ältlicher, dicker Mann da, an dessen Gesicht sich Liesel nicht erinnern konnte; später erfuhr sie, daß er Onkel Pepi genannt wurde und den großen Wurstel im Zirkus spielte und auch, wenn er nicht gerade auftrat, die große Drehorgel hinter der Plachenwand drehte; der dritte war der große Bruder Martin, der nur auf den Plakaten Mario hieß, auch Heinrich und Marie mußten nun eifrig helfen und schaffen, während Frau Müller auf einem kleinen eisernen Herd im Freien Kaffee kochte. Endlich war alles auseinandergelegt und auf einen kleineren Wagen geräumt, der neben dem grünen Wohnwagen stand, die Zirkusleute setzten sich ins Gras und frühstückten; dann wurden der Braune und das nickende Schimmelchen vor den größeren und ein altes, steifes, graues Pferd, das zum Kunststückemachen nicht mehr zu brauchen war, vor den kleineren Wagen gespannt, hier stieg Onkel Pepi mit Heinrich, dort der Vater mit Martin auf den Bock, Frau Müller und Marie, die den Platz noch eifrig abgesucht hatten, ob nichts liegen geblieben sei, stiegen die kleine Treppe zum Wohnwagen hinauf, die Pferde zogen an und fort ging die Fahrt in den strahlenden Sommermorgen hinein.

Marie stand an einem der Fenster, hielt Puppe Liesel an ihr Herz gedrückt und sah sehnsüchtig nach den grünen Wäldern hinüber, in deren Mitte das Forsthaus stand, wo ihr so viel Freundlichkeit und Liebe geschenkt worden war. Aber sie durfte nicht lange müßig sein. Erst machte sie mit ihrer Mutter die Betten und brachte den ganzen kleinen Raum in Ordnung. Oh, wie viel enger und schmäler war hier noch alles, als im winzigen, winzigen Häuschen! Alles war ineinandergeschachtelt und übereinandergetürmt; hier konnte Frau Müller wohl mit dem besten Willen kein Behagen schaffen; aber sie achtete wenigstens darauf, daß hier sowohl wie in dem winzigen Küchenräumchen alles sauber und ordentlich war. Gleich nachher zog sie einen großen Pappkasten unter einem Bett hervor und öffnete ihn. Da lagen nun all die schönen bunten Kleider darin, die Susi und Liesel bei der Vorstellung so bewundert hatten. Aber jetzt bei Tageslicht sahen sie lange nicht so prunkvoll aus, wie im Scheine der Zirkuslampen. »Da gibt es wieder viel auszubessern, Marie,« sagte Frau Müller mit einem leisen Seufzer und hob ein violettes Trikot gegen das Licht. »Da sieh einmal! Überall geplatzt und zerrissen! Heinrich wächst so sehr, er würde notwendig ein neues Trikot brauchen. Aber es kostet so viel Geld.«

»Im Frühling kann er ja ein neues haben, Mutter,« tröstete Marie, »und jetzt bis zum Herbst muß eben noch dieses gehen. Wir werden es schon noch einmal flicken können.«

Sie fädelte eine Nadel ein und fing mit sicherer Hand die ärgsten Schäden zu beseitigen an. Aber als Frau Müller alle anderen Kleidungsstücke gemustert hatte, nahm sie ihr die Arbeit weg und sagte: »Das will schon ich machen, Marie. Du mußt notwendig die Girlanden aufzupfen und auffrischen; sie sind schrecklich zerdrückt und sehen gar nichts mehr gleich.«

»Ja, Mutter,« sagte Marie gehorsam. Und so saßen Mutter und Tochter stundenlang über ihre Arbeit gebeugt und stichelten und zupften. Der Wagen rollte ruhig auf der ebenen Landstraße dahin, und Martin pfiff sich auf dem Bock ein lustiges Lied. Aber Maries Gesichtlein wurde immer trüber und trüber, und Liesel sah, wie plötzlich eine Träne auf die verblaßten Blumen in ihren Händen fiel.

»Sie denkt daran, daß sie sonst um diese Zeit immer ins Forsthaus hinauf kam,« dachte Liesel und ihr kleines Puppenherz empfand mit Marie das ganze Weh der Trennung von den schönen Tagen im Forsthaus.

Um die Mittagszeit wurde an einer schattigen Stelle Rast gehalten. Während die Mutter das einfache Mahl kochte, mußten die Kinder unter ihres Vaters Aufsicht allerhand Gelenkigkeitsübungen machen, um geschmeidig und sicher zu bleiben. Wäre zufällig ein Wanderer an der Waldwiese vorbeigegangen, er hätte sich höchlich ergötzt an dem lebendigen Treiben, an den Sprüngen und Kunststücken der hübschen, schlanken Kinder. Aber Liesel merkte wohl, daß es nicht Vergnügen, sondern Arbeit war, die da geleistet wurde, und sie sah, wie abgespannt und blaß namentlich Heinrich und Marie nach den Übungen aussahen. Aber nun bekamen sie ihr Essen und Frau Müller mahnte immer wieder in ihrer sanften Art: »Iß, Marie! Iß, Heinrich!« Nach dem Mahle legten sich die Männer in den Schatten und schliefen. Die Frau wusch mit den Kindern das Geschirr und dann hieß es schon wieder einsteigen und weiterfahren. Auch das Nachtlager wurde diesmal nicht im Dorf, sondern im Freien gehalten und da es wieder eine schöne, warme Sommernacht war, schliefen nur Frau Müller und die beiden Kinder im Wagen, während sich die Männer neben den Wagen auf Decken streckten.

Am nächsten Tag zu Mittag war das Ziel, ein großes Dorf, erreicht und es begann sofort ein eifriges Arbeiten und Schaffen auf dem Platze, den der Ortsvorsteher den Zirkusleuten für ihre Vorstellung eingeräumt hatte. Die Pfosten wurden eingetrieben, die Plachen gespannt, die Bänke aufgestellt, Stühle für die ersten zwei Reihen aus dem Wirtshaus geborgt, die Lampen befestigt, die Bühne geschmückt, kurz, aus Leibeskräften gewirkt und gearbeitet. Noch vor dem Abend stand der Zirkus fix und fertig da. Und nun wurde ein Umgang durch das Dorf veranstaltet, vorn ging der große Wurstel und blies die Trompete, hinter ihm ritten Frau Molinari und Marietta in ihren schönen Zirkuskleidern und mit kunstvoll frisiertem Haar, als letzter kam Martin im violetten Trikot und trug auf einer Stange ein Plakat mit weithin sichtbaren Lettern, die die Wunder der Vorstellungen im Zirkus Molinari jedem in überschwenglichen Worten ankündigten. Rechts und links vom Wege gafften die Bauernbuben und rissen Mund und Augen auf beim Anblick des bunten Zuges.

Aber am Abend war der Zirkus lange nicht so voll, wie er in Recknitz gewesen war. Am nächsten Tag, dem eigentlichen Kirchtag, da freilich gab es guten Besuch, auch am Montag ließ sich noch eine ganz gute Vorstellung geben. Aber dann hieß es wieder weiterziehen. Und so fuhr Puppe Liesel mit dem grünen Wagen bis in den September hinein durchs Land, sah ganz aus der Nähe, wie beschwerlich und bescheiden das Leben dieser Leute war, die, wenn sie des Abends in ihren phantastischen Kleidern vor den Zuschauern ihre Künste zeigten, so reich und sorgenlos und leichtherzig schienen. Sie kamen in Orte, wo die Leute unfreundlich, mürrisch und boshaft waren; wo die Einnahme des Abends bei weitem nicht die Auslagen deckte, die man gehabt hatte, und wo alle erleichtert aufatmeten, wenn sie den Schmäh- und Schimpfworten der rohen Burschen, die sich an ihrem Wege aufstellten, endlich davongefahren waren. An anderen Orten ging es besser, die Leute waren freundlich, die Vorstellungen gut besucht; aber so lange wie in Recknitz konnten sie nirgends bleiben. Ende August kam eine Reihe schwerer Regentage, an denen sie keine Vorstellungen geben und nicht im Freien übernachten konnten; das war eine häßliche, trübe Zeit und Frau Müllers Gesicht wurde immer sorgenvoller.

Am vierten September kamen sie in einem kleinen Marktflecken an, der Lichtenbrunn hieß. Hier wollten sie wieder längere Zeit bleiben, da gerade ein großer Viehmarkt abgehalten wurde, zu dem viele Menschen zusammengeströmt waren. Das Wetter war nun wieder schön geworden, fast zu heiß für diese Jahreszeit. Das Zelt wurde aufgeschlagen und alles ging aufs beste vonstatten. Die Vorstellungen waren gut besucht, die Leute waren freundlich und kargten nicht mit Beifall, und Signor Molinari sagte zufrieden zu seiner Frau: »Hier werden wir die Regentage wieder hereinbringen.«

Puppe Liesel aber hatte hier in Lichtenbrunn gleich am Anfang ein schreckliches Erlebnis. Es gab nämlich in dem Orte zwei böse, gewalttätige Buben von vielleicht zwölf und vierzehn Jahren, die an nichts soviel Freude hatten wie am Unfugtreiben, Schadenstiften und Händelsuchen. Gleich am ersten Abend, als die Zirkusleute noch eifrig an der Aufstellung ihres Zeltes arbeiteten, hatten sie sich hergeschlichen und lungerten, die Hände in den Hosentaschen, um die fleißigen Leute herum. Herr Müller rief ihnen zu, sie sollten ihm helfen, er würde ihnen ein gutes Trinkgeld dafür geben, denn die Zeit drängte schon. Aber die Burschen lachten ihm frech ins Gesicht und liefen davon. Kurze Zeit darauf hörte man ein Gepolter und Geprassel. Die beiden boshaften Kerle hatten an einer der unbewachten Stellen einen der Pfähle herausgerissen, der im Fallen die Leinwand nach sich zog, und leicht hätte noch ein größerer Schaden entstehen können, wenn nicht Herr Müller und Onkel Pepi so schnell zur Stelle gewesen wären und den Pfahl wieder festgemacht hätten. Martin aber hatte in der Abenddämmerung gerade noch bemerken können, wie zwei Burschen eiligst gegen den Wald hin davonliefen, er setzte ihnen mit raschen Sprüngen nach, holte sie ein und prügelte sie beide windelweich. Das war den Übeltätern recht geschehen; sie hinkten heulend nach Hause und schwuren den Zirkusleuten Rache.

Am nächsten Morgen stand Marie an dem Zaun, der die Weide, neben der der Zirkus errichtet war, umgrenzte; sie hängte ein paar Wäschestücke zum Trocknen auf, die ihre Mutter frühmorgens schon gewaschen hatte. Puppe Liesel, die ihre unzertrennliche Begleiterin war, so wie sie früher die von Traudi, Reserl und Susi gewesen, saß an einen bemoosten Stein gelehnt und freute sich des schönen Sonnenscheins, der nun wieder über den Wäldern mit ihrem schon herbstlich gefärbten Blattwerk lag. Da fiel plötzlich ein Schatten über sie und eine häßliche, schmutzige Hand mit abscheulichen, kurzgenagten Nägeln faßte sie um die Mitte. Oh, wie erschrak Puppe Liesel! Hilfeflehend sah sie nach Marie aus; aber die drehte ihr gerade den Rücken zu, und der wilde Räuber war ganz leise hinter den Brombeerhecken herbeigeschlichen. Puppe Liesel sah sich rettungslos in seiner Gewalt, und nun sprang er schon mit ihr über den Zaun und rannte mit langen Schritten zum Wald hinauf. Auf halbem Wege blieb er stehen und rief höhnische Schimpfworte zu Marie hinunter. Die sah erst nur erstaunt und flüchtig von ihrer Arbeit auf und wollte sich nicht weiter um den ungezogenen Bengel kümmern, aber da bemerkte sie, daß er etwas in die Höhe hielt und in der Luft herumschwenkte – Um Himmels willen! Das konnte doch nicht Puppe Liesel sein! Heftig drehte sich Marie um – der Stein war leer, die Puppe war verschwunden, ein ängstlicher Schrei brach aus ihrer Kehle, sie schwang sich über den Zaun und rannte dem Räuber nach.

»Gib mir meine Puppe wieder!« rief sie.

»An Schmarrn,« schrie der böse Kerl zurück. Und er rannte und rannte und Marie lief, so schnell sie ihre Füße trugen, hinterdrein. Sie war ja flink und gewandt und geübt, und die Angst um ihre geliebte Puppe verlieh ihr vermehrte Kraft; aber der Räuber war größer und älter und hatte längere Beine. Oh, wie er sie höhnte! Wie er die arme Puppe in die Luft warf und sie an einem Arm oder Bein wieder auffing! Puppe Liesel war es himmelangst zumute. Und ebenso der armen Marie. Sie sah mit Entsetzen, daß der Abstand zwischen ihr und dem Dieb immer größer wurde, statt kleiner. Nun war er gleich bei der großen Rinderherde, die dort oben weidete; wenn er in dem Föhrenwald dahinter verschwand dann war die Puppe für immer verloren!

Maries kleines Herz schlug zum Zerspringen vor Angst und Atemnot. Sie mußte sich an einen Baum lehnen und innehalten. Heiße Tränen quollen aus ihren Augen. »Puppe Liesel! Puppe Liesel!« schluchzte sie. Der Räuber war nun schon ganz oben angekommen, da stand auch er plötzlich still. Und Marie sah, daß wie aus dem Boden gewachsen eine kleine Gestalt sich vor ihm aufrichtete. Und eine helle, laute Stimme rief:

»Gibst die Puppen her?«

»Na.«

»Gibst die Puppen her?«

»Na.«

»Das gib i dir dafür – und bei meinen Brüdern kannst dir no mehr holen.«

Eine Peitsche knallte scharf durch die Luft und Marie sah, wie der Junge schreiend die nackten Beine in die Höhe zog. Aber jetzt sieh, oh, jetzt warf er die Puppe zu Boden und lief davon. Er schrie und schimpfte und schwenkte die Fäuste, aber er kam nicht mehr zurück.

Und ein kleines bloßfüßiges Mädchen mit einem runden Gesicht und einer großen Hirtenpeitsche in der Hand kam langsam zu Marie herunter. In der Linken trug sie die mißhandelte Puppe.

Als sie bei der noch immer vor Erschöpfung weinenden Marie ankam, legte sie ihr zuerst, ohne ein Wort zu sagen, die Puppe in den Schoß. Marie griff heftig zu und sagte: »Dank schön!«

Das fremde Mädchen antwortete nicht. Sie hielt die Hände auf dem Rücken und musterte Marie mit ernster Miene. Sie hatte ein rotwangiges Gesicht von ernstem Ausdruck und trug ihre braunen Zöpfe hinten an ihrem runden Köpfchen zu einem drolligen Knoten aufgesteckt. Sie schwieg und Marie wagte auch nichts zu fragen.

Endlich begann die andere: »Bist du das Spielermädel?«

»Ja.«

Wieder eine lange Pause. Dann sagte das Mädchen: »Ich bin die Anna vom Höllgruber. Das sind unsere Kühe.« Sie wies mit der Peitsche hinauf. »Ich hab' dem Moser Ferdl eine ordentliche hinaufgehaut, weil ich gesehen hab', er trägt dir die Puppe davon. Das ist einer! Mir traut er sich nichts zu machen, weil ihn sonst meine Brüder durchhaun.«

»Ich dank dir schön, Annerl,« sagte Marie leise. Und dann hielt sie ihr die Puppe mit einer raschen Bewegung hin. »Hast du sie dir schon angeschaut?«

Annerl musterte nun auch die Puppe ernstlich und nachdenklich, wie zuvor das Kind. »Die ist lieb,« sagte sie dann anerkennend, »und gut gemacht muß sie sein, sonst hätt' ihr der Ferdl sicher eine Hand oder einen Fuß ausgerissen!«

»Nein, Gott sei Dank, es ist ihr nichts geschehen,« sagte Marie und streichelte und wiegte das geraubte Puppenkind zärtlich in ihren Armen; Annerl sah ihr aufmerksam zu. Aber plötzlich drehte sie sich um und rief: »Ich muß wieder zu meinen Kühen, sie rennen schon wieder davon.« Und rasch eilte die kleine, gedrungene Gestalt den Hügel hinauf, und Marie hörte das Knallen der Peitsche und die lauten Rufe der kleinen Hirtin: »Öh, Frieda! Öh, Lora! zurück!«

Von diesem Tage an bestand die Freundschaft zwischen Marie und der kleinen Anna Höllgruber. Der Höllgruber war einer der größten Bauern im Ort, er hatte neun Söhne und Töchter, von denen die ältesten schon außer Haus waren, während die jüngeren auf dem väterlichen Hofe fleißig schafften und wirkten. Auch die kleine Annerl, die erst sehr spät, als ihr jüngster Bruder schon zehn Jahre zählte, zur Welt gekommen war, mußte fleißig mithelfen. Ihr war jetzt die Aufsicht über die Kühe anvertraut, die den ganzen lieben Tag auf den leergeernteten Feldern und Wiesen grasen durften, während über die Ochsen ein Halterbub die Aufsicht hatte.

Als Marie am nächsten Morgen aus ihrem Wagen trat, sah sie die Kuhherde ganz nahe, gleich hinter dem Zaun, das Gras abweiden. Und an den Zaun gelehnt stand Annerl und rief, als sie sie erblickte, herüber: »Wo ist denn die Puppe?«

Marie ging an den Wagen zurück und nahm Puppe Liesel aus dem Bett, in welchem sie noch immer geschlafen hatte, denn Marie hatte sich gedacht, daß sie nach den Aufregungen des Vortages recht ruhebedürftig sein werde. Sie trug sie noch im Hemdchen zu Annerl hinaus, Kleidchen, Höschen und Schuhe hielt sie in der Hand. Annerl sah sich die Puppe von allen Seiten an und sagte: »Die kann man wirklich ausziehen? Geh, was steht denn auf dem Hemderl da vorn?«

»Ihr Name,« sagte Marie stolz. »Sie heißt Liesel.«

»Das Hemderl ist aber schon geflickt.«

»Ja, weil sie ein riesig großer Adler durch die Luft getragen hat. Der hat mit den Krallen das Hemd zerrissen.«

»Wo hat denn der sie hergenommen? Und wie hast du sie von dem Adler bekommen?«

»Woher sie der Adler hat, das weiß kein Mensch. Aber der Vater von meiner Freundin hat ihn geschossen und hat die Puppe der Susi heimgebracht.«

»Wer ist denn der Vater von deiner Freundin?«

»Der Oberförster Pausewang in Recknitz.«

»Das ist eine spaßige Geschichte,« sagte Anna sinnend.

»Jetzt gib mir die Puppe, ich will sie anziehen.«

»Geh, steig über den Zaun zu mir. Ich darf nicht weg von den Kühen.«

Marie stieg hinüber, und die beiden Mädchen setzten sich in den Schatten eines Vogelbeerbaumes, dessen rote Beeren weithin leuchteten, und zogen der Puppe miteinander sorgsam Höslein, Schühlein und Kleidchen an. Anna Höllgruber wollte dann noch vieles andere wissen. Wo das sei, Recknitz, und warum ihr Susi die Puppe gegeben hatte, und ob die Puppe jetzt immer bei ihr wäre im grünen Wagen, ob die Puppe auch Seiltanzen könne, und ob es wahr sei, daß Marie auf dem Seil tanze!

»Ja, das tu ich. Magst du mich nicht einmal anschauen?«

»Ich möchte schon, aber der Vater will's nicht erlauben. Er sagt, es kostet zu viel Geld.«

»Hat dein Vater kein Geld?«

»Mein Vater hat sehr viel Geld,« sagte Anna stolz. »Aber für den Zirkus mag er es nicht hergeben.«

»Das ist schade,« sagte Marie betrübt. Sie hätte sich gefreut, wieder einmal ihre Kunststücke für ein liebes, befreundetes Gesicht machen zu können, wie damals in Recknitz. Aber sie wollte sich lieber freuen, daß hier wieder einmal ein kleines Mädchen war, das freundlich zu ihr war, und mit dem sie über die geliebte Puppe Liesel reden konnte.

Eine so zärtliche Freundschaft wie mit Susi war es freilich nicht. Susi war so lebhaft und voll Wärme, ja, manchmal voll Heftigkeit gewesen. Anna war ganz ruhig und bedachtsam und in vielen Dingen wie ein Erwachsener. Bei jedem Ding dachte sie gleich daran, wozu es nutz sei und wieviel es kostete und oft wußte sie auch selbst den genauen Preis anzugeben und altklug zu beurteilen, ob es teuer oder recht wohlfeil gekauft wäre. Aber trotzdem hatte Marie die kleine Annerl lieb gewonnen, sie fühlte die zuverlässige Gutherzigkeit in allem, was sie sagte. Und Annerl konnte so schön zuhören. Sie fragte und Marie erzählte so gern! Märchen und andere Geschichten, die sie gelesen, die sie selbst erlebt hatte. So saßen die Kinder oftmals beisammen – denn Anna wußte es immer so einzurichten, daß sie ihre Kühe in der Nähe des Zirkusplatzes weidete – und waren froh miteinander, und Puppe Liesel saß zwischen ihnen und empfing von beiden Zärtlichkeiten und Bewunderungen.

Leider konnte die Puppe nicht so lange in Lichtenbrunn verweilen, wie zuvor in Recknitz, obwohl die Einnahmen nach wie vor recht gut waren.

Am Tage vor dem Aufbruch kam Annerl mit freudeglänzenden Augen zu Marie und sagte: »Denk dir, gestern ist meine Patin bei uns gewesen und hat mir Geld geschenkt, daß ich in den Zirkus gehen kann! Am Abend komme ich!« Da freute sich Marietta mit ihr und gab sich des Abends ganz besondere Mühe, um ihrer Freundin zu gefallen. Und Annerl bewunderte und bestaunte sie vielleicht noch mehr als Susi, denn sie hatte sich so etwas, wie sie in dem Zirkus zu sehen bekam, gar nie auch nur vorstellen können. Am anderen Tage war sie in ihrem Beisammensein mit Marie erst ganz stumm und befangen. Erst später taute sie auf, als Marie davon sprach, daß heute am Abend die letzte Vorstellung sei, und daß sie ganz, ganz zeitig am nächsten Morgen wieder fortfahren müßten.

»Um vier in der Früh müssen wir schon aufstehen und um sechs schon fortfahren,« sagte sie, »da werd' ich dich nicht mehr sehn, Annerl!«

»Oh, ich kann leicht um sechs schon auf sein.«

»Aber wirst du zu mir kommen können?«

»Das weiß ich nicht. Hör', Marie, ihr fahrt ja ohnehin durchs untere Dorf hinaus. Da paß auf, auf den großen Hof mit den zwei Nußbäumen vor dem Tor. Ich werd' herausschauen und werd' dir winken.«

»Ja, Annerl.«

»Wohin fahrt ihr denn?«

»Übermorgen sollen wir in Dreihofen sein, und von dort geht es noch nach Kirchdorf. Das ist heuer unsere letzte Station. Dann fahren wir heim. Heinrich und ich müssen in die Schule gehn. Der Vater und Martin und Onkel Pepi, die gehen dann noch miteinander auf Jahrmärkte und so, aber ohne Wagen.«

»Das wird dir fad sein, das Schulgehn, gelt?«

»O nein. Ich geh viel lieber in die Schule, als daß ich im Zirkus bin.«

»Geh, das kann ich nicht glauben, Marie! Die schönen Kleider, die du angehabt hast! O je!«

»Möchtest du im Zirkus sein?«

Anna sah sie verdutzt an und dachte eine Weile nach, wie sie die unerwartete Frage beantworten sollte. Dann schüttelte sie ihr rundes Köpfchen und sagte ehrlich: »Nein, ich bin lieber bei den Kühen.«

»Marie, Marie!« tönte in diesem Augenblick Frau Müllers Stimme von unten. Marie sprang eilig auf.

»Ich muß der Mutter beim Zusammenpacken helfen. Nachmittag will sie noch mit mir in den Wald hinauf. Dort sind soviel Beeren, da will sie noch mit mir welche pflücken. Leb wohl, Annerl!«

»Leb wohl, Marie! Ich seh dich ohnehin noch morgen früh. Gib her die Puppe!«

Marie gab ihr die Puppe, und Anna sah sie lange an, streichelte sie und gab ihr dann plötzlich einen Kuß. Dann lief sie rasch davon und winkte noch von weitem mit der Hand und rief: »Behüt' Gott! Behüt' Gott!«

Als Frau Müller am frühen Nachmittag mit ihrer kleinen Tochter, jede ein Gefäß in der Hand, zum Walde ging, sah sie besorgt zum Himmel auf und meinte:

»Wenn nur heute kein Gewitter kommt! Es ist schon die ganzen Tage her so heiß, und heute sticht die Sonne wie im August.«

»Ich sehe aber keine Wolken, Mutter.«

»Die kommen schnell, wenn sie kommen. Aber vielleicht geht es vorüber. Es wäre auch schlecht wegen der Vorstellung.«

Da traten sie in den grünen, schattigen Wald – es gab so herrliche Wälder in der Nähe von Lichtenbrunn – und bald fanden sie ein Plätzchen, das mit Beeren ganz übersät war. Sie pflückten eifrig und sahen gar nicht, daß vom Westen eine bleigraue Wolkenbank sich drohend heraufschob. Puppe Liesel, die ihre kleine Herrin natürlich begleitet hatte, saß zuerst ganz vergnügt zwischen den Beerensträuchern und sah den beiden bei ihrer lustigen Arbeit zu. Aber dann kam Marie zu ihr hin und sagte: »Nein, Liesel, hier kann ich dich zu leicht aus den Augen verlieren, wenn wir weiter fortgehn! Ich muß dir ein Plätzchen suchen, das wir bestimmt wiederfinden!«

Und dieses Plätzchen entdeckte sie auch gleich. Ganz in der Nähe stand an einem steilen Abhang eine hohe, alte Buche, unter einer ihrer dicken Wurzeln war die Erde abgerutscht und es hatte sich darunter eine ganz nette, behagliche Höhle gebildet, trocken und rein, von Farnkraut und Blumen umwachsen. »Ist das nicht ein hübsches Plätzchen?« sagte Marie erfreut. »Siehst du, Liesel, die Höhle paßt gerade für dich! Da sitzest du und schaust mir zu, bis ich dich hole!«

Wirklich fand es Liesel recht behaglich und gemütlich in ihrem Zimmerchen unter der Erde. Sie sah durch das sprossende Grün hinaus in den Wald, wo Frau Müllers blaues Kleid und Maries rotes Schürzchen immer und immer wieder zwischen den Stämmen auftauchten. Als sie in den Wald gekommen waren, hatten allerhand Vögel noch fröhlich gezwitschert und gepiepst, aber seither war es ganz still geworden. Das fiel der kleinen Puppe Liesel auf. Und der Sonnenschein, der durch die Kronen fiel, hatte so einen merkwürdig fahlen Glanz bekommen. Und dort drüben sah man durch die Stämme nicht mehr blauen Himmel, sondern ganz, ganz schwarze Wolken, die sich immer höher drängten. O weh, was war das nur?

»Marie wird es schon merken,« dachte Liesel in ihrem kleinen Puppenherzen und war schon wieder getröstet. Sie wußte, auf Marie konnte man sich verlassen. Aber Marie und ihre Mutter waren so sehr in das Beerenpflücken vertieft, es gab ja dann unten vor der Vorstellung noch so viel zu tun, sie mußten sich eilen; sie würden nirgends mehr so schöne Beeren finden wie hier, und zum Kaufen waren sie ja zu teuer.

So pflückten ihre Hände rastlos Beere um Beere von den Ständlein ab, und ihren zu Boden gerichteten Augen entging die Veränderung am Himmel ganz und gar. Sie merkten es nicht einmal, als die Sonne ganz verschwand und die dunkle Wolkenmasse auch das letzte Himmelsblau verschlang. Sie hatten sich beim eifrigen Pflücken schon weit von Puppe Liesels Zufluchtsort entfernt, als plötzlich ein sausender Windstoß mit Macht den stöhnenden Wald durchfuhr. Die Bäume neigten und bogen sich, die Büsche schauerten und fern noch, aber drohend und deutlich, klang das Rollen des Donners!

Frau Müller und Marie fuhren erschrocken in die Höhe. »Jetzt haben wir das Gewitter!« rief die Mutter. »Schnell, Marie, schnell, rennen wir hinunter, vielleicht kommen wir noch vor dem Regen zum Wagen! Hast du deinen Krug, ja? Ach, was wird aus der Vorstellung werden?«

Schon lief sie, so eilig sie konnte, bergabwärts und Marie folgte. Aber auf einmal blieb sie stehen und rief angstvoll: »Die Puppe, Mutter!«

»Die Puppe? Ja, wo ist die jetzt?«

»Sie kann nicht weit sein. Ich habe sie unter einen alten Baum gesetzt …«

Schon hatte Marie ihren Krug zu Boden gestellt und lief mit angstvollem Gesicht zurück: »Puppe Liesel!« rief sie in ihrem Schrecken und bedachte gar nicht, daß die arme kleine Puppe ihr ja gar nicht antworten konnte. Sie dachte, sie wäre ganz in der Nähe der Buche, unter deren schirmende Wurzel sie die Puppe geborgen hatte. Aber wie sie jetzt nach ihr suchte, ach, da waren so viele große, alte Buchen da und eine sah gerade so aus wie die andere, und wenn sie die rechte gefunden zu haben glaubte, sah sie beim Näherkommen jedesmal, daß sie sich wieder geirrt hatte. Heftig und atemlos rannte sie weiter und weiter. »Marie, Marie!« rief die Mutter ängstlich und dringend. Der Donner rollte näher und näher, der Sturm brauste stärker durch den Wald, es war schon ganz dunkel geworden. Marie sah wohl ein, sie würde ihre Puppe nicht finden. Schon fielen einzelne schwere Tropfen durchs Gezweig. »Marie, Marie!!!« scholl die Stimme der Mutter von neuem. Da ließ sie ab von ihrem vergeblichen Suchen und sprang über Wurzeln und Gebüsch, stolpernd und fallend, hinunter. Die Mutter nahm sie bei der Hand und sagte: »Lauf, Marie!« Und während sie beide, so schnell sie nur konnten, den Berg hinunter eilten, flüsterte sie noch tröstend: »Die Puppe kann ja in der Höhle nicht naß werden, du holst sie dir morgen früh, bevor wir abfahren.« Marie nickte, aber ihr Herz war schwer.

Und wie schwer war erst Puppe Liesels Herz, als sie nun so mutterseelenallein in dem wilden, sturmdurchheulten Walde saß! Sie hatte Maries suchende Stimme manchmal ganz in der Nähe gehört, aber bis zu ihr war sie nicht vorgedrungen. Und nun, das wußte sie, lief sie den Berg hinunter – und würde sie überhaupt wiederkommen? Würde sie sie finden? Und was würde inzwischen mit ihr geschehen sein? Wohl fühlte sie sich in der Höhle recht geborgen – aber würde ihr Schutz bei einem so schweren Ungewitter genügen. Die kleine Puppe konnte ja nicht berechnen und voraussehen, was für Möglichkeiten es in ihrer Lage gab, aber ein unbestimmtes Gefühl von Furcht und Bangigkeit erfüllte ihr ganzes Herz. Sie erinnerte sich, daß sie schon zweimal so sich selbst überlasten gewesen war; einmal auf dem Rosenstrauch und einmal auf der Blutbuche. Aber das erstemal hatte sie sich überhaupt nicht gefürchtet und das zweitemal, wo ihr das Erscheinen der Eule richtige Angst eingeflößt hatte, hatte sie doch immer das tröstliche Bewußtsein gehabt: »Susi ist in meiner Nähe, Susi weiß, wo ich bin, Susi wird mich holen!« Aber jetzt? Und dieses schreckliche, schreckliche Wetter, das sich jetzt in furchtbarer Gewalt über dem Walde entlud! Die sturmgebeugten Äste knackten und ächzten. Blitz auf Blitz warf seinen grellen Schein durch die rauschenden Kronen, und der Donner rollte mit dumpfem Getöse darüber hin und es regnete, als hätte der Himmel all seine Schleusen geöffnet. Zu Puppe Liesels unaussprechlicher Freude drang kein Tropfen in die Höhle hinein; aber oben, von der schirmenden Wurzel herab stürzte es wie ein Gießbächlein in die Tiefe. Farne und Blumen troffen von Nässe. Und wie nun Liesel voll Bangen in dies Fließen und Rauschen hinausstarrte, da huschte auf einmal etwas großes Schwarzes durch den Höhleneingang herein und drückte sich in die äußerste Ecke.

»Ein wildes Tier!« dachte Puppe Liesel voll Entsetzen. »Wenn es mich nur nicht sieht!«

Aber schon hatte der Eindringling sie bemerkt und eine warme, schnuppernde Nase streckte sich gegen Puppe Liesel vor und strich vorsichtig über ihr Gesicht und ihre Kleider. Puppe Liesel sah zwei große, glänzende Augen und zwei lange Ohren, mehr konnte sie in der finsteren Höhle nicht erkennen. Aber das Tier machte keine Miene, zu beißen oder zu kratzen; nachdem es sich überzeugt hatte, daß die Puppe kein gefährliches Wesen sei, duckte es sich wieder zusammen, zufrieden, daß es in letzter Minute noch so ein schönes, trockenes Obdach gefunden hatte. Es war ein Häslein, das hier Schutz vor dem Regen suchte. Als der erste Schrecken überwunden war, freute sich Puppe Liesel ordentlich, daß sie hier Gesellschaft hatte, es war doch viel gemütlicher, wenn sie sich auch nicht mit ihrem Gefährten unterhalten konnte, und wie weich und warm war doch das Hasenfell!

Inzwischen schoß draußen das Wasser ohne Unterlaß plätschernd von der Baumwurzel in die Tiefe. Sturm und Wetter hatten sich verzogen, aber der Regen wollte nicht enden. »Jetzt können sie heute abend keine Vorstellung mehr geben,« dachte Puppe Liesel besorgt. Sie wußte nicht, wieviel Stunden sie nun mit dem Häslein zusammen schon in der Höhle saß, aber daß es nun sehr, sehr lange Zeit war, das empfand sie doch. Immer dunkler und dunkler wurde es, es war nun schon gar nichts mehr zu erkennen, nicht einmal die Umrisse ihres Leidgefährten, und der Regen rauschte noch immer mit unverminderter Kraft. Nach langem, langem Warten endlich schien es ihr, als ob das Rauschen ein klein wenig nachließe. Und wirklich, der Fall der Tropfen wurde immer spärlicher, das Plätschern an den Büschen verstummte, der kleine Wasserfall vor der Höhle war nicht mehr so reißend wie zuvor. Das Häslein neben Puppe Liesel war schon längst unruhig geworden, hatte den Kopf mehrmals aus der Höhle gesteckt, wieder zurückgezogen; nun spähte es wieder ins Freie und diesmal faßte es einen Entschluß! Hops! fuhr es aus der Höhle hinaus und den Abhang hinunter. Puppe Liesel aber sah da draußen durch die triefenden Äste der Bäume den tiefen, klaren Sternenhimmel funkeln. Und da muß sie nun wohl eingeschlafen sein, einsam und vom langen Warten müde, denn der nächste Anblick, der sich ihr bot, das war ein lichter Strahl der Morgensonne, der gerade schräg unter der Baumwurzel zu ihr hineinsah. Wie freundlich das war und wie sich Puppe Liesel freute! Die Farne und Glockenblumen vor der Höhle sahen so frisch und verjüngt aus, und die großen Tropfen, die noch in ihnen hingen, blitzten in der Sonne in allen Regenbogenfarben. Ein bunter Schmetterling gaukelte vorüber und Bienen und Wespen flogen summend vorbei. Ein leuchtend schöner Morgen lag über dem Walde, dem noch die Feuchtigkeit des Gewitterregens aus allen Wipfeln troff.

Und wie nun Puppe Liesel in den sonnigen Frieden hinaussah, hörte sie plötzlich von ferne einen schwachen Ruf: »Liesel!« Und wieder: »Liesel!« War das nicht Mariens Stimme? Ach ja, die gute, treue Marie kam, sie zu holen! Ungestüm schlug das kleine Puppenherz. Wie gerne hätte sie dem Ruf geantwortet. Aber Laut und Stimme waren ihr ja versagt. Nun kamen die Rufe schon näher, nun hörte sie schon das Rauschen der Büsche, durch die das suchende Mädchen schlüpfte. Äste knackten, Blätter raschelten – jetzt, jetzt mußte Marie sie sehen! Aber nun entfernten sich die Geräusche wieder. »Liesel! Liesel!« rief es, aber nicht bei ihr. Und dann kam es wieder zurück. Aber bevor sie sie noch entdeckte, mußte sich Marie schon wieder nach einer anderen Richtung gewendet haben. Ach, Liesel konnte sich schon denken, wie eifrig und trostlos sie suchte! Und sie saß hier und sie konnte gar nicht, gar nicht das geringste tun, um ein Zeichen zu geben: »Hier bin ich!« Nie in ihrem ganzen Puppenleben hatte sich Liesel so brennend gewünscht, sprechen zu können, wie an diesem schrecklichen Morgen. Ja, er war schrecklich, obwohl die Sonne so schön schien und die Blumen ihr strahlendstes Lächeln aufgesetzt hatten. Es war schrecklich für die arme Puppe, die ihr Mütterlein wohl ein halb dutzendmal in ihrer allernächsten Nähe vorüberlaufen hörte und sich ihr nicht zu erkennen geben konnte, es war schrecklich für die arme Marie, die schließlich ganz erschöpft und in Tränen aufgelöst, ohne Puppe den Rückweg antrat.

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