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Ein Eisenbahnunglück

Ein Jahr ist eine lange Zeit für ein Kind. Den Erwachsenen freilich kommt es oft nur allzu kurz vor; an ihnen saust die Zeit vorbei mit Sorgen und Mühen, Freude und Leid, und ehe sie sich's versehen, müssen sie sich wieder einen neuen Kalender kaufen und eine neue Jahreszahl über ihre Rechnungen und Briefe schreiben. Aber den Kindern scheint ein Jahr noch endlos lang. Zwölf Monate hat es, denkt euch nur, zweiundfünfzig Wochen, dreihundertfünfundsechzig Tage und eine ganze Unmenge von Stunden, die zwar manchmal auch ernst und trüb sein können, aber zu allermeist für ein rechtes Kind doch heiter und sonnig und lustig sind. Und unter diesen vielen Stunden gibt es zwei, die sind die aller-, allerschönsten, die freudenreichsten, die erwartungsvollsten, die glücklichsten. Die eine Stunde ist die, in der die Kinder vor der verschlossenen Türe stehen, hinter der ihnen das Christkind seine Schätze aufbaut, und die sich nun bald auftun wird, um sie in das lichterstrahlende Reich des Weihnachtsbaumes einzulassen, und die zweite ist die, in der die Kinder an einem herrlichen Sommertage im Eisenbahnwagen sitzen, um der Freiheit und all den herrlichen Freuden der Ferientage entgegenzufahren.

Diese wunderschöne Stunde hatte nun auch für Traudel und ihren Bruder Helmut geschlagen. Gleich von der Zeugnisverteilung weg waren sie frohgemuten Herzens – sie hatten ja lauter so gute Noten! – auf den Bahnhof gefahren, und da der große Andrang auf die Bahnen erst am nächsten Tage beginnen sollte, hatten sie mit ihren Eltern, mit dem Dienstmädchen Nanni und dem kleinen Bruder Gerhard ein ganzes eigenes Abteil für sich haben können. Helmut und Traudel baten gleich um die Fensterplätze und bekamen sie auch; und da saßen sie nun mit freudegeröteten Wangen und sahen auf die grünen Wiesen, auf die rauschenden Wälder, die ragenden Berge, die schroffen Felsen hinaus, zwischen denen der Zug dahinfuhr. Zwischen den beiden Kindern war das Fenstertischchen aufgeklappt und auf diesem Tischchen saß, an Vaters dickes Kursbuch gelehnt, die Puppe Liesel und blickte ebenfalls ernsthaft ins Weite. Puppe Liesel war Traudels allerliebstes Herzenskind, ihre größte Freude, ihr treuester Spielgefährte, ihr ein und alles; und sie verdiente diese große Zuneigung auch, denn man konnte schwerlich ein reizenderes und lieberes Puppenkind finden als Liesel es war. Mit ihrem vollen Namen hieß sie Elisabeth Kruse; aber Traudel nannte sie immer Liesel oder eigentlich noch öfter Puppe Liesel, denn in dem Hause, in dem sie wohnte, gab es auch ein kleines Mädchen namens Liesel, aber das war so schlimm und unartig, daß Traudel um keinen Preis ihr geliebtes Töchterchen mit diesem bösen Kind verwechselt wissen wollte. Puppe Liesel hatte ein allerliebstes Gesichtchen mit blauen Augen und blonden Haaren, runden Wänglein und einem süßen kleinen Mund; sie war dauerhaft und unzerbrechlich, was bei einer Puppe ein Zeichen von guter Familie ist; aber vor allem hatte sie eine herrliche Eigenschaft: sie konnte aus- und angezogen werden wie ein richtiges Kind. Als das Christkind sie unter den Baum legte, war sie ein kleiner Hemdenmatz gewesen; aber Traudels Mutter und auch Traudel selbst, die recht geschickte Finger besaß, hatten ihr in den sechs Monaten seither schon eine sehr hübsche kleine Ausstattung von Hemdchen, Höschen, Kleidchen, Schürzen, Mäntelchen und allen möglichen anderen Sachen geschaffen. Die waren nun alle in einem hübschen roten Köfferchen verpackt, dessen einziger Schlüssel an einem Band um Traudels Hals hing. Immer wieder flogen Traudels Blicke von der schönen Landschaft draußen voll zärtlichen Stolzes zu der Puppe hin, die so aufmerksam und freundlich auf dem Tische saß. Puppe Liesel sah heute besonders herzig aus. Sie trug ein Dirndlkleid, das die Mutter aus den Fleckchen geschneidert hatte, die von Traudels eigenem Kleide übrig geblieben waren. Es war auch ganz genau so geschnitten wie das von Traudel und ließ unter dem ausgeschnittenen, ärmellosen Leibchen ein schneeweißes Hemdchen sehen, das Traudel selbst mit rotem Garn fein umfädelt und an dessen vorderen Rand sie mit zarten kleinen Buchstaben den Namen »Liesel« gestickt hatte. Ihr könnt euch wohl denken, daß Puppe Liesel selber sehr stolz auf dieses schöne neue Kleid war! Auch einen neuen Mantel hatte sie und ein Hütchen, auf das Traudel eine Rosenknospe von Mutters altem Hut genäht hatte; die Knospe, die auf Mutters Hut so winzig klein gewesen war, sah auf dem Puppenhütchen riesig groß und prunkvoll aus. Aber Mantel und Hut waren der Puppe ausgezogen worden und lagen oben im Schirmnetz, denn der Tag war ja heiß und, oh, so schön, so wunderschön!

Wer von euch einmal über den Semmering gefahren ist, der weiß, was das für eine wunderbare Fahrt ist. Durch ein Gewirr von Tälern und Höhen fährt der Zug in kühnen Schleifen und Bogen der Paßhöhe zu. Donnernd taucht er in der tiefen Dunkelheit der Tunnels plötzlich unter und taucht dann ebenso plötzlich wieder empor in den goldenen Sonnenschein, der über die himmelhohen Felswände, über die grünen Wiesen und Täler leuchtet. Auf weitgespannten Brücken gleitet er über Abgründe hinweg und windet sich keuchend an steilen Hängen empor. Mit jedem Augenblick wechselt das Bild, das sich den Augen der Reisenden bietet. Ja, man kann noch so oft über den Semmering gefahren sein, man sieht jedesmal mit neuem Staunen, mit neuem Entzücken die großartige Landschaft, durch welche die Eisenbahn fährt.

Helmut und Traudel fuhren zum allererstenmal über den Semmering, und ihr könnt euch vorstellen, daß sie kein Auge von den wechselnden Bildern, die draußen vorüberfuhren, abwandten. Die Fenster mußten der vielen Tunnels wegen leider geschlossen bleiben, aber die Kinder drückten sich voll Freude die Näschen an den Scheiben platt und Traudel drehte sich immer wieder zu ihrer Puppe um und fragte: »Siehst du alles, Liesel? Gefällt es dir?« Puppe Liesel saß still und stumm, aber ihr freundliches Gesicht schien jedesmal zu antworten: ja, es gefällt mir sehr, sehr gut!

Nun aber war der Zug in der Station Semmering angelangt und fuhr donnernd in den letzten großen Tunnel ein. Und als er wieder ans Licht kam, da grüßten schon die grünen Wiesen und Wälder Steiermarks durch die Wagenfenster und es ging talab, die rauschende Mürz entlang, der Mur entgegen. Die Fenster konnten jetzt heruntergelassen werden. »Beugt euch nicht zu weit hinaus, Traudel und Helli!« warnte die Mutter. »Und paßt auf Puppe Liesel auf!« – »Ach, Puppe Liesel sitzt so still und brav, gelt, Liesel?« sagte Traube. »Gelt, du magst auch gern ein bißchen aus dem Fenster schauen?«

»Fenster ssaun,« sagte der kleine Gerhard und trampelte von Nannis Schoß zum Fenster hin. Die gute Nanni aber nahm ihn auf den Arm und ging mit ihm auf den Gang hinaus, wo er durchs geschlossene Fenster auch ein bißchen hinausgucken durfte. Und die Mutter holte aus dem Gepäcknetz die große silberne Büchse, die ja eigentlich nur aus Aluminium war, aber von den Kindern doch immer die »silberne« genannt wurde, und nahm aus ihr ein paar appetitliche Schinkensemmeln und gab sie den beiden »Großen«, die über dem vielen Schauen zwar gar nicht die Zeit gehabt hatten, ans Essen zu denken, beim Anblick der Schinkensemmeln aber doch ganz plötzlich entdeckten, daß sie einen Riesenhunger hatten. Und sie ließen sich 's gut schmecken, die Semmeln zuerst, und dann auch die Kirschen, die ihnen die Mutter in einer Schale auf das Fenstertischchen stellte. Traudel und Helmut waren ja beides gesunde Kinder und konnten auf der Fahrt essen, was sie wollten, es wurde ihnen niemals schlecht.

So schmausten die Kinder, und Puppe Liesel saß still und friedlich dabei und sah nach wie vor unverwandt ins Grüne hinaus. Der D-Zug donnerte jetzt noch einmal so schnell wie früher dahin, er hatte bei der Bergfahrt etwas Verspätung gehabt und wollte sie jetzt wahrscheinlich einholen. Vielleicht war nur diese rasende Geschwindigkeit daran schuld – oder vielleicht hatten die Kinder beim Hantieren auf dem Tischchen die Puppe zu nah ans Fenster geschoben – oder vielleicht war es beides: jedenfalls, als der Zug gerade um eine Kurve brauste, geschah das schreckliche Unglück: Puppe Liesel verlor das Gleichgewicht, neigte sich nach vorne und, ehe jemand sich's versah, flog sie in weitem Bogen aus dem Wagenfenster hinaus.

Ein herzzerreißender Schrei aus Traudels Munde scholl ihr nach. Die Mutter konnte nur gerade noch schnell aufspringen und das kleine Mädchen vom Fenster wegreißen, so weit beugte sie sich vor, um dem entschwundenen Liebling nachzusehen. »Was ist denn?« rief der Vater und sprang herzu.

»Puppe Liesel! Puppe Liesel!« stieß Traudel jammernd hervor.

Der tapfere Helmut, der selber tief erschrocken war, hatte schon rasch einen rettenden Gedanken gefaßt. »Vater, ich ziehe die Notleine!« sagte er, »damit wir aussteigen und Puppe Liesel holen können.« Und er hob schon den Arm zu dem Griff an der Wand, aber der Vater hielt ihm die Hand fest.

»Nein, Kind, das darfst du nicht! Die Notleine darf man ziehen, wenn ein Menschenleben in Gefahr ist, aber doch nicht einer Puppe wegen! Da würden wir sogar dafür bestraft werden!«

Tiefbetrübt ließ Helmut den Arm sinken und Traudel schluchzte in Mutters Arm noch lauter auf. »Weine nicht, Kind,« sagte die Mutter tröstend. »Ich werde es dem Christkind sagen, daß es dir eine neue, eine ganz genau gleiche Puppe Liesel bringt. Sicher hat das Christkind noch eine in seinen Kisten und Kasten. Und wir ziehen ihr Liesels Kleider an und es ist, als ob du sie nie verloren hättest!«

»Ach nein, ach nein,« schluchzte Traudel. »Meine Puppe Liesel kann es doch nie wieder sein! Ach könnten wir nicht bei der nächsten Station aussteigen und zurückgehen, Vater?«

»Ach nein, das können wir nicht,« sagte der Vater bekümmert, »es dauert noch lang bis zur nächsten Station, so weit könnten wir ja gar nicht zurückgehen! Und wer weiß, ob wir die Puppe finden würden!«

Wiederum schluchzte Traudel laut auf. Die Mutter streichelte sie und redete ihr in sanften Worten zu. Ihr selber tat es leid um die hübsche Puppe und sie wußte auch, wie sehr Traudels Herz an ihr gehangen hatte. Und dem Vater tat es leid um sein Töchterchen und am allermeisten dem Helmut. Denn wenn es auch manchmal – aber wirklich nur ganz selten – vorgekommen war, daß die beiden miteinander stritten, so hingen sie doch in Wirklichkeit mit großer Zärtlichkeit eins am andern, und als Helmut seine Schwester jetzt so bitterlich weinen sah, kamen ihm auch fast die Tränen in die Augen. So war das kleine Eisenbahnabteil, in dem eine Viertelstunde zuvor noch allerhellste und allerlustigste Ferienfreude geherrscht hatte, plötzlich voll Jammer und Betrübnis. Nur einen gab es, der unverändert lustig war, das war der kleine Gerhard, der von alledem noch nichts verstand und lustig lachte und plapperte, während Nanni aufrichtig mit den Kindern trauerte.

Mit der Zeit verstummte Traudels Schluchzen und sie weinte nur noch leise vor sich hin. In eine Ecke gedrückt, saß sie den ganzen Rest der Fahrt teilnahmslos da, wies all die guten Sachen, die die Mutter ihr anbot, zurück, und dachte mit bitterem Schmerz an die geliebte Puppe, die ihr so jählings entrissen worden war. Wo mochte sie jetzt sein? War sie am Ende unter die Räder des Eilzuges geraten und schrecklich zermalmt worden? War sie in die rauschende Mürz gefallen, deren Wellen sie jetzt über spitze Steine und brausende Wehre unbarmherzig zu Tal führten? Ach, wo war die liebe, liebe, schöne, gute Puppe Liesel hin? So grübelte die arme Traudel, während ihre Mutter leise und unbemerkt das rote Mäntelchen und den Hut mit der Rosenknospe aus dem Schirmnetz nahm und in ihrer Handtasche versteckte.

Und als nun endlich das Ziel der Reise erreicht war, da stieg mit Eltern und Geschwistern, die ihren Frohmut angesichts der herrlichen Landschaft, die sie empfing, rasch wiedergefunden hatten, ein armes kleines Mädel mit arg verschwollenen Augen und rotgeweinten Wangen aus dem Zuge und wollte sich über gar nichts von all dem Neuen freuen, das es da sah. Und es war doch so schön! Am selben Abend noch hatte Helmut schon den kleinen Bach hinter dem Hause völlig umgegraben und einen wunderbaren Hafen für seine mitgebrachte kleine Flotte, die er hier durch zahlreiche Rindenschiffchen zu vermehren trachtete, angelegt. Aber Traudel, sonst die unzertrennliche Gefährtin seiner Spiele, hatte diesmal gar kein Interesse dafür. Müde und matt verlangte sie gleich ins Bett und schlief auch bald mit einem letzten, hastigen Aufschluchzen ein.

Als am anderen Morgen der blaue Sommerhimmel gar so freundlich ins Zimmer lachte, da kam ihr die Welt freilich schon wieder ein bißchen hübscher vor. Und nach ein paar Tagen war sie halb getröstet und nach einer Woche wieder ganz die frische, lustige Traudel von einst. Sie spielte mit den Geschwistern in Wiese und Feld und wanderte mit den Eltern durch den geheimnisvoll raunenden Bergwald. Ihre Wänglein blühten und ihre Augen strahlten. Aber vergessen hatte sie ihre Puppe noch immer nicht, und jeden Abend vor dem Einschlafen stellte ihr Herz die bange Frage: wo mag Puppe Liesel sein? Und dann faltete sie die Hände und sagte ganz rasch und leise: Lieber Gott, beschütze meine arme, verlorengegangene Puppe Liesel!

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