Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Viertes Kapitel

Arbeit und Erfahrungen der Lehrjahre

Der Aufenthalt bei Mrs. Quickly wurde mir denn doch allmählich unerträglich; meine Stunden mehrten sich, und ich bedurfte einer etwas bessern Wohnung, in der ich Besuche empfangen konnte, und die durch eine zentralere Lage mir die weiten Wege zu den fernabliegenden Stunden erleichtern würde. Eine junge Hamburgerin, ältere Schwester einer unserer Hochschülerinnen, die Klavier- und Singstunden gab, machte mir den Vorschlag, mit ihr zusammen ein Logis zu nehmen, auf diese Weise billiger und angenehmer zu leben und zugleich einer an der andern einen Trost zu verschaffen. Da sie mir sympathisch war und mir als eine ernste, strebsame Natur erschien, so ging ich auf den Vorschlag ein, umsomehr, da unsere Interessen nicht miteinander in Kollision kamen, wir uns im Gegenteil auch in betreff der Stunden, eine die andere empfehlend, sehr nützlich sein konnten, und da mir die Gesellschaft der jüngern, heitern Gefährtin, besonders an den traurig langen Abenden eines Londoner Winters, tröstlich erschien. Ich verließ also Mrs. Quickly und St.-Johns-Wood, und wir zogen in eine hübsche, ziemlich stille Straße, nahe einem der sogenannten Squares, der mit Rasen, Blumen und Bäumen versehenen Plätze, die die Steinwüste Londons freundlich beleben und für die daran Wohnenden, namentlich die Kinder, eine Wohltat sind. Wir hatten ein doppeltes Zimmer zu ebener Erde als gemeinschaftlichen Salon und zwei Schlafzimmer im zweiten Stock, da auch dies Haus, wie mein früheres, nur je zwei Zimmer per Stock enthielt, doch von etwas größeren Proportionen.

So hatte mein Leben denn, wenngleich noch immer eine sehr bescheidene, doch eine etwas freundlichere Gestalt gewonnen. In unseren Zimmern waren wir doch nun die Herren, und die Wirtin konnte nicht beliebig eindringen; wir konnten uns mit unseren Büchern und Papieren umgeben, und wenn wir ermüdet von den Stunden heimkehrten, so fanden wir ein Zimmer mit einem guten Kaminfeuer, ein Mittagessen mit gesunder, wenn auch höchst einfacher Kost und das Heimatsgefühl, das gegenseitiges Wohlwollen in unser Zusammenleben brachte. Aber es mußte tüchtig gearbeitet werden, um dies dürftige Wohlbehagen zustande zu bringen, denn unter zwei Pfund Sterling die Woche ließ sich dies Notwendigste nicht bestreiten; dazu kamen noch die Ausgaben für die Kleidung, die nicht vernachlässigt werden durfte, da der Erfolg der Lehrer zum Teil auch davon abhing; endlich die notwendigen Fahrgelder der Omnibusse, mitunter auch der Droschken, wenn die Zeit drängte, denn die ungeheuren Entfernungen Londons machen das Gehen von einer Stunde zur andern unmöglich, und selbst das Fahren nimmt soviel Zeit weg, daß es eine anerkannte Sache ist, daß zehn Minuten oder eine Viertelstunde an der Stunde abgerechnet werden müssen. Was es aber heißen will, besonders in der Regen- und Nebelzeit, wenn man kaum einen Schritt weit sehen kann und überall von einer dichten, gelblichen, feuchten, übelriechenden Atmosphäre umgeben ist, durch die die Sonne nur wie eine in Öl getränkte Papierlaterne hindurchscheint und wobei es oft so düster in den Häusern ist, daß man um Mittagszeit Licht anstecken muß, um arbeiten zu können – was es heißen will, an solchen Tagen von einer Stunde in die andere zu gehen, aus warmen Stuben wieder hinaus in die feuchte Kälte, an den Straßenecken auf die Omnibusse zu warten, in ihnen naß und triefend mit anderen nassen und triefenden Wesen zusammengepackt zu sein und oft sich nur mit einem flüchtig zwischen zwei Stunden in einem Bäckerladen eingenommenen magern Frühstück bis zum späten Nachmittag zu begnügen – das kann nur der wissen, der das selbst mit durchgemacht hat. Und doch mußte man sich freuen, wenn man recht viele Stunden hatte und vom Morgen bis zum Abend beschäftigt war, denn das war die Möglichkeit, am Abend die müden Glieder im eignen kleinen Zimmer nach Belieben ausstrecken zu können; das war das Mittel, etwas beiseite zu legen, um im Sommer, wenn die Stunden nach vollendeter »season« aufhörten, sich an der Meeresküste zu erfrischen; das war endlich die Aussicht, für jene Tage, in denen Alter und Krankheit das Arbeiten nicht mehr gestatten, einen Notpfennig übrig zu haben, der es erlauben würde, in die Heimat zurückzukehren, um daselbst zu sterben. Welche Aufregung war auch stets die Aussicht auf eine neue Stunde! Wie suchte man sich mit Zeit und Entfernung einzurichten, um sie annehmen zu können! Wie unterwarf man sich notgedrungen, obgleich fast vor sich selbst errötend, auch jenen Dingen um den Preis, die gerade in den wohlhabendsten Klassen die Engländer sich nicht entblöden, den armen Lehrern gegenüber auszuüben, sowie sie sich auch nicht scheuen, sie lange, ja manchmal von einer season zur andern, auf das mühsam verdiente Stundengeld warten zu lassen, während sie Hunderte und Tausende für die Toiletten- und Fest-Ausgaben der Saison verschwenderisch hinwerfen. Glücklich der Lehrer, den sein Stern in dieser Beziehung zu den besseren, redlichen Ausnahmen führt, und noch glücklicher der, der bei seinen Schülern Fähigkeit, guten Willen und Sympathie findet, und so das sterile Lehren der deutschen Sprache in ein etwas ergiebigeres Feld edleren Unterrichts verwandeln kann. Die deutsche Sprache gehörte ganz unbestritten zu jeder fashionablen Erziehung, seitdem ein deutscher Prinz der Gemahl der Königin und die deutsche Sprache am Hofe gleichbedeutend mit der englischen geworden war. Aber der Mehrzahl der Lernenden lag es eben nur daran, dem Erfordernis der fashionabeln Erziehung nachzukommen, und gering war nur die Anzahl derer, denen die deutsche Sprache ein Mittel war, um zum Verständnis deutschen Geistes und deutscher Literatur zu gelangen. Ich kann sagen, daß ich wenigstens insofern zu den vom Schicksal begünstigten Lehrern gehörte, als ich mehrere unendlich liebliche, schöne und talentvolle Wesen unter meinen Schülerinnen hatte, zu denen ich nicht nur in dem Verhältnis der bezahlten Lehrerin stand, sondern mit denen sich freundlichere Beziehungen gestalteten, die mich einweihten in ihr Leben, ihre Freuden und Sorgen, und die manches Mal ihre deutsche Arbeit vergaßen, um sich Rat bei mir zu holen, Meinungen mit mir zu diskutieren, neue, ihrem Lebenskreise fremde Tatsachen von mir zu hören. So hatte ich unter anderem eine Schülerin, die Tochter eines Parlamentsmitgliedes, ein Mädchen von sechzehn Jahren, klug, witzig, begierig, über die engen Grenzen ihres konventionellen Lebens hinüber zu schauen in andere, freiere Lebensverhältnisse, aber wenig geneigt, mit Zeitwörtern und Deklinationen in eine ernsthafte Beziehung zu treten. Sie hatte fast nie, oder im besten Fall nur zur Hälfte, die Aufgaben fertig, die ich ihr von Stunde zu Stunde gab; grammatische Genauigkeit kümmerte sie wenig, und sie wußte sehr bald sowohl Lese- wie Schreibbuch zu beseitigen, um mich mit Fragen aller Art zu bestürmen und mir zu versichern, daß die liebste Stunde, die ich ihr geben könnte, die sei, ihr auf ihre Fragen zu antworten. Sie interessierte sich sehr für Politik und hatte mir bald genug ein Glaubensbekenntnis abgelockt, wonach sie mich nun nur scherzend die rote Republikanerin nannte und meinte, so weit würde sie nicht gehen, wiewohl sie die liberalen Ansichten ihres Vaters, der zur Manchesterpartei gehörte, teilte. Doch sah ich aus dem Eifer, mit dem sie so oft als möglich zu dem Gegenstand zurückkehrte und aus den Konzessionen, die sie zu machen anfing, daß nicht alles, was ich gesagt hatte, auf dürren Boden gefallen war, und daß das Nachdenken darüber sie mehr beschäftigte, als das Auswendiglernen deutscher Vokabeln. Einmal erzählte sie mir, daß sie singen lerne und daß man ihr als erste Regel gesagt habe, sie dürfe kein Gefühl zeigen beim Gesang, das passe sich nicht für ein junges Mädchen, besonders da die meisten Lieder Liebeslieder seien, »aber«, fügte sie hinzu, »die Deutschen scheuen sich nicht, Gefühl, ja Leidenschaft zu zeigen, wenn sie singen, das ist also eigentlich unpassend«. Als ich ihr nun erwiderte, daß deshalb auch das meiste, was man in englischen Gesellschaften von englischen Dilettanten höre, gar kein Gesang sei, da fing sie an zu lachen und rief: »Ich glaube, im Grunde haben Sie recht, und wenn ich eine Deutsche wäre, so würde ich höchst gefühlvoll singen, so aber – darf ich es nicht . . .«

Unvergeßlich werden mir auch drei Schwestern bleiben von sechzehn, fünfzehn und vierzehn Jahren, die man wirklich die drei Grazien nennen konnte, denn alles, was die Natur an Liebreiz auf menschliche Geschöpfe ausgießen kann, war ihnen zugeteilt. Die Älteste schlank, stolz, eine junonische Schönheit, geistvoll und hochstrebend; die zweite blond, rührend und anmutig, fast unwiderstehlich lieblich; die dritte eine neckische Sylphide, mit so viel Schelmerei in den braunen Augen, daß man es den Schwestern gern glaubte, wenn sie fast in jeder Stunde mir Beispiele von den Neckereien des unerschöpflich heitern, witzigen Mädchens erzählten. Alle drei hatten bald eine glühende Freundschaft für mich gefaßt, und es gab zu Anfang jeder Stunde einen heftigen Kampf um den Platz neben mir, so daß ich eine Abwechslung in bestimmter Reihenfolge anzuordnen genötigt war und ebenso auf das bestimmteste befehlen mußte, ihre an mich gerichteten Liebesbeteuerungen in deutscher Sprache vorzubringen, damit der Zweck der Stunden einigermaßen erreicht werde, wobei denn freilich oft die seltsamsten und komischsten Redensarten zustande kamen. Diese reizenden Wesen hatten zum Glück eine sehr verständige Mutter, die an das Naturwüchsige ihrer Kinder nicht mehr Fesseln legte, als eine wirklich gute Erziehung es verlangt.

Solche schöne Ausnahmen sind glücklicherweise nicht selten in England, und ihnen verdankt man dann die herrlichen, wahrhaft vollendeten Frauen, deren England mehr als jedes andere Land sich zu rühmen hat.

Aber eben nicht alle Erfahrungen, die ich während meiner mich tief in das häusliche englische Leben blicken lassenden Lehrerinnenlaufbahn machte, waren so liebenswürdiger Natur. Andere zeigten mir im Gegenteil die trostlosen Abgründe, die Mode, Egoismus, beschränkte und verkehrte Lebensansichten und alle Kehrseiten der Gesellschaft, die man »die gute« nennt, in den bevorzugten Klassen gegraben haben, so daß man mit Recht sagen kann, daß hier Reformen ebenso nötig sind, wie in den unteren Schichten, oder vielmehr, einzig nötig, denn in jenen ist noch das Chaos. Wie manches feurige, jugendliche Sehnen wird in diesen erdrückenden Regeln der fashionablen Erziehung erstickt, wie manches Talent hoffnungslos geknickt, wie manche Blüte der Menschlichkeit zur steifen Gliederpuppe des »gentleman« und »ladylike« ausgetrocknet, wie manches entwicklungsfähige Gehirn vom trüben, poesielosen Lernen der notwendig zur Kategorie »gute Erziehung« gehörigen Fächer, zur dumpfen Gleichgültigkeit gegen alles wahre Erkennen getrieben. Hiervon erhielt ich ein Beispiel in den Stunden, die ich in einer der ersten Familien der hohen englischen Aristokratie gab. Das Studierzimmer war ein großer Saal, dessen eine Wand ein Flügel einnahm, an dem einer der Klavierlehrer, die augenblicklich in Mode waren, der ältesten Tochter, einem Mädchen von achtzehn Jahren, finishing lessons (Fertigmachestunden) gab. Solche Stunden kosten eine Guinee und werden daher nur zum letzten Firnis genommen, weil für den Anfang, nach der gewöhnlichen, grundfalschen Annahme, jeder Lehrer gut genug ist. In der Mitte des Saales stand ein runder Tisch, an dem ein alter englischer Lehrer eins der jüngeren Kinder beschäftigte; an der Wand, zunächst dem einen Fenster, befand sich ein Sofa, auf dem eine Untergouvernante saß und eines der anderen Kleinen lesen lernte; gegenüber am andern Fenster war ein Tisch, an dem die deutschen Stunden gegeben wurden. Zwischen den beiden Fenstern auf einem Sofa nahm die Obergouvernante Platz und las, nachdem sie die Runde an den Tischen gemacht und sich überzeugt hatte, daß der von ihr dirigierte Mechanismus des Stundenuhrwerks im gehörigen Gange sei. War keine Klavierstunde, so kam ein Violinlehrer zu einem der Knaben, und alle diese verschiedenen Stunden gingen zu gleicher Zeit vor sich. Zuweilen öffnete sich die Tür, und die Dame des Hauses, eine der stolzesten Aristokratinnen der drei vereinigten Königreiche von Großbritannien, schleppte ihr schwer seidenes Kleid herein, machte ebenfalls die Runde an den Tischen, grüßte jedoch die Lehrer und Lehrerinnen nicht, sondern richtete nur einige Worte an die Kinder, indem sie fragte: wie die Stunde ginge, ob es sich heute gut lerne usw. Nur den vornehmen Klavierlehrer, den »homme à la mode«, würdigte sie eines auszeichnenden Grußes und einiger freundlichen Worte, danach rauschte sie im Bewußtsein erfüllter Mutterpflichten wieder zur Türe hinaus. Der vornehme und verwöhnte Klavierlehrer aber stand auf, wenn ihm das unaufhörliche Wiederholen eines Bravourstückes, das für eine Salonaufführung eingeübt werden mußte, zu langweilig wurde, wärmte sich am Kamin, ja, streckte sich sogar wohl auf dem Sofa aus und blätterte in dem Buch, wenn die Obergouvernante gerade Sofa, Buch und Studierzimmer verlassen hatte. War die Dreiviertelstunde, die er nur zu geben verpflichtet war, um, so verließ der gewissenhafte Lehrer eilig diesen Höllenpfuhl guter Erziehung, in der frohen Gewißheit, wieder eine Guinee gewonnen zu haben.

In der deutschen Zimmerecke saß ich während alledem mit meinen Schülern, die aber nie zusammen ihre Stunde nahmen, sondern einer nach dem andern. Unter ihnen war ein Knabe von neun Jahren, der mir auch wieder ein ganz besonderes Vertrauen schenkte und mir, wenn die Obergouvernante nicht nahe war und niemand uns hörte, sein kleines Herz aufschloß. Er klagte über die tödliche Langeweile der meisten seiner Stunden, namentlich der Geschichtsstunden. »Ah,« sagte er, »es interessiert mich gar nicht, immer nur Namen und Zahlen auswendig zu lernen, wann der und der König geboren ist, wann er auf den Thron stieg, wann er starb; weiter sagt man mir nichts in der Geschichtsstunde. Ich möchte viel lieber Zeitungen lesen, da erfahre ich doch, was die Leute denken und tun. Ich möchte gern etwas über Kossuth wissen, den die Ungarn so lieben; mir sagt man, er sei kein guter Mann, weil er sein Volk gegen den Kaiser aufgewiegelt habe? Ist das wahr?« – Ich sagte ihm, daß das durchaus nicht wahr sei; daß Kossuth nur gewollt habe, daß sein Volk keine ungerechte Unterdrückung leide, sondern daß es sich frei, seinen Anlagen gemäß entwickeln und sich selbst regieren könne, ungefähr wie es das englische Volk tue; ich erklärte ihm auch, daß das Studium der Geschichte einen ganz andern Zweck habe, als bloß Namen und Daten auswendig zu lernen; daß er ganz recht habe, sich bei dieser Auffassung der Geschichte zu langweilen, daß sie ihm aber ganz anders erscheinen würde, wenn er darin den Anfang der Entwicklung des menschlichen Geistes, den unzerreißbaren Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart kennen lernen, oder die Heroen der Menschheit mit begeistertem Gemüt anschauen würde, um sich an ihrem Beispiel zu stärken zu hohem, menschenwürdigem Handeln. Zum Glück sprach der kluge Knabe schon ziemlich geläufig Deutsch und ich konnte ihm also all meinen gesetzwidrigen Unterricht in deutscher Sprache geben, die den Spürohren der französischen Obergouvernante, deren dürrem französischen Konvenienzverstand diese Unterhaltungen als gänzlich außer dem »règlement« erschienen sein würden, ein verschlossenes Buch war. Mich interessierte der arme, wißbegierige Knabe, dessen kindlicher Geist weit über die Sphäre der dürftigen, »guten Erziehung« hinausstrebte und ungeduldig mit den Flügeln gegen die Wände des engen Käfigs schlug, in den ihn das »konventionell Wissenswerte« zwängte. Ich fragte mich oft: Welches von beiden wird in ihm die Oberhand gewinnen? Wird er einst im House of Commons (denn er war nicht der älteste Sohn, folglich nicht für das Haus der Lords) sich erinnern, daß ein Volk keine Unterdrückung dulden und daß die Geschichte nicht bloß eine Aufzählung von Daten sein sollte, sondern vielmehr die Darstellung jenes riesigen Kampfes der Gewalten, die in der einzelnen Menschenbrust wie im Völkerleben miteinander um die Herrschaft streiten, und daß es die Aufgabe jedes einzelnen ist, sei es auch in der bescheidensten Sphäre, das Seine beizutragen, um der idealen Gewalt den Sieg zu verschaffen?

Leider verlor ich ihn zu bald aus den Augen, als daß ich mir ein bestimmteres Prognostikon für seine Zukunft hätte stellen können. Die Obergouvernante kündigte mir nach einiger Zeit mit erzwungenem, höflichem Bedauern die Stunden unter irgendeinem nichtigen Vorwand auf. Ich vermutete, daß sie einesteils gegen die staatsgefährlichen Unterhaltungen in der deutschen Ecke Verdacht geschöpft, andernteils aber jedenfalls einen entschiedenen Grund zur Entfernung einer so bedenklichen Lehrerin in folgendem Umstand gefunden habe: Die eine der Töchter, die bei mir Stunden hatte, ein sehr hübsches und ebenfalls begabtes Madchen, erzählte mir in der deutschen Konversation von ihrem Leben im Sommer auf dem Lande, von ihren Beschäftigungen, von den verschiedenen Mitgliedern ihrer Familie und unter anderem auch von ihrem Onkel, der Deutschland sehr liebe und einen Teil des Jahres immer in Deutschland zubringe. Ich erkundigte mich nach seinem Familiennamen und konnte, als ich ihn hörte, nicht zweifeln, daß dieser Onkel ein und dieselbe Person wäre mit einem jungen Engländer, den ich vor vielen Jahren in jenem deutschen Badeort getroffen hatte, wo ich mit meiner Mutter und Schwester war, und die russische Fürstin kannte, deren Abenteuer ich im ersten Band erzählt habe. Er war dort einer unserer liebsten Bekannten und eifrigsten Tänzer gewesen, und ich besaß noch ein Albumblatt, das er mir damals geschenkt hatte. Auch nach dem Badeaufenthalt, bei einem Zusammentreffen in einer größern Stadt Deutschlands, hatte er uns häufig besucht. Es fiel mir nun nach dieser Entdeckung auch ein, an wen mich das junge Mädchen erinnerte – eine Ähnlichkeit, die ich bisher vergebens in meinem Gedächtnis gesucht hatte: sie glich ganz ihrem Onkel, so wie er damals, in frischer Jugend, gewesen war. Ich teilte ihr diese Bemerkung mit, indem ich sagte, daß ich ihren Onkel in Deutschland gekannt habe, ohne jedoch zu erzählen, daß wir daselbst auf dem Fuße gesellschaftlicher Gleichheit gestanden hätten und daß er bei uns aus- und eingegangen sei. Sie schien sehr verwundert und hatte wahrscheinlich der Obergouvernante ihr Erstaunen darüber mitgeteilt; diese aber hatte es für vorsichtiger gehalten, die arme deutsche Lehrerin zu entfernen, die zu bekennen wagte, daß sie den stolzen Pair von England, den Erben eines der ältesten Geschlechter und eines kolossalen Vermögens, kenne und daß Kossuth kein schlechter Mann sei. Ich verließ das Haus mit dem aufrichtigen Bedauern, meinem kleinen freiheitsdurstigen Schüler nicht ferner etwas Stillung für sein sehnendes Herz zuführen zu können, aber auch mit einem Lächeln über die Ironie des Schicksals, das mich gerade in dieses Haus geführt hatte, unter die Augen dieser hochmütigen Lady, die sich für berechtigt hielt, die Lehrerin ihrer Kinder nicht einmal eines Grußes zu würdigen, während dieselbe Lehrerin, die um ihrer Überzeugungen willen jetzt als ein untergeordnetes Wesen vor ihr stand, einst eine ihr ebenbürtige, von ihrem Bruder ausgezeichnete Dame gewesen war und jetzt ihren im Geiste darbenden Kindern das Manna zu geben vermocht hätte, nach dem sie sich in der Wüste ihres hocharistokratischen Lebens sehnten.

Noch ein solches Studierzimmer, aus einem Hause der Geldaristokratie, will ich erwähnen, von dessen innerem Leben und Treiben ich lange Zeit eine vertraute Zeugin war, und durch das mir auch die früher erwähnte Abneigung einer jüdischen Dame gegen katholische Gouvernanten erklärt wurde. Es war das Haus einer jener jüdischen Familien, die in London eine wahre Macht bilden und, durch Heiraten und verwandtschaftliche Bande untereinander verbunden, durch ihren kolossalen Reichtum unabhängig gemacht, die sie verachtende christliche Welt allmählich zwangen, sie anzuerkennen und ihren siegenden Einzug in das englische Parlament nicht länger zu verhindern. Das Haus, in einer der stillen, vornehmen Straßen gelegen, die sogar durch ein Gitter am Eingang gegen die lärmenden, großen Handels- und Verbindungsstraßen zwischen City und Westend abgeschlossen sind, wurde, nachdem man, wie an allen englischen Häusern, mit dem Klopfer an die Tür geschlagen hatte, durch gepuderte Bediente in reicher Livree geöffnet. Stand gerade unten die Tür des Eßzimmers offen, so sah man im Vorübergehen die Pracht des Silbergeschirres, das die Tafel zierte; über reiche Teppiche, die die Treppen deckten, stieg man an den prachtvollen Wohnzimmern des ersten Stocks vorüber zum zweiten Stock empor, wo sich die Studierstube befand, ein düsteres, nach dem Hof gelegenes, unschön möbliertes, großes Zimmer, in dem sich die Kindheit und erste Jugend der vier Töchter des Hauses abspann. Die Mädchen waren weder hübsch noch sehr begabt, aber es waren gutmütige, fleißige und nicht gerade dumme Wesen, die vielleicht sogar einer weiteren Entwicklung fähig gewesen wären, hätte ihre fashionable Erziehung ihnen dazu die Möglichkeit gegeben. So aber saßen sie Tag für Tag unter der Aufsicht einer französischen Gouvernante in der freudlosen, einförmigen Ordnung ihres Lebens, ohne jede andere Verbindung mit der Außenwelt als einen regelmäßig jeden Tag zu derselben Zeit sich vollziehenden Spaziergang in dem nahe gelegenen Park und die Ankunft der Lehrer, die nach dem Schlag der Uhr aus- und eingingen. Sie kannten nichts von den Merkwürdigkeiten und Kunstschätzen Londons, waren weder in dem Britischen Museum noch in der Nationalgalerie gewesen, und hatten keine Ahnung von Musik, außer den Modestücken, die sie bei ihrem Musiklehrer heruntertrommelten. Aber – sie erhielten die erforderliche standes- oder vielmehr geldgemäße Erziehung! . . . Es wäre auch unmöglich gewesen, den kindlichen Sinn zuweilen auf den goldnen Flügeln der Phantasie in Wald und Flur mit Vögeln und Schmetterlingen umherschweifen zu lassen, oder ihm einen Einblick zu gewähren in das erhabene Gebiet der Kunst, so daß ihm eine Ahnung von anderen Reichen, als denen der Mode und des Geldes, aufgegangen wäre, denn – die Zeit drängte. Mit sechzehn oder siebzehn Jahren mußte die ganze Erziehung beendigt sein, damit die jungen Mädchen als »finished young ladies« hinausgeführt werden konnten in die Gesellschaft (»come-out«, wie der technische Ausdruck dafür lautet); und oh! zu diesem glücklichen Zeitpunkt sah die freudlos durchlebte Kindheit aus dem engen Studierzimmer mit gespanntem, sehnsuchtsvollem Verlangen hin. Die Gouvernante dieser Mädchen war ein borniertes Geschöpf, die außer ihren participes présents und passés, die sie, nach Noël et Chapsal, ihren Schülerinnen gewissenhaft einstudierte, nichts besaß als einen glühenden Fanatismus für die katholische Kirche und eine verbissene Verachtung für die jüdischen Herren ihres Schicksals, die, die auf ewig Unseligen, dennoch durch schnödes Geld die Macht in Händen hatten, sie zu der freudlosen Existenz zu zwingen, die sie in dem düstern Studierzimmer führte. Aber sie rächte sich an ihnen. Erstens ging sie jeden Morgen um sechs Uhr, ehe ihre Amtspflichten begannen, Sommer und Winter, trotz Schnee, Kälte und Regen, in die Messe, um als getreue Tochter der Kirche sich einen Ehrenplatz zu verdienen im Paradiese des allein seligmachenden Gottes, aus dem dessen unechter Rival Jehovah und seine Anhänger, trotz ihrer goldenen Macht auf Erden, in Ewigkeit ausgeschlossen sind. Dann aber arbeitete sie auch eifrig und mit großer Schlauheit daran, aus ihren Zöglingen Proselyten zu machen. Sie stickte fast den ganzen Tag, während sie den Stunden der Mädchen bei andern Lehrern beiwohnte, an Meßgewändern, Stolen und Altardecken für ihre Kirche, für ihren französischen Abbé usw.; sie war geradezu Künstlerin in diesen Arbeiten, und indem sie die einzige Leidenschaft ihres Wesens darauf richtete, schuf sie wirklich Bewundernswertes, auf dessen prachtvolle Ausstattung gewiß ein großer Teil des den Juden in der Schmach der Dienstbarkeit abgewonnenen Geldes hinging. Die Mädchen schauten aus ihrer nüchternen Existenz heraus auf diese Prachtwerke mit einer Art Begeisterung, und dabei schilderte ihnen die Gouvernante die Wunderwelt der katholischen Kirche mit so glühenden, verführerischen Farben, daß sie ganz verwirrt wurden, und daß sich besonders in der Ältesten, die am meisten Phantasie hatte, entschieden ein Verlangen regte, zu jenem Glauben überzutreten, der mit seinen kerzenerhellten, weihrauchdurchdufteten Tempeln, mit seinen liebenswürdigen Abbés und geschmückten Priestern, allzu verlockend abstach gegen das öde Studierzimmer und den alten Rabbiner, der sie Hebräisch lehrte. Ich durchschaute dieses ganze Treiben sehr wohl, da ich dreimal wöchentlich am Nachmittag für zwei Stunden hinging und mich auch hier wieder des allgemeinen Vertrauens erfreute, so daß die Kinder es sich wenigstens einmal die Woche als größte Gunst von der Mama erbaten, mich zum Abendbrot einladen zu dürfen, das gleich nach Beendigung unserer Stunde eingenommen wurde. Dies bestand gewöhnlich nur aus Tee, Brot und Butter. Wenn ich aber da war, so machten die Gouvernante und die ältesten Mädchen eine Verschwörung und schickten eine der Kleinen ab, um den diensttuenden Bedienten (der den Tee hinaufzubringen hatte, denn auch der wurde im Studierzimmer genommen) mit Bitten zu bestechen, damit er uns noch ein Stück Käse, oder etwas Brunnenkresse, oder eine derartige kostbare Zutat zur Verherrlichung des Tees gebe. Während wir nun bei diesem mehr als einfachen Abendmahl saßen, rauschte gewöhnlich die Mutter, eine noch jugendlich hübsche Frau, herein in glänzender Toilette, Blumen im Haar und Brillantschmuck auf dem bloßen Hals und den Armen, küßte ein jedes der Mädchen, indem sie dabei, ohne die Antwort abzuwarten, sagte: »How are you, dear?« richtete ein paar freundliche Worte an »Fräulein« – und »mademoiselle«, die mit der unterwürfigsten Miene von der Welt antwortete, hinter der ich, die ich sie besser kannte, aber den ganzen tiefen Haß der dienenden Katholikin gegen die herrschende Jüdin sah – und rauschte dann wieder hinaus, die Treppe hinab in den Wagen, neben dem der betreßte und gepuderte Bediente harrte, um der Dame, da die Hand der Geldaristokratin so wenig wie die der Geburtsaristokratin die gemeine Hand des Dieners berühren durfte, den schönen Stock vorzuhalten, auf den sie beim Einsteigen die mit dem Glacéhandschuh bedeckte Hand legte. Die Gouvernante und die Kinder aber begleiteten das Weggehen der Mutter mit einem vielsagenden Lächeln, und wenn ich sie fragte, ob sie nicht zuweilen die Abende mit der Mutter zubrächten, so erwiderten sie spottend, daß ich doch so etwas nicht denken möge; Mama könne keinen Abend zu Hause bleiben, außer wenn Diner und Gesellschaft im Hause sei. Das fürchteten die armen Wesen aber noch mehr als die Einsamkeit, denn dann mußten sie wenigstens eine Stunde lang unter der Hand des Friseurs und der Kammerjungfer bleiben, um endlich, steif aufgeputzt, unter Führung der Gouvernante, für zehn Minuten beim Nachtisch im Eßzimmer oder im drawingroom zu erscheinen und mit den gewöhnlichen Redensarten über Wachstum, Alter usw. behelligt zu werden. Dann zogen sie sich wieder in ihr Erziehungslaboratorium zurück, wo sie mit chemischen Lernexperimenten präpariert wurden, um aus natürlichen, einfachen, heiteren Wesen eben solche vergnügungssüchtige, zerstreute, äußerliche Geschöpfe zu werden, wie ihre Mutter und die meisten Frauen ihrer Welt es waren.

Doch genug dieser Beispiele aus der Privaterziehung, die, die schlechten bei weitem mehr noch als die guten, nicht etwa vereinzelt dastanden, sondern für ganze Gesellschaftsschichten als charakteristisch angesehen werden konnten. Nur eines Mitglieds dieser Erziehung will ich noch eingehender erwähnen: der Gouvernante nämlich, deren Stellung ich bei diesem häufigen Verkehr so recht gründlich kennen lernte, wobei ich einsah, wie recht ich gehabt hatte, vor diesem Beruf zurückzuschaudern.

Die Stellung der Gouvernante ist eine trostlose. Sie ist eine Art Polyp, ein Übergangsgeschöpf zwischen Tier und Pflanze, d. h. zwischen Herrschaft und Dienerschaft. Sie wird von oben herab schlecht behandelt, mit einer empörenden Herablassung, und sie wird ebensowohl von unten herauf schlecht behandelt, denn die Diener gehorchen ihr unwillig, und das Oberhaupt der Dienerschaft, eine furchtbar absolute Majestät in ihrem Gebiet, die »upper nurse« (oberste Kinderwärterin), die meist alt ist, oft schon zweien Generationen in der Familie gedient hat und in der »nursery« (der Kinderstube) allmächtig herrscht, tut alles, was in ihren Kräften steht, um die Gouvernante, die die Kinder aus ihren Händen empfängt, zu ärgern. Das unglückliche Wesen ist auf das Studierzimmer angewiesen, wo sie mit ihren Zöglingen ihr Leben verbringt. Meistenteils verlangt man von ihr alle möglichen Kenntnisse, d. h. allen möglichen Unterricht in den Dingen, die zur Erziehung gehören, nämlich: moderne Sprachen, Musik, Zeichnen, Geschichte (in der oben erwähnten Weise), Geographie, Handarbeiten usw. Wie sie diesen gibt, ist Nebensache. Wenn aber auch noch Lehrer für die verschiedenen Zweige des Unterrichts genommen werden, so darf sie doch mit keinem Schritt aus dem Studierzimmer weichen, da es gegen den Anstand wäre, die jungen Mädchen mit Lehrern allein zu lassen. Ein regelmäßiger Spaziergang unterbricht die Einförmigkeit des Tages. Um ein Uhr ist das Mittagessen der Kinder und das ihre, dem die Mutter meist beiwohnt, für die es das zweite Frühstück ist. Dann hat sie weiter nichts mehr von Nahrung zu erwarten, als den Tee mit Brot und Butter um sechs Uhr. In die Zimmer der Herrschaft kommt die Gouvernante nie, außer zehn Minuten abends, nach dem Mittagessen, wo sie den Eltern die Kinder vorzuführen hat, oder auf ausdrückliche Einladung, wenn sie aufgefordert wird, den Abend im »drawingroom« zu verbringen, wozu sie dann Toilette machen, d. h. in ausgeschnittenem seidenen Kleid erscheinen muß. Kann sie Klavier spielen und singen, so wird sie als willkommenes Werkzeug benutzt, die Langeweile des Abends zu verscheuchen, und steigt besonders auf dem Lande, wo weniger Zerstreuung ist, im Preise. Der späte Abend auf ihrem einsamen, oft sehr unschönen, im Winter meist kalten Zimmer ist die einzige freie Zeit, die ihr bleibt; aber dann ist sie gewöhnlich zu abgestumpft von dem ermüdenden Tag, um noch viel für sich tun zu können. Auch der Sonntag gehört ihr nicht, denn sie muß mit ihren Zöglingen ein- oder zweimal in die Kirche und muß überhaupt die Sonntagsprozedur der frommen Langeweile mitmachen. Nur wenn zufällig die Kinder einmal für einige Stunden mit den Eltern sind, hat sie Zeit, etwas für sich zu tun oder, wenn sie Freunde hat, diese zu besuchen.

Es versteht sich von selbst, daß auch hier wie überall ehrenvolle Ausnahmen stattfinden; daß es Eltern gibt, die die Leute, denen sie sozusagen das ganze geistige und leibliche Wohl ihrer Kinder anvertrauen, als nahestehende Freunde und Ratgeber betrachten und daher suchen, ihnen eine edlere Stellung einzuräumen. Im eignen Hause gelingt dies natürlich; aber was die gesellschaftliche Stellung anbelangt, so mißlingt es immer auch bei dem besten Willen. Ich kannte ein Beispiel, wo eine hochstehende, über Vorurteile erhabene, edeldenkende Dame sich eifrig bemühte, der Erzieherin ihrer Kinder, die durch Bildung und vortreffliche Eigenschaften die Ebenbürtige der besten Gesellschaft war, eine angemessene Stellung in ihren Kreisen zu verschaffen. Unmöglich! Die Leute zuckten die Achseln und sagten: »Madame N . . . will, daß wir eine Freundin aus der Person machen – das geht nun einmal nicht, sie ist und bleibt doch nur eine Gouvernante.«

Eine andere sehr ausgezeichnete Person, eine Engländerin obenein, die Gouvernante gewesen war, erzählte mir, wie sie persönlich in einem höchst glücklichen Verhältnis zu der Familie ihrer Zöglinge gestanden habe, und daß es dieser auch gelungen sei, ihr den Weg in ihre Gesellschaft zu erzwingen; man habe sie mitgebeten in Häuser, wo die eignen Gouvernanten nicht erschienen; aber sie habe sich nie wohl dabei gefühlt, sondern immer die unangenehme Empfindung gehabt, daß es nur um der Familie willen, bei der sie war, geschähe.

Zwischen den verschiedenartigen Erscheinungen dieser Welt verfloß nun mein Leben. Ich war befriedigt, wie der Taglöhner befriedigt ist, wenn er die Lastarbeit des Tages vollbracht hat, die ihm Brot gewährt. Aber in meinem Innern war tiefe Grabesstille; kein Wunsch, kein Hoffen, keine Begeisterung mehr. Ich nahm die Tage, wie sie kamen, ohne mehr von ihnen zu verlangen, als sie geben konnten. Nach Deutschland sehnte ich mich nicht zurück; zu viele Gräber des persönlichen wie des öffentlichen Lebens starrten mir dort entgegen. Was konnte mich nach einem Lande zurückziehen, von dem mir eine geistreiche Freundin schrieb:

»Der Zeitgeist? – was ist denn jetzt der Zeitgeist? Ich begreife gar nicht, wie manche Radikale ihre Partei für so reich halten können. Der Zeitgeist im Katholizismus sind die Jesuiten, im Protestantismus ist es die innere Mission, bei den Freidenkern der Glaube an den tierischen Magnetismus. Die haben alle weit mehr Anhänger als wir; die machen den Zeitgeist, und wenn man andern glaubt und auf sie hofft, so täuscht man sich.«

In England fühlte ich mich wenigstens inmitten der Strömungen eines großen, politisch freien Lebens, und wußte, daß kein Polizeidirektor Macht hatte, mich über meine persönlichen Anschauungen zu verhören, wenn ich nichts tat, was gegen die Gesetze der öffentlichen Sicherheit und des Eigentums verstieß. Die unbedingt persönliche Freiheit, die sogar den Verbrecher innerhalb seiner eignen vier Wände schützt, flößte mir eine große Achtung ein. Ein solcher Zustand der Dinge gibt dem Leben einen Hintergrund von Ruhe, der notwendig ist zur Entwicklung einer menschlich würdig organisierten Gesellschaft. Freilich erfuhr ich, was ich schon an mehreren Beispielen gezeigt habe, mit Trauer, wie im ewigen Spiel der Gegensätze der Mensch sich selbst beschränkt, nicht im Sinne des reinen Maßes, das die Ausgleichung der Gegensätze auf der edelsten und letzten Stufe der Entwicklung ist, sondern im Sinne der willkürlichen, verdummenden Schranke. Gegenüber der großen politischen Freiheit stand eben überall die soziale Beschränkung und die konventionelle Torheit. Tausendfache Gelegenheit hatte ich, zu bemerken, wie z. B. das religiöse Leben nicht ein tiefer, das Leben heiligender Glaube, sondern einfach eine jener Formeln war, die zum Begriff »respectable« sowohl in der Gesellschaft wie im Familienleben gehören. Nichts beweist dies besser, als die wahrhaft empörende Art der Heilighaltung des Sonntags, die gerade eine Nichtheilighaltung ist, indem man der gröbsten Langeweile, der nüchternsten Stimmung Tür und Tore öffnet. Ich befand mich am Sonntag in englischen Häusern, wo die Herren sich aus einem Lehnstuhl in den andern warfen und mit entsetzlichem Gähnen den öden Zustand ihres Innern kundgaben; wo die Kinder in trostloser Freudlosigkeit umherschlichen, weil sie weder spielen noch irgendein Unterhaltungsbuch, nicht einmal Grimms Märchen lesen durften; wo der ganze geistige Genuß des Hauses in sogenannter »sacred music« bestand, die eine junge »Miß« auf dem Klavier ableierte, oder noch schlimmer, absang. Ein junges Mädchen sprach sich einmal gegen mich in harten Worten über die Deutschen aus, die am Sonntag Theater und Konzerte besuchten. Ich fragte, ob sie, wenn sie ihr Gewissen streng untersuchte, in Wahrheit sagen könnte, daß sie in der Stille ihres Sonntags heiligere Gefühle, erhebendere Gedanken finde, kurz, daß sie sich als ein besserer Mensch fühle, wie bei Anhörung einer Beethovenschen Symphonie oder eines Shakespeareschen Dramas oder sonst einer edlen Kunstschöpfung. Sie gestand verlegen ein, daß sie dies nicht sagen könne, fügte aber doch den logischen Schluß hinzu: daß es demungeachtet von den Deutschen sehr schlecht sei, die Sonntagsfeier so wenig zu beachten. Eine andere Dame, eine gebildete und freisinnige Person, forderte mich einmal auf, mit ihr nach »Temple-Church« zu gehen, einer der ältesten und schönsten Kirchen Londons in der City, zu dem großen Häuserkomplex von Templebar gehörig, wo die englische Justiz ihren Sitz hat. Die Musik von Temple-Church ist berühmt, und ich hatte den Wunsch geäußert, sie zu hören. Ich ging also mit meiner Hausgenossin und jener Dame hin und saß zwischen den beiden. Während der Predigt hatte ich alle Mühe, mich des Schlafs zu erwehren, kämpfte aber doch, um der Schicklichkeit willen, mit Anstrengung dagegen an. Wie erstaunt war ich aber, als ich einen Seitenblick auf meine Nachbarin rechts warf und sah, daß sie fest schlief, dann links blickte und dort dasselbe wahrnahm. Ich schaute nach den anderen Menschen und sah mehr als eine Person in das Nirwana der Andacht entrückt. Als wir die Kirche verließen, fragte ich die Engländerin, die sehr humoristisch war, ob sie gut geschlafen habe. »Ja,« sagte sie lachend, »es hat mir so gut getan.« – »Warum gehn Sie denn aber hin?« sagte ich. – »Ach, meine Liebe, was wollen Sie? Es muß nun mal so sein am Sonntag.« –

Noch schlimmer aber als für die gebildeten Klassen ist diese stumpfe Sonntagsbeschränkung für das Volk. Es fing eben damals der große Streit an, ob man dem Volke den Zutritt zu den Museen, dem Kristallpalast und ähnlichen Anstalten am Sonntag gestatten solle. Die Frage wurde im Parlament verhandelt und abschlägig entschieden. Man fürchtete, die Kirchen würden dann leer bleiben, und die Moralität würde leiden, wenn das Volk anfangen würde, heidnische Götterbilder, Kunstwerke und Naturmerkwürdigkeiten dem Besuch der Kirchen vorzuziehen. Wenigstens konnte man nur so allein sich diese Entscheidung erklären. Die Kirchen und die Wirtshäuser blieben die einzigen öffentlichen Lokale, die am Sonntag offen waren. Die Kirche war gut für ein paar Morgenstunden, aber den Nachmittag und Abend? Da blieb eben nur das Bierhaus als Zuflucht für den von der Last der groben Arbeit zusammengedrückten Arbeiter und Proletarier, dem keine Bildung und Gewohnheit geistiger Beschäftigungen die Mußestunden des Sonntags verschönen konnte und keine anlockende, freundliche Häuslichkeit die Ruhe am eigenen Herd zur besten Erholung nach den anstrengenden Wochentagen machte. Auch war es dann so: daß die Bierhäuser übervoll waren, und daß der heilig gehaltene Sonntag nur zu viel durch den unheiligen Anblick von betrunkenen Männern und, was noch schrecklicher war, Frauen, entweiht wurde; aber nicht nur das, sondern beim mächtigen Locken der Versuchung, der man sie gewaltsam in die Arme trieb, ging der mühsam erworbene Wochenlohn der Arbeiter darauf, und die Kinder daheim blieben ohne Brot und die Stunden der Not in der Zukunft ohne den Sparpfennig, der sie hätte erleichtern können. Die rohe, tierische Natur der Halbmenschen aber wurde immer roher, immer tierischer durch die entwürdigende Leidenschaft des Trunkes, die in ihrem Gefolge nur zu häufig den Mord und zwar in schaudererregender, brutaler Weise hatte.

Wir verabredeten einmal im Kreise der Frau von Brüning, einen Gang durch die Straßen zu machen, wo am Sonnabend abend die Proletarier ihre Einkäufe für den Sonntag zu machen pflegen. Es war dies wirklich kein kleines Unternehmen, und nur in Gesellschaft von mehreren, mit guten Stöcken bewaffneten Herren und mit Zurücklassung von Uhren, Ketten, Börsen und sonst leicht entwendbaren Dingen zu bewerkstelligen. So zogen wir eines Sonnabend abends aus, jede Dame am Arme eines Herrn und noch einige Herren als Schutzmannschaft hinterher. Man brauchte nicht gar weit zu suchen: oft an der Rückseite von Palästen, die eine große schöne Straße zieren, fand man eine enge Gasse, in der zerlumpte Frauen und halbnackte Kinder im Schmutz vor den elenden Wohnungen saßen und mit widrigen Manieren, ja oft mit unsaubern Worten und Gebärden, den wohlhabenden Eindringling bestürmten und ihn um ein Almosen förmlich anschrieen, immer bereit, es sich mit geschickter Hand selbst aus dessen Taschen zu erobern, im Fall seine Bereitwilligkeit nicht groß genug gefunden würde. Wir sahen die Nachtszenen, wie nur Dante sie in seinem Inferno geschildert hat. Aus den düstern Nebeln der eben erwähnten Gassen, in denen die elenden Gestalten wie bleiche Schatten verstorbener Sünder aus dem Boden stiegen, traten wir in andere, von Gasflammen, die frei im Winde flatterten, mit einem unheimlichen, höllischen Licht erleuchtet, in deren Glanz das rote, blutige, in den Fleischerläden aufgehängte Fleisch widrig barbarisch sich hervorhob, während Käse, halbfaule oder getrocknete Seefische und ähnliches die Luft mit entsetzlichen Dünsten füllten. Hier wogte und drängte, mit Geschrei, mit lautem keifenden Handeln und Feilbieten, eine furchtbare Menge, die wie den Schlünden unterirdischer Werkstätten von Kobolden entstiegen aussah: entmenschte Wesen, entweder durch das Elend oder durch das Laster bis zur Fratze des Ebenbildes Gottes entstellt. Vom Schein der Gasflamme grauenhaft beleuchtet, kauften sie das traurige Prachtmahl des Sonntags ein, auf das wohl schon die ganze Woche hindurch die hungrigen Kinder sich gefreut hatten. Mit welchem Haß, mit welcher Verachtung, oder mit welch höhnischer Gleichgültigkeit starrten sie uns an – uns, die ihrer Welt Fremden, die nichts gemein hatten mit ihren Freuden und Leiden, die die Neugierde herführte, um die martervollste Wirklichkeit sich wie ein Schauspiel anzusehen! Wie tief fühlte ich das ganze Verdammungsurteil, das aus diesen rotberänderten, unheimlich glühenden oder halb erloschenen, tief eingesunkenen, in düsterer Hoffnungslosigkeit starrenden Augen uns entgegen blickte! Ja, ich vergab ihnen die Schimpf- und Schandwörter, die sie uns hier und da zuriefen, denn was hieß es anders als: »Ihr seid es, die ihr uns verdammt habt in die Hölle, ihr, die uns zu Dämonen macht, ihr, die uns ausschließt vom Licht des Tages, vom freudigen Strahl des Sonnenlichts, des beglückenden: die uns hinbannt in die verpestete Luft unsauberer Grüfte, während ihr, Olympier, auf heiteren Höhen ein unbewölktes Dasein führt. Was kommt ihr hierher, uns zu stören? Hebt euch hinweg von den scheußlichen Orgien der Armut und des Elends, laßt uns den dumpfen Rausch unseres gin und brandy, der uns wenigstens für Augenblicke Vergessen bringt, wenn er auch oft zum Morde führt. Was kümmert's uns, am Galgen zu enden? Es ist noch besser, als in langsamer Qual des Hungers mit Frau und Kindern zu sterben. Hinweg! weil ihr nicht gekommen seid, uns zu erlösen, weil ihr nicht mit freigebiger Hand die Nacht, die uns umgibt, zerstreuen und uns zu einer menschenwürdigeren Existenz führen wollt! Rührt nicht an die Verzweiflung, die sich selbst betäubt – sie könnte sich einmal gewaltig gegen euch erheben und dann wehe euch!« Alles das und noch mehr sprach mir aus diesen entsetzlichen Nachtszenen, und ich kam heim mit einem Weh im Herzen, das mich lange keine Ruhe wieder finden ließ.

Eine Abendunterhaltung erfreulicher Art unterbrach die Einförmigkeit meines Lebens. Es war dies eine Reihe von Vorlesungen über Kunstgeschichte, die Kinkel im Saale der Londoner Universität hielt. Schon damals fing Kinkel an, außer den Stunden, die er gab, auch zuweilen Abendvorlesungen zu halten, was seine Stellung bald zu einer andern als der eines gewöhnlichen Lehrers machte, da wohl in keinem Lande das sogenannte »lecturing« so in der Mode ist wie in England, wo es sogar zu einer Spezialität geworden ist, die die einzige Beschäftigung mancher Leute bildet, die dann dieselbe Reihe von Vorlesungen, oder eben auch nur eine einzige, sei es über Politik, über wissenschaftliche oder über literarische Gegenstände, an mehreren Orten hintereinander halten, wozu ihnen die Leichtigkeit des Verkehrs vermittelst der Eisenbahnen in England allen Vorschub leistet. Die Vorlesungen Kinkels hatten in dem Amphitheater der Universität eine zahlreiche und gewählte Gesellschaft versammelt. Nach der letzten Vorlesung erging sich das Publikum in den anstoßenden Sälen, die freigebig geöffnet waren, um die daselbst aufgestellte große, prächtige Flarmansche Kunstsammlung zu betrachten und durch die Anschauung an das eben Gehörte anzuknüpfen. Ich stand mit Kinkel, seiner Frau und anderen Bekannten zusammen im Gespräch, als Herzen, der den Vorlesungen mit Haug und seinem Sohne beigewohnt hatte, herzutrat, eine englische Dame, die er am Arm führte, verließ und sich, geläufig deutsch redend, in unser Gespräch mischte. Ich hatte ihn seit jenem Abend bei Kinkels nicht wieder gesprochen und freute mich, daß er sich zu mir wie zu einer alten Bekannten wendete und mir einige geistvolle Bemerkungen über das Gehörte und Gesehene mitteilte, die verrieten, wie sein feuriger Geist auch auf anderen Gebieten als dem der Politik scharf beobachtete, warm empfand und treffend urteilte. Ich wußte sonst zu der Zeit von ihm nichts anderes, als daß er in einem kleinen Hause, nahe bei Primrose Hill, in einer der grünen, freieren Gegenden der Londoner Wüste, dicht am Regents Park, wohnte und sich mit literarischen Arbeiten beschäftigte. In dem Flüchtlingskreise der Frau von Brüning war er nur einmal gewesen und dann nie wiedergekommen. Sie war keine Natur, die ihn anziehen konnte. Ihr Champagnerschaum von Enthusiasmus, der immer mehr den Persönlichkeiten als den Ideen und Dingen galt, mußte seinem durchdringenden Blick fade erscheinen, und dann fand er wahrscheinlich bald genug heraus, daß sie, trotz des demokratischen Fanatismus, zu dem sie sich bekannte, doch im Grunde vollkommen die russische Aristokratin geblieben war, nicht sehr weit entfernt von dem, was mir in früheren Tagen eine hochgeborene Russin als Inhalt des russischen Frauenlebens angegeben hatte: »Nous sommes élevées pour plaire.«

In den Kreisen, in denen Herzen verkehrte, in den englischen Häusern nämlich, die sich besonders der flüchtigen italienischen Demokratie erschlossen hatten, war ich zu der Zeit nicht bekannt; dagegen eröffnete sich mir ein anderer Kreis der Emigration, der sich mir durch eine wieder angeknüpfte Bekanntschaft, die ich auf die seltsamste Art gemacht hatte, erschloß. Der Leser erinnert sich vielleicht der Begegnung, die ich im Eisenbahnwagen auf der Fahrt nach Ostende mit einer jungen Frau hatte, die, auf der Reise nach England begriffen, mir den lebhaften Anteil verriet, den sie an den Geschicken Ungarns nahm, das eben damals dem Nachbardienst, den Rußland Österreich leistete, erlegen war. Ich suchte sie schon einige Zeit nach meiner Ankunft in England auf und fand sie mit ihrem Gatten, Franz Pulszky, als den eigentlichen Mittelpunkt der ungarischen Emigration, die zu der Zeit sehr zahlreich in England vertreten war. Ihre drei kleinen Söhne, die sie in Ungarn hatte zurücklassen müssen, waren ihr durch einen treu ergebenen Freund allen Gefahren zum Trotz nachgebracht worden. Sie hatte nun bereits mit dem großen organisatorischen Talent, das sie besaß, eine, wenn auch für sie, die in ästhetischem Luxus Aufgewachsene und Verwöhnte, höchst bescheidene, aber wohnliche Häuslichkeit gegründet, die zugleich eine Heimat für die Heimatlosen, daheim dem Kerker und Galgen Entflohenen geworden war.

Sie nahm mich mit der liebenswürdigsten Freundlichkeit auf, erinnerte sich sehr wohl unserer eigentümlichen ersten Bekanntschaft und lud mich ein, oft zu kommen. Die Sympathie, die mir ihr tief durchbildetes, zartes und doch so energisches Wesen einflößte, schien bei ihr ein Echo zu finden, und es vereinte uns fast vom ersten Augenblick an eine gegenseitige Neigung, die sich zu einer festen, durch alles Schwanken der Verhältnisse hindurch unverändert gebliebenen Freundschaft ausbildete.

Therese Pulszky war neben Johanna Kinkel die bedeutendste Frau der Emigration. Aber beider Jugend hatte sich in so verschiedenen Verhältnissen bewegt, daß dadurch die Verschiedenheit der Naturen zum völligsten Kontrast, den man sehen kann, geworden war. Nur in einem glichen sie sich: in der Energie, mit der sie den Schlägen des Schicksals trotzten, und in der unermüdlichen Tatkraft, durch die sie sich über die Ungunst der Verhältnisse erhoben und diesen den Stempel ihres Wesens aufdrückten. Während aber in Johanna frühe Not und dunkler Kampf eine Festigkeit entwickelt hatten, die zuweilen an Härte streifte, während ihr angeborner köstlicher Humor, durch das Leben gereizt, oft den Charakter beißender Ironie annahm und die Häufung bitterer Täuschungen einen Hang zum Argwohn in ihr genährt hatte, war in Therese Pulszkys liebenswürdiger Natur durch eine ungetrübte, auf das anmutigste verlebte Jugend, eine solche Harmonie von Ernst und Heiterkeit, von Festigkeit und Milde, von ungewöhnlicher intellektueller und künstlerischer Bildung entstanden, daß man die feine zierliche Erscheinung wohl zu den seltensten ihres Geschlechts rechnen konnte. Sie war die einzige Tochter eines reichen Wiener Bankiers, hatte unter der Leitung ihrer geistreichen Mutter eine äußerst sorgfältige Erziehung erhalten und ihre Jugend in den höchsten ästhetischen Genüssen, wie nur Bildung und Reichtum zusammen sie gewähren können, verlebt. Nach Neigung vermählt, hatte sie ihrem neuen Vaterland, Ungarn, ein warmes Herz entgegengetragen, und als die politischen Stürme über dieses hereinbrausten, hatte sie sich mutig auf die Seite der Patrioten gestellt, bis sie, beim Falle Ungarns, ihrem Gemahl nach England folgte. Die österreichische Regierung konfiszierte nicht nur das Vermögen Pulszkys, sondern auch das seiner Gattin, wozu sie auch nicht einmal den Schein des Rechts hatte, und die an Luxus und Überfluß Gewöhnten fanden sich nun im Exil – mit sehr beschränkten Mitteln, mit einer jungen Familie und mit unendlichen Ansprüchen, die von allen Seiten an sie gemacht wurden. Mutig und energisch ordnete Therese sofort ihr Leben, gab sich literarischen Arbeiten hin, übernahm fast allein den Unterricht ihrer Kinder, kultivierte, namentlich im Interesse ihres Vaterlands, die höhere englische Gesellschaft, beteiligte sich fortwährend an der politischen Agitation, die in den ersten Jahren noch eifrig betrieben wurde, war die Raterin und Helferin der emigrierten Ungarn, und versammelte bei alledem häufig im eigenen Hause einen durch vielfache Interessen belebten Kreis. Dort sah ich zum ersten Male Kossuth, den bei seiner Ankunft in England so hoch Gefeierten. Er nahm im Kreise der ungarischen Emigration damals noch fast die Stelle eines Herrschers ein, und man umgab ihn mit einer Art von Hofzeremoniell. Das erstemal, als ich einer Einladung zu einer Abendgesellschaft bei Pulszkys folgte, fand ich einen zahlreichen Kreis, der zum größten Teil aus Ungarn bestand. Plötzlich, nachdem alles versammelt war, erscholl der Ruf: »The governor«, worauf sich die Gesellschaft alsbald auseinanderteilte und zu beiden Seiten des Zimmers aufstellte. Nun öffnete sich die Türe, und herein schritt Kossuth mit einer gewissen Feierlichkeit, neben ihm seine Gattin, hinter ihm seine kleinen Söhne und ein paar Herren gleich diensttuenden Adjutanten. Er trug den ungarischen Schnürenrock und sein bedeutendes Gesicht, von dem schon etwas ergrauenden Vollbart umrahmt, hatte den Ausdruck des Ernstes und der Würde. Er grüßte nach beiden Seiten mit Herablassung und ließ sich dann mit den Bevorzugten in ein Gespräch ein. Mir erweckte er zunächst kein anderes Interesse, als das, das sich an seine so rasch begonnene und beendete Laufbahn knüpfte. Seine Persönlichkeit erregte mir keinen Wunsch, ihn näher kennen zu lernen. Ebenso wenig fühlte ich mich von seiner Frau angezogen, der ich vorgestellt wurde und deren unruhiges, leidenschaftliches Wesen, beherrscht von einer hervortretenden Eitelkeit auf die Stellung des Mannes und die Zukunft der Söhne, ihr ohnehin wenig anmutiges Äußere noch unsympathischer machte. Ein Mitglied dieser Familie sollte ich später freilich kennen lernen, das mir unaussprechlich sympathisch wurde: die Tochter Kossuths nämlich, die aber damals noch zu klein war, um in Betracht zu kommen. Ich sah sie dann, als sie eben in erster Jugendblüte einer weißen Rose glich, deren zarter, wie aus Duft gewobener Blätterkelch nicht für die Dauer gemacht scheint. Leider war es so mit ihr. Reich mit Talenten begabt, studierte sie bei schnellem Wachstum so eifrig, daß sie vielleicht dadurch beitrug, den Keim des frühen Todes zu entwickeln. Sie schwand dahin, kaum an der Schwelle des jungfräulichen Lebens angelangt, wie ein holder Morgentraum und ließ einen leisen, wehmütig zitternden Ton, wie von Äolsharfen, in der Erinnerung zurück.

Übrigens fand ich bei den ungarischen Emigrierten einen mir neuen, sehr eigentümlich nationalen Charakter, der entschieden abstach gegen den deutschen. Ihr Patriotismus hatte eine weniger reflektive, aber viel unmittelbarere Intensität; es genügte, eine solche Versammlung beisammen zu haben, wie ich sie an jenem Abend bei Pulszkys fand, um eine feurige demonstrative Stimmung hervorzurufen, die immer wie zur unmittelbaren Aktion bereit erschien. An dem erwähnten Abend war ein talentvoller Künstler da, ein Violinspieler, der auf allgemeines Bitten sein Instrument ergriff und ungarische Weisen vortrug, die die ganze Gesellschaft wie mit einem leidenschaftlichen Weh nach der fernen Heimat und der wilden Freiheit der Pußta ergriff, bis er, selbst bis zur äußersten Exaltation erregt, endlich in den Rakoczy-Marsch überging, worauf alle, von einem überwältigenden Rausch fortgerissen, mitsangen, mit den Füßen stampften, Eljen riefen und sicher bereit gewesen wären, hätte der Erbfeind ihnen gegenübergestanden, sich in todesmutiger Freude ihm entgegenzuwerfen, um zu siegen oder zu sterben. Diesem naturwüchsig ritterlichen Wesen entsprach auch die romantische, knappenhafte Treue, mit der einzelne sich den Größen ihres Vaterlandes in persönlicher Ergebenheit und zu persönlichem Dienst angeschlossen hatten. Ein solcher Treuer hatte sich der Pulszkyschen Familie zugesellt, der er die Kinder aus dem von den Siegern scharf bewachten Lande zugeführt hatte, und bei der er nun wie ein guter Hausgeist helfend, lehrend, schützend verblieb, die Heimat und ihre Vorzüge aufgebend, die ihm, dem nicht schwer Kompromittierten, sonst offen gestanden hätte. In gleicher Weise war Kossuth von einem ritterlichen Schutzmann begleitet, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, über dieses damals Ungarn so teure Leben zu wachen und es vor den etwaigen Gefahren, die auch übers Meer hinaus weitgreifende Hände ihm bereiten konnten, zu schützen. Aber nicht nur das, auch die zartesten Aufmerksamkeiten, die das tägliche Leben verschönern und den herben Kelch des Exils für die zu so plötzlicher Höhe gestiegene und so jäh gestürzte Familie mildern konnten, hatte sich dieser Kurwenal zur Aufgabe gestellt, und es war rührend, mit welcher Zartheit er, der Begütertere, die Lücken ausfüllte, die in dem beschränkten Haushalt der gar nicht vermögenden Kossuthschen Familie entstanden.

Neben diesen schönen ritterlichen Eigenschaften sah dann aber mitunter ein recht rohes Element hindurch, und ein großer Mangel an wirklicher Bildung. Gerade auch in dieser letzteren Beziehung, wie in allen anderen, ragte Franz Pulszky bedeutend unter seinen Landsleuten hervor. Er war nicht nur ein gebildeter Mann, er war ein Gelehrter, und die edle Mäßigung, die wahre Bildung gibt, sowie die Zuverlässigkeit seines Charakters machten es begreiflich, daß ihn eine Therese verehrend liebte.

Ich besuchte diese Kreise damals jedoch nicht oft, da meine Zeit zu beschränkt und ich abends meist zu müde war, um mich noch auf Abendgesellschaften einzulassen. Dazu kam, daß eine plötzlich ausbrechende Herzkrankheit der Frau von Brüning, die sie an das Krankenlager fesselte, meinem Umgang dort eine neue Wendung gab und mich öfter hinführte als früher. Diese Frau, die mich in der Zeit ihres Glanzes durch Frivolität und Eitelkeit oft abgestoßen hatte, wurde mir im Leiden lieb. Die Geduld, ja die Heiterkeit, mit der sie es ertrug, die stoische lächelnde Ruhe, mit der sie den Tod, den sie als unabwendbar fühlte, nahen sah, rührten mich sehr. Sie sprach oft, wenn der kleine Kreis der treuern Freunde um ihr Bett saß, von ihrem Ende, und man konnte sagen, daß sie, die jedem Glauben an persönliche Fortdauer entsagt hatte, graziös der Vernichtung entgegen ging. Mehr als eine Nacht verbrachte ich wachend bei ihr, meist mit Löwe, der ihr Arzt war und den ich bei dieser Gelegenheit von der humanen Seite seines Wesens kennen lernte, während ich ihn bisher nur als geistvollen Menschen gekannt hatte. Während der Nacht mit der gemeinsamen Pflege der Kranken beschäftigt, zuweilen jedoch auch mit ihr, die wenig schlief und immer voll bewußt, ja geistig erregt war, in bedeutende Gespräche vertieft, gingen wir nachher gewöhnlich im ersten Morgengrauen zusammen durch den Regents Park heim, und manches ernste Wort entsprang da natürlich dem tiefen Ernst der bei einer Sterbenden verlebten Stunden. Löwe teilte mein Gefühl, daß jetzt, da der nahende Tod die Fesseln der Eitelkeit und Tändelei von dieser Seele löste, ihre ursprüngliche Lieblichkeit reiner zurückkehre und man sich wohler in ihrer Nähe fühle. Wir sprachen über die Kunst des Lebens überhaupt und wie wenige, selbst unter den Guten, es verstehen, das Leben vor Zersplitterung, vor Aufgehen in dem »Verfänglichen des irdischen Geschwätzes« zu hüten und die flüchtige Zeit zu retten für das, was »allein not tut« im höchsten ethischen Sinn. Löwe erzählte mir, daß das schönste Kompliment, das man ihm je im Leben gemacht habe, das gewesen sei, ihm zu sagen, er sei ein Lebenskünstler, und wir kamen überein, daß die höchste Aufgabe der Erziehung sein sollte, diese Kunst des Lebens auszubilden, damit das ganze Dasein nur ein fortwährendes Enthüllen und Ausarbeiten einer erhabenen Idee in uns würde, mit der wir uns selbst zum höchsten Kunstwerk umgestalten und das Leben von den Fesseln des »Nichts in ewiger Bewegung« erlösen könnten.

Nach solchen durchwachten Nächten war es mir jedoch nicht vergönnt zu ruhen, sondern wenn ich zu Hause gefrühstückt hatte, ging es fort an die Arbeit des Tages, an die ermüdenden Stunden, und dazu war es Winter, und es dauerte nicht etwa Tage, sondern Wochen und Monate. Die ängstliche Spannung schloß den kleinen Kreis in jenem Hause enger aneinander, als je die Freude es vermochte, und mit wahrer Teilnahme scharten wir uns alle um Herrn von Brüning, der in den schweren Stunden alles vergaß, was ihn früher wohl von der Gattin getrennt hatte, und sich mit rührender Aufopferung um sie bemühte. Endlich gegen Ende Januar schien sie selbst zu fühlen, daß das Ende nahe. In einer Nacht, wo ich wieder mit Löwe bei ihr wachte, sprach sie ruhig und klar über das Bevorstehende und beauftragte mich, nach ihrem Tode einem Freunde, den sie sehr geliebt und den ein Mißverständnis von ihr getrennt hatte, zu sagen, daß sie unschuldig gewesen sei an allem, was zwischen sie getreten, daß sie ihm die reinste Freundschaft bewahrt habe und daß sie dies im Angesicht des Todes mit gutem Gewissen sagen könne. Am folgenden Tage hatte ich erst gegen Abend Zeit, einen Augenblick hinzugehen und nach ihr zu sehen. Sie war sehr schwach, aber sie drückte mir warm die Hand, sah mich mit sanftem Lächeln an und sagte: »Wie soll ich Ihnen danken für alles, was Sie mir Gutes getan haben?« Wir küßten uns innig, zum erstenmal seit wir uns kannten, und so schied ich von ihr. Am andern Morgen früh kam die Nachricht, daß sie in der Nacht gestorben sei. Drei Tage darauf war ihr Begräbnis auf dem schönen Kirchhof von Highgate, der nach ihr noch so manches Opfer des Exils empfangen sollte. Zahlreich war die Versammlung derer, die den trauernden Gatten und die verwaisten Kinder am Grabe umgaben. Löwe sprach tief ergriffen wenige herrliche Worte, und ein deutscher Arbeiter-Gesangverein sang ihr, die ja auch deutscher Abkunft und ihren Sympathien nach deutsch war, Abschiedsgrüße in die Gruft nach. Am Ausgang des Kirchhofs traf ich mit Herzen zusammen, der ebenfalls zu der Beerdigung gekommen war. Er war sehr bewegt und sagte mir, indem er mir die Hand reichte: »So stand ich auch mit meinen Waisen vor noch nicht einem Jahre an einer Gruft.«

Bald nach dem Tode der Frau von Brüning löste sich der ganze Kreis, der in ihrem Haus versammelt gewesen war, auf. Die Familie verließ England. Reichenbachs, Löwe und andere gingen nach Amerika. Sie redeten mir alle zu, mitzukommen, und einen Augenblick lang schwankte ich wieder sehr, aber die Scheu vor dem ewig von vorn Anfangen der Existenz und die Angst, meiner Mutter, die sich kaum beruhigt hatte, einen neuen Schlag zu versetzen, hielten mich zurück. Doch sah ich sie mit Wehmut scheiden, besonders Reichenbachs, die ich wahrhaft liebte und um deren Schicksal ich mir auch Sorgen machte.

Nach ihrer Abreise fühlte ich mich sehr allein. Kinkels sah ich nicht oft. Sie hatten ein größeres, schöneres Haus, das etwas zentraler lag, genommen, da ihre Verhältnisse anfingen, sich zu bessern, und die allgemeine Anerkennung, die sich beide als Lehrer erwarben, ihnen nicht nur Schüler in Menge zuführte, sondern ihnen auch erlaubte, die üblichen höheren Preise für ihre Stunden zu fordern. Aber in der ungeheuren Anstrengung eines so arbeitsvollen Lebens blieb ihnen nur wenig Zeit zur Geselligkeit, und nur selten einmal kam es dazu, daß wir einen Abend zusammen verbrachten, der freilich dann immer doppelt genußreich und heiter war.

Es war Frühjahr geworden, als ich eines Tages einen Brief von Herzen bekam, der mir sagte, daß er seine beiden kleinen Töchter, die nach dem Tode der Mutter einstweilen bei einer befreundeten Familie in Paris geblieben waren, durchaus am Jahrestage des Todes seiner Frau bei sich haben wolle, und daß er meinen Rat darüber wünsche, wie er ihr Leben einrichten solle. Einer englischen Pension wolle er sie nicht übergeben, da es ihm vor der Heuchelei des englischen Lebens graue; zu mir habe er Vertrauen, und wenn ich mich selbst entschließen könne, der Ältesten Stunden zu geben, so würde er sehr damit zufrieden sein. Ich erwiderte ihm, daß ich noch einige Stunden für seine Kleine frei habe, daß ich sie ihr gern geben würde und daß man dann das Weitere überlegen könne. Ich sprach ihm bei der Gelegenheit meine volle Sympathie für sein persönliches Schicksal aus, das eine Reihe von entsetzlichen Unglücksfällen über ihn verhängt hatte, die mit dem größten, dem Tode seiner Frau, endeten, und sagte ihm, wie gern ich dazu beitragen würde, in etwas wenigstens die Herbigkeit dieses Schicksals zu mildern, indem ich mich der Kinder annähme, an denen er mit der aufopferndsten Liebe hing. Er schrieb mir wieder voll Dankbarkeit für diesen Ausdruck aufrichtiger Sympathie und sagte: »Sie erinnern mich durch Ihre Freundschaft an meine vergangene Jugendzeit. Ihre Freundschaft ist eine tätige, das ist die einzige, die ich verstehe, die ich habe. Die passive Freundschaft hat man von allen Seiten, l'amitié raisonnée, collaboration, conspiration, francmaçonnerie, Emanzipationssucht, die Freundschaft der Glaubensgenossen auch – aber alles das ist unbestimmt und abstrakt. Ich danke Ihnen auf das wärmste, mich daran erinnert zu haben, daß es eine andere, menschlichere und persönlichere Sympathie gibt in diesem vacuum horrendum, mit dem uns die Welt umgibt. Glauben Sie mir, daß trotz meines Äußeren à la Falstaff es kein noch so zartes, kaum faßbares, echtes Gefühl gibt, das nicht ein Echo in meinem Herzen fände.«

Wenige Tage darauf kam er, mir seine älteste Tochter, ein Mädchen von sieben Jahren, zu bringen, ein eigentümlich schönes Kind von einem fremdartigen Typus, der, wie mir der Vater sagte, echt russisch sei, mit großen herrlichen Augen und einem seltsam gemischten Ausdruck von Energie und sanfter, schwärmerischer Innerlichkeit. Sie gewann mein Herz beim ersten Anblick, und es rührte mich sehr, mit welcher mütterlichen Zärtlichkeit der Vater für sie sorgte, indem er lächelnd sagte: »Ich muß jetzt auch die Bonne machen.«

Am folgenden Tage ging ich hin in das neue Haus, das er an einem der großen Squares von London genommen hatte, und fand, indem ich in das parlour unten eintrat, ein deutsches Kindermädchen mit Nähen beschäftigt und in einem großen Lehnstuhl meine neue Bekannte vom vorigen Tag und neben ihr ein ganz kleines Mädchen von zwei Jahren, ein Miniaturwesen von wunderbarer Lieblichkeit. Bald kam auch Herzen und weihte mich in die häuslichen Verhältnisse ein. Das Haus war einfach aber vollständig organisiert. Der Sohn hatte seine Lehrer, die kleinen Mädchen waren vorläufig gut versorgt mit der deutschen Wärterin, die ein gebildetes Mädchen war, und ich fing nun mit der Ältesten meine Stunden an. Nach diesen lud Herzen mich öfter ein, hinauf in seine Zimmer zu kommen, und fing an, mich etwas mit der russischen Literatur bekannt zu machen, indem er mir aus den Übersetzungen von Puschkin, Lermontoff, Gogol und anderen vorlas und mir dabei lebhafte Schilderungen des russischen Lebens und Wesens überhaupt gab.

Die neue Welt, die mir hiermit aufging, interessierte mich ungemein. Manches fand ich geradezu hinreißend durch den Hauch von Naturfrische, durch die Abwesenheit aller Phrase, durch den Stempel echter Poesie, die nicht aus gesuchten Effekten, sondern aus der Macht der Situation und der Wahrheit der Empfindung geboren wird, in dem Sinne, in dem Goethe sagte, daß jedes Gedicht Gelegenheitsgedicht sein solle. Puschkin zog mich am wenigsten an, obgleich er, was Schönheit der Form, was Entwicklung und Abrundung des Gegenstandes betraf, der vollendetere Dichter war, aber in ihm klang zu sehr der blasierte vornehme Mann der aristokratischen russischen Gesellschaft durch, dessen Typus sein Onägin ist. Man hatte in diesem eine Nachahmung Byrons erkennen wollen. Herzen widerlegt das in seinem »Développement des idées revolutionnaires en Russie«, wo er sagt:

»Man hat in Puschkin einen Nachahmer von Lord Byron zu sehen geglaubt. Der englische Dichter hat wirklich sehr viel Einfluß auf den russischen gehabt. Man geht niemals aus den Beziehungen zu einem bedeutenden sympathischen Menschen hervor, ohne seinen Einfluß erfahren zu haben, ohne an seinen Strahlen gereift zu sein. Die Bestätigung dessen, was in unserem Herzen lebt, durch die Zustimmung eines Geistes, der uns teuer ist, gibt uns einen neuen Anstoß, eine neue Tragweite. Aber diese natürliche Wirkung ist weit entfernt, Nachahmung zu sein. Nach den ersten Dichtungen, in denen der Einfluß Byrons mächtig zu fühlen war, wurde Puschkin mit jeder Schöpfung originaler. Stets voll Verehrung für den großen englischen Dichter, war er weder sein Klient noch sein Parasit, weder traduttore noch traditore.

Puschkin und Byron entfernen sich völlig voneinander gegen das Ende ihrer Laufbahn, und das aus einem sehr einfachen Grunde: Byron war echt englisch, Puschkin echt russisch, russisch wie die Menschen der Petersburger Periode. Er kannte alle Leiden des zivilisierten Menschen, aber er hatte einen Glauben an die Zukunft, den der okzidentale Mensch nicht mehr hatte. Byron, die große, freie Individualität, der Mensch, der sich in seiner Unabhängigkeit isoliert und sich mehr und mehr in seinen Stolz, in seine skeptische erhabene Philosophie einhüllt, wurde immer düsterer, immer unerbittlicher. Er sah keine bessere Zukunft nahen, und von bitteren Gedanken niedergedrückt, der Welt überdrüssig, ging er, um sein Leben einem Volke von slavo-hellenischen Piraten zu widmen, die er für Griechen der alten Welt hielt. Puschkin im Gegenteil beruhigte sich immer mehr, vertiefte sich in das Studium der russischen Geschichte, sammelte Materialien zu einer Monographie von Pugatscheff, schrieb ein historisches Drama: »Boris Godunoff« und hatte einen instinktiven Glauben an die Zukunft Rußlands. – –

– – Diejenigen, die sagen, daß Onägin der russische Don Juan sei, verstehen weder Byron noch Puschkin, weder England noch Rußland; sie halten sich nur an die äußere Form. Onägin ist die bedeutendste Schöpfung Puschkins, er hat sein halbes Leben darauf verwandt. Das Gedicht stammt aus den traurigen Jahren, die dem 14. Dezember folgten – und man könnte glauben, daß ein solches Werk, eine solche poetische Autobiographie eine Nachahmung sei?

Onägin ist weder Hamlet noch Faust, weder Manfred noch Obermann, weder Trenmor noch Karl Moor. Onägin ist ein Russe und ist nur in Rußland möglich; da ist er notwendig und man begegnet ihm auf Schritt und Tritt. Er ist ein Müßiggänger, weil es niemals Arbeit für ihn gegeben hat, ein überflüssiger Mensch in der Sphäre, in der er lebt, ohne die Kraft des Charakters, aus ihr heraus zu treten. Er ist ein Wesen, das das Wesen bis zum Tode versucht und das den Tod versuchen möchte, um zu sehen, ob er nicht besser ist als das Leben. Alles hat er angefangen ohne irgend etwas zu verfolgen, er hat um so mehr gedacht, als er weniger getan hat, ist mit zwanzig Jahren alt und vergnügt sich durch die Liebe, als er anfängt zu altern; er hat immer etwas erwartet, wie wir alle, weil man nicht toll genug sein kann, um zu glauben, daß der jetzige Zustand in Rußland dauern könne – es ist nichts anderes gekommen und darüber ist das Leben hingegangen. Onägin, als ein Typus, ist so national, daß man ihm in allen russischen Romanen und Gedichten, die einige Bedeutung haben, begegnet, nicht weil man ihn hat kopieren wollen, sondern weil man ihn überall neben sich oder in sich selbst antrifft.«

Tiefer als Puschkin ergriff mich Lermontoff, in dem die vollständige Hoffnungslosigkeit und der Skeptizismus sich mit tragischer Gewalt zur Poesie erhebt, und der, indem er jedem subjektiven Anspruch entsagend völlig objektiv wird, zuweilen eine wunderbar wehmütige Schönheitswelt vor unseren Blicken entfaltet, in der der große Schmerz für Augenblicke verstummt, wie z. B. in seinen Szenen und Schilderungen aus dem Kaukasus, dessen wildromantische Pracht er während seines Exils daselbst zu beobachten Gelegenheit hatte.

Sollte man Lermontoff mit einem Dichter einer anderen Nation vergleichen, so würde ich ihn neben den Italiener Leopardi stellen, von dem er keinenfalls etwas gewußt hat und dem er doch innigst verwandt ist. In beiden ringt das gläubige Element, das in jeder Dichternatur lebt, und die aus der Erkenntnis vom wahren Wesen des Daseins um desto mächtiger emporschlagende Flamme der Poesie mit der vernichtenden Gewalt eben jener Erkenntnis, die hinter dem gleißenden Bilde der Erscheinung die furchtbaren Mächte gewahrt, die dämonisch die ewige Kette von Ursache und Wirkung flechten, nach der der Arme schuldig und der Pein überlassen wird, weil nach ehernem Gesetz alle Schuld auf Erden sich rächt. – Nur darin unterscheiden sie sich, daß Lermontoff sich aus dem Abscheu über die ihn umgebende Welt in die wilde Schönheit kaukasischer Bergwüsteneien und kühner, noch von keiner Zivilisation ergriffener Naturvölker flüchtet, während Leopard unablässig hinüber schaut nach dem versunkenen Glanz griechischer Kultur und die nüchternen Höhen und Haine wieder beleben möchte mit den schönen Gebilden dichtenden Wahns, mit denen sie einst den schönheitsdurstigen Augen der Griechen bevölkert erschienen.

Diese Stunden, in denen der geistvolle Russe mir die unbekannte Welt seiner großen, fernen, nebelverhüllten Heimat aufschloß, waren Oasen in dem trockenen Einerlei meines Lebens, und bald wurde dieses Haus mit den reizenden Kindern für mich eine Stätte der Erholung und Erquickung, an der ich wieder anfing, dem Leben einen sanften, wohltuenden Reiz abzugewinnen und die Arbeit nicht mehr als einen bloßen Frondienst anzusehen, sondern auch ihren milden Segen in beglückendem Erfolge zu empfinden.

Herzen lud mich eines Tages ein, den Abend in einem Kreise seiner näheren Bekannten bei ihm zuzubringen. Es war dies der Kreis einer mir noch unbekannten Größe der Emigration, nämlich der Kreis Mazzinis, der, ihn selbst und seinen Freund Aurelio Saffi ausgenommen, nur aus Engländern bestand. Lange schon hatte ich gewünscht, den großen Italiener, den Triumvir von Rom, den Feuergeist kennen zu lernen, an dessen Flammen ein ganzes Volk seit zwanzig Jahren seinen patriotischen Enthusiasmus unter Priester- und Despotendruck aufrecht erhalten hatte. Es hatte sich bisher noch nicht machen wollen, denn mit den anderen Flüchtlingskreisen verkehrte er nicht. So freute ich mich denn sehr, die lang ersehnte Gelegenheit gefunden zu haben, und ging mit der Erwartung hin, die man dem Ungewöhnlichen entgegenträgt. Wenn mich im ungarischen Kreise das fast höfische Zeremoniell, mit dem man Kossuth umgab und seine einem Monarchen zugehörige, vornehm herablassende Haltung unangenehm berührt hatten, so war ich nun überrascht von der gänzlichen Einfachheit und Bescheidenheit in Haltung und Auftreten des Mannes, den mir Herzen als Joseph Mazzini vorstellte; des Mannes, dessen Gedanken eine ganze Nation inspirierten und lenkten, und vor dessen politischer Bedeutung mächtige Fürsten zitterten. Mazzini war von mittlerer Größe, sein und schlank gebaut, eher mager als stark, keine imponierende Gestalt – sein Kopf allein entsprach der Vorstellung, die man sich von ihm machte, und wenn man die edlen Züge ansah, die Stirn, auf der der Gedanke thronte, die dunklen Augen, aus denen zugleich das Feuer des Fanatikers und die Milde des Gemütsmenschen sprachen, so fühlte man sich gleich wie gebannt in den Zauberkreis dieses Menschen und begriff von vornherein, daß es eine der Persönlichkeiten war, an denen man nicht gleichgültig vorübergehen kann, bei denen man für oder wider sie Partei ergreifen muß. Allein sprach ich nur wenig mit ihm an jenem Abend, mit tiefstem Interesse aber folgte ich einer Diskussion, die er mit Herzen und Saffi hatte, und worin er gegen diese beiden das Dogma der revolutionären Aufgabe, die Pflicht und Mission der »heiligen Tat«, verteidigte und mit Heftigkeit gegen den bloßen Skeptizismus, die bloße Negation des Bestehenden, eiferte. Herzen mit seiner scharfen Dialektik führte ihm die unzähligen Niederlagen der absichtlich ins Werk gesetzten Revolutionen und insbesondere die noch kürzlich überall so gänzlich zu Tage gekommene Unfähigkeit der demokratischen Partei zu organisieren vor, und Saffi stimmte diesem bei. Es schien Mazzini sehr empfindlich zu sein, daß dieser junge Mann, sein Kollege im Triumvirat von Rom, sein Freund und vordem sein Jünger, jetzt ihn zu bekämpfen wagte und sich der Meinung Herzens anschloß, daß für den Augenblick gar nichts anderes zu tun sei, als gegen das Bestehende zu protestieren und die alte Welt in ihren politischen, religiösen und sozialen Formen zu negieren. Mazzini war im Gegenteil gläubig überzeugt, daß die bloße Negation ein demoralisierendes Prinzip und daß nur das Bewußtsein einer zu erfüllenden Pflicht, die man den Völkern beizubringen hätte, die Aufgabe wahrer Revolutionäre sei. Er versicherte mehrere Male, daß ihm nichts an Italien liege, wenn es nichts anderes wolle als materielle Größe und materielles Wohlergehen; was ihm einzig des Kampfes wert scheine, sei dieses: daß Italien eine große Mission des Fortschritts für die Menschheit erfülle, indem es selbst edler, moralischer, pflichtgetreuer werde. Er kam dabei auf seinen fast mystischen Glauben an die Bedeutung Roms zu sprechen, dessen Name selbst schon eine wunderbare Andeutung seiner endlichen Bestimmung enthalte, indem der Name Roma, umgekehrt Amor, gleichsam vorzeichne, daß Rom zum dritten Male die Welt beherrschen werde, aber diesmal durch die Macht der Liebe, der wahren Brüderlichkeit, die von da ausgehen und mit leuchtendem Beispiel die anderen Völker nach sich ziehen werde.

Vor dem überwiegenden Interesse, diesen wunderbaren Mann zu sehen und sprechen zu hören, verschwand mir der übrige Teil der Gesellschaft völlig, und dieser Abend blieb bedeutungsvoll in meiner Erinnerung, obgleich nun lange Zeit vergehen sollte, ehe ich den italienischen Flüchtling wiedersah.

Die Londoner Saison war vorüber; der Sommer war da und begann die heißen, von der Dunstatmosphäre Londons bedrückten Straßen unerträglich zu machen. Die Gesellschaften und Bälle hatten aufgehört, die musikalischen Genüsse, die, in die kurze Zeit von drei bis vier Monaten zusammengedrängt, mit ihrem bunten Durcheinander einem beinah Ekel an der Musik beibringen könnten, waren verstummt; der Adel und die reiche Bourgeoisie entflohen auf das Land oder auf den Kontinent, und die Stunden hörten auf. Zum Glück war wenigstens in materieller Beziehung das Resultat der schweren Arbeit so gewesen, daß ich mir nun die Erquickung eines Aufenthaltes am Meeresufer mit Seebädern gönnen konnte, und das beschloß ich zu tun, da meine Gesundheit dieser Stärkung dringend bedurfte. Ich suchte mir einen Ort aus, wohin die Reise äußerst billig war, da man sie zu Wasser machen konnte, indem der Ort am Ausfluß der Themse in das Meer liegt und die Dampfschiffe dort anhalten. Meine Hausgenossin war durch Geschäfte in der Stadt zurückgehalten, und so ging ich allein, was mir auch bei weitem lieber war, da ich mich nach der bienenartigen Geschäftigkeit und dem jedes inneren Zusammenhanges entbehrenden Geräusch des verlebten Winters und Frühjahres nach Einsamkeit, Sammlung und Einkehr in mich selbst sehnte. Leid tat es mir nur, von meinen reizenden kleinen Freundinnen im Herzenschen Hause zu scheiden und den Unterricht der Ältesten zu unterbrechen. Aber Herzen versprach halb und halb, die Kinder mit der Bonne nachzuschicken, ja vielleicht sie selbst zu bringen. So reiste ich ab, mir froh der zeitweilig wieder erlangten Unabhängigkeit vom Frondienst bewußt und die Freiheit mit wahrem Genuß empfindend. Die Fahrt die Themse hinab war schön, schöner, als ich sie mir von meiner ersten Einfahrt her erinnerte, und das kleine Örtchen Broadstairs, mein Ziel, grüßte mich gar einladend von hohen weißen Klippen herunter. Am Ufer fand ich gleich bereitwillige Führer, um mich zu Wohnungen zu geleiten. Die meisten englischen Orte an den Küsten sind auf Besuch von Gästen eingerichtet, die die Zeit des Seebades da zubringen, und eine Menge Wohnungen sind eben nur während der kurzen Sommerzeit bewohnt. Broadstairs gehörte damals noch zu den kleinen bescheidenen Orten dieser Art, obwohl es sich nun im Lauf der Jahre, wie so manche andere, sehr vergrößert haben soll. Es bietet auch eigentlich keine großen Schönheiten außer den hohen Klippen, der besonders wilden Brandung der Nordsee an diesen und der Aussicht auf das Meer. Zu der Zeit war nur ein bemerkenswertes Haus dort, das einsam auf hoher Klippe stand: es war das Haus, in dem Charles Dickens öfters den Sommer zuzubringen pflegte und in dem er mehrere seiner Romane geschrieben hat. Man führte mich in einigen verhältnismäßig teuren und unendlich banalen Wohnungen umher, die alle in der unschönen Hauptstraße des Städtchens lagen und keine Aussicht hatten. Sie gefielen mir alle nicht, überstiegen mein Budget und versprachen mir keine Stimmung, wie ich sie mir wünschte, denn sie atmeten dieselbe Banalität wie die Londoner »lodgings« nur in verkleinertem, beschränktem Maßstabe. »Aber gibt es denn keine Wohnung mit der Aussicht auf das Meer?« fragte ich endlich verzweiflungsvoll. »Ja, es gibt da wohl ein Zimmer bei Schifferleuten, aber das ist keine Wohnung für eine Lady,« war die Antwort. »Einerlei, ich will sie sehen,« erwiderte ich; man zeigte mir den Weg und überließ mich dann meinem Schicksal, da es nicht der Mühe wert schien, ein Wesen, das so plebejischen Neigungen folgte länger zu geleiten. Ich fand auf einem Klippenvorsprung, den ein wenig Rasen bedeckte und den dürftige Sträucher, von der Salzflut zu oft gebadet, einfaßten, ein kleines Häuschen, das sich mit der Rückwand an die höher aufsteigende Klippe lehnte. Eine gutmütig aussehende Frau empfing mich fast beschämt, als ich sie nach einer Wohnung fragte, und meinte, ihr Zimmer würde wohl nicht gut genug für mich sein. Als ich dennoch darauf bestand, es zu sehen, führte sie mich durch den untern Raum des Hauses, der Küche und Aufenthaltsort der Familie zugleich war, eine enge Stiege hinauf in das einzige Zimmerchen des ersten Stocks, das ein großes Bett, eine Kommode, einen Tisch und zwei Stühle enthielt, dessen einziges Fenster aber die Aussicht auf das wilde Klippenplätzchen hatte, zu dessen Füßen sich die Welle schäumend brach und zuweilen ein Sturzbad weißen Schaumes hinauf sandte, und dann darüber hinaus auf das weite Meer. Ich hatte gefunden, was ich suchte und war entzückt; die Aussicht ließ an wildem Reiz der Einsamkeit nichts zu wünschen übrig; das Stübchen war bei seiner Schmucklosigkeit äußerst reinlich und nicht banal wie die anderen, ich fragte nach dem Preis, und die Frau verlangte zögernd fünf Shilling die Woche, indem sie mich besorgt ansah, ob es mir auch nicht zu viel dünke. Ich sagte ihr den geringen Preis mit Freuden zu; sie versprach mir das Essen, das ich bestellen würde, zu kochen und unten im Küchen-Wohnzimmer zu servieren. Über meinem Zimmer war nur noch das Schlafzimmer der Familie, die aus dem Mann, der Lotse war, der Frau und zwei kleinen Kindern, von denen das jüngste noch an der Brust lag, bestand. Ich war nun installiert nach meines Herzens Wunsch und sah mit tiefem Behagen den kommenden Wochen entgegen.

Die englischen Seebäder haben den großen Vorzug vor den kontinentalen Badeorten, daß sie wirklich Erholungsorte sind und nicht die großen Städte mit ihren geselligen Vergnügungen auf einen Kurort übertragen, wie jene es tun. Hier lebt ein jeder für sich wie er will: man braucht keine große Toilette zu machen; man sieht die anderen Leute am Strand, wo besonders die Kinder sich in Scharen aufhalten und im Meeressande spielen, aber man macht keine Bekanntschaften; es sind keine Kursäle, keine tables d'hôte da, man wohnt in Privatlogis, wo man auch Essen bekommt, oder wer eine große Familie hat, nimmt ein Haus und macht eigene Küche. Es ist dies wieder eine gute praktische Einrichtung des englischen common sense, denn so ist es ein wahrer Landaufenthalt, wo man sich von den Strapazen des Winters erholt und in Luft, Wellen und Ruhe dem Körper neue Kraft zuführt. Ich genoß die Einsamkeit mit wahrem Fanatismus und floh selbst vor jedem zufälligen Begegnen, das mich etwa hätte in Beziehungen zu Menschen bringen können. Mein einziger Umgang waren meine Schifferleute und eine Menge kleiner Kinder der hier herum wohnenden Fischerfamilien. Wenn ich vom Lesen oder Schreiben müde war, dann setzte ich mich mit diesen Kleinen auf mein wildes Plätzchen vor dem Haus und erzählte ihnen Geschichten, oder ließ mir von ihnen ihre Lieder vorsingen, oder kroch mit ihnen zwischen dem Felsgeblöck am Meer umher, um Muscheln zu suchen. Oft ging ich mit meinem Buch an den Klippen entlang, lagerte mich auf einer der höchsten Spitzen, wo die Felswand jäh ins Meer hinabsank und die weite Wasserflut sich vor mir ausbreitete, und las. – Ich war damals noch ganz in der wissenschaftlichen Richtung, in die mich das Leben in der Hochschule gebracht hatte. Ich glaubte die Lösung aller Probleme und Phänomene des Lebens nur an der Hand der Naturwissenschaften finden zu können. Das Kohlenstoffatom, das heute in einer Dichterstirn der Mitarbeiter unsterblicher Gedanken ist und morgen aufblüht als ein Blumenkelch, oder in der Lerchenkehle hoch im ewigen Äther dem strahlenden Licht einen Freudenhymnus zujubelt, schien mir das tiefsinnige Zeugnis einer Einheit alles Seins, die mein Herz mit geheimnisvoller Seligkeit füllte, und zuweilen sandte ich, voll innerer Freude von meinen deutschen Büchern aufblickend, über die dunkelgrünen Wellen meinen Gruß hinüber an die deutsche Heimat, die ich in ihrem geistigen Schaffen nun wieder versöhnt liebte. – Am Abend saß ich in meinem kleinen Stübchen und schrieb, und die Gedanken strömten mir zu, gleich als ob Geister hinter mir ständen und sie mir ins Ohr flüsterten. Oft auch sah ich hinaus auf das mondbeglänzte Meer, das einen breiten Strom geschmolzenen Silbers in langen leisen Wellen und ruhigem, ernstem, harmonischem Rauschen durch die stille Nacht dahinfließen ließ. Mir war es, als sähe ich an der Horizontlinie das Wasser sich dem Mond entgegenheben, bewegt von der Kraft der Anziehung – vielleicht die erste Form der Liebe in der Materie. Ich gedachte der entzückenden Phantasieen der Griechen, wie sie dies nächtliche Geheimnis der Liebe zwischen den Gestirnen, in der Fabel von Luna, die den schlafenden Endymion küßt, personifiziert haben. Wie tief mußte dies begnadete Volk empfinden, um im Zauber der Dichtung, des verklärten Wahns, das Geheimnis der Erscheinung in eine Schönheitswelt von Formen zu bannen, von denen die moderne Welt nur das nackte Gerippe der sogenannten Realität übrig behalten hat! In der wunderbaren Stimmung, die solche Mondnächte am Meer erzeugen, begreift man es, wie sie diese Luna Diana zum süßesten Ideal jungfräulicher Reinheit schaffen mußten, die, fern von jedem wollüstigen Reiz, nur einfach vom ewigen Zauber der Schönheit gerührt, sich in keuscher Seligkeit zum Kuß auf die Stirn des schönen Schläfers neigte, ohne ihn zu wecken, ohne erwiderndes Umfassen zu verlangen. Und wer weiß, inwieweit ihr symbolisierendes Naturgefühl recht hatte? Wer weiß, ob nicht in jenen Formen der Erscheinung, die unserem Begreifen verschlossen sind, ein Empfinden und Genießen stattfindet, das nur andere Ausdrucksweisen hat wie das unsere? Wer weiß, ob z. B. der Sphärentanz des Pythagoras nicht wirklich die erste Form, die »ewige Idee« des Rhythmus ist? Warum sollten wir allein das Privilegium der Empfindung haben? Da die Experimentalwissenschaft uns versichert, daß dieselben Stoffe, die unser irdisches Dasein zusammensetzen, sich ebenso in der Bildung anderer Weltkörper finden, warum sollten nicht auch die Begriffe, die der Welt als Vorstellung entwachsen, eben darum aber notwendig mit dem Stoff, der diese Welt bildet, zusammenhängen, sich außerdem, als mit dem Stoff verbunden, darstellen? Warum sollte daher z. B. der Rhythmus eine bloß unserem Geist gleichsam eingeborene Fähigkeit sein, und nicht ebensowohl ein inneres Gesetz, das die Bewegung der Gestirne regelt? . . .

Zuweilen lockte es mich auch an das Ufer hinab, selbst in dunklen Nächten, wenn das brausende Element seine gewaltigen Symphonieen zu mir herauftönen ließ. In dieser völligen Freiheit und zwischen den guten Menschen der Küste störte mich keine gesellschaftliche Rücksicht, ich warf meinen Mantel um und schritt dem Strande entlang. Da, wenn Sturm und Wellen um die Wette brausten, durchdrang mich ein göttliches Gefühl der Freiheit. Keine Furcht war in mir, keine Knechtschaft außer mir. Mit Lust hörte ich die aufgewühlte Tiefe heulen; mit Wonne trank ich die scharfe Nachtluft, die vom Meere her ein milder Hauch durchdrang. Dann dachte ich der Sünden der Erziehung, die die Menschen – wenigstens die Frauen – fernhält von den großen, befreienden Einflüssen, vom Umgang mit den elementaren Gewalten, mit allem Ursprünglichen, und dadurch das Ursprüngliche in den Menschen selbst vernichtet. Sich den großen Eindrücken mit reiner Liebe hingeben, das macht den Menschen stark und gut. In einsamen Sternennächten mit den Gestirnen Umgang pflegen, kühn in die schwersten Labyrinthe des Gedankens eintreten, den Körper Härten im Kampf mit Sturm und Wellen, dem Tod furchtlos ins Angesicht sehen und ihn verstehend feiern – all das heißt den gewöhnlichen Erziehern Überspannung, Torheit, Tollkühnheit. Aber z. B. auf Bällen, im Rasen unschöner, ja unmoralischer Tänze mit gehaltlosen Schwätzern, mit leichter Kleidung sein Leben gefährden, das heißt rechtmäßige jugendliche Freude. Die Autorität, die solche Vorschriften gibt, heißt die Stimme der Vernunft. Die kleinen Seelen, denen es graut vor Nacht, Sturm und Wellen, die aber im Salon, in der künstlichen Atmosphäre des modernen Lebens ihre Kinder lehren, elegante Memmen zu sein wie sie selbst, das sind die weiblichen Wesen par excellence, die wahren Frauen!

Bei solchen Gedanken erfaßte mich wieder die alte Leidenschaft des Kampfes. Ich wünschte mir noch Leben, Kraft und Gelegenheit, um Heldenfrauen bilden zu können, die fähig wären, ein Geschlecht aufzuziehen, in dem einst alle sittliche Feigheit verschwinde, aus der jede andere, die politische und soziale Feigheit entsteht. Oder sollte der wahre, sittliche Mut ewig nur das Geheimnis einzelner Naturen bleiben? so fragte dann zweifelnd mein Herz. »Nein,« sprach die Hoffnung, »es ist möglich, ihn durch die Erziehung in den weitesten Kreisen zu verbreiten und den größeren Teil der Menschheit zur sittlichen Freiheit zu erziehen, die das stärkste Gesetz ist, indem sie die Notwendigkeit einer sittlichen Weltordnung anerkennt, sie schafft und sich ihr aus Überzeugung unterwirft. Dazu aber ist vor allen Dingen nötig, die von keiner Afterbildung, von keiner falschen Konvenienz verkrüppelte Originalität der Naturen zu erhalten, die sich selbst das Wesen der Welt aufdeckt und selbst zu genießen weiß. Käme die Erziehung erst dahin, daß wahre Bildung auch zugleich wahrer, ursprünglicher Mensch hieße, so wäre damit mehr getan als mit allen Beglückungstheorieen. – –

Einmal auf einer dieser nächtlichen Streifereien befand ich mich plötzlich auf der sonst ganz leeren Klippe einem Individuum gegenüber, gehüllt in einen weiten, von einem Gürtel zusammengehaltenen Mantel, auf dem Kopf einen breitkrämpigen, großen Hut und im Gürtel zwei Pistolen und einen kurzen Degen. Ich war im ersten Augenblick ein wenig betroffen von der sonderbaren Erscheinung, wurde aber bald beruhigt, als der Mann stehen blieb und mit gutmütigem Tone fragte, ob ich mich nicht fürchte bei Nacht auf der einsamen Klippe, und mir dann auf meine Frage, wer er denn sei, erwiderte, er sei einer der Strandwächter, die zum Schutz des Einkommens des Staates an den Klippen bestellt seien gegen die französische Kontrebande, die besonders mit Cognac und Liqueurs stark an dieser Küste getrieben werde. Des Mannes gemütliches Wesen bewog mich, seiner Gesellschaft nicht auszuweichen, wenn ich ihm später öfter auf meinen nächtlichen Wanderungen begegnete. Er erzählte mir manches aus seinem einsamen wilden Strandleben, das von allerlei Gefahren durch Menschen und Elemente bedroht ist. Durch die ersteren, wenn diese als Kontrebandiers in den vielen kleinen Buchten, die das Meer am Felsenufer bildet, landen, die einzuschmuggelnde Ware bis zum Weitertransport in den Felsenklüften bergen und dabei von den Strandwächtern überrascht werden – durch die Elemente aber wird mehr als eines dieser in unscheinbarer Pflichterfüllung verbrachten Leben vorzeitig vernichtet. So erzählte er mir von einem seiner Gefährten, der durch einen heftigen Windstoß bei Nacht über die Klippen geweht und unten im Meeressande und Geröll, die ein ewiges Spiel von Ebbe und Flut sind, begraben worden sei. Lange Zeit hatte man nicht gewußt, was aus ihm geworden, bis einige Monate nach seinem Verschwinden der Wind den Sand aufgewühlt und seinen Leichnam bloßgelegt habe. Zuweilen rissen sich auch im Winter durch den Frost Stücke von den Klippen los und begrüben einen unter den Trümmern, oder das Gestein bräche plötzlich ein und risse den Obenstehenden mit hinab in die Tiefe, oder der Sturm schleudere einen von der nackten, umheulten Klippe hinaus in das Meer. Der Mann erzählte das mit so einfachem Ton, als ob es selbstverständlich wäre, daß es so kommen und daß man diesen Lohn des Schicksals für treue Pflichterfüllung ohne Murren hinnehmen müsse. Es fiel ihm gar nicht ein, zu denken, daß vernünftigere Staatseinrichtungen: Handelsfreiheit, Abschaffung der Schutzzölle usw. dem Schmuggelhandel von selbst Einhalt tun und das Amt des Strandwächters erleichtern würden, da er sich dann, besonders in gefahrvollen Nächten, die jetzt die Schmuggler gerade für ihr finsteres Handwerk suchen, der Wut der Elemente nicht auszusetzen brauchte.

Anders ist es freilich mit den Lotsen der Rettungsmannschaft, zu denen mein Hauswirt gehörte. Ihr Amt besteht darin, der Wut der Elemente das eigene Leben preiszugeben, um das fremde zu retten. Dieser schweren aber erhabenen Pflicht wird man sie nicht nur nicht entziehen können, sondern sie wird immer mächtiger und fordernder werden, je mehr Menschlichkeit und Pflichtgefühl wachsen. Ich ward auch Zeuge einer solchen Stunde, in der die mutigen Männer, die das Rettungskorps der Küste bilden, ihr Leben ohne Bedenken einsetzten. Es war dies eines Abends, als ich gerade in dem Raum, der Küche und Familienstube zugleich war, mein Abendessen einnahm. Draußen wütete und tobte das Meer, der Sturm heulte und der Regen floß in Strömen nieder. Plötzlich ertönten dumpfe Töne in kurzen Zwischenräumen durch die Nacht. Die Frau fuhr erschreckt auf. »Das sind Notsignale!« rief sie, und noch ehe ich Zeit fand zu fragen, stürzte der Mann ins Zimmer: ein Schiff sei in Not in der stürmischen See und das Rettungsboot müsse hinaus. Rasch zog er sich die großen Wasserstiefel an, warf den Kautschukmantel und die Kappe mit dem hinten den Hals bedeckenden Kragen daran um, eilte nach kurzem, entschlossenem Lebewohl an Frau und Kinder fort dem Ufer zu, wo schon das große Rettungsboot harrte und, bald bemannt, in die tosenden Wellen hinausfuhr. Erschüttert stand ich bei der jammernden Frau, die, nachdem sie ihm ohne Klage geholfen sich anzukleiden, erst nach seinem Weggehen ihrer tödlichen Sorge freien Lauf ließ. »So ist mein Leben, so muß ich ewig in Todesangst sein um ihn,« klagte sie weinend, plötzlich warf sie mir ihren Säugling in die Arme. »Halten Sie ihn mir,« rief sie, »ich muß ihm nach, ich muß ihn abfahren sehen.« Sie nahm den Rock über den Kopf und stürzte hinaus an den Strand, um dem wegfahrenden Boot, so lange es die Dunkelheit erlaubte, nachzusehen, bis es in den sich türmenden Wellen verschwand. Ich blieb zurück in der Hütte mit dem Fischerkinde im Arm, seltsam bewegt von dem kleinen Drama. Das unbedenkliche Einsetzen des Lebens auf den Ruf der Pflicht von seiten des Mannes, die Liebe der Frau, die die stumme Angst um den Gatten, den Vater ihrer Kinder, hinaustrieb in die furchtbare Nacht, nicht um ihn zurückzuhalten – denn das durfte sie nicht und versuchte sie auch nicht – aber um ihn so lange als möglich mit den angstvollen Herzensschlägen zu begleiten, während sie mir, der Fremden, ihr Kind anvertraute – alles das waren so einfache, so wenige Züge, beinahe nur Konturen eines Menschenschicksals, und doch lag eine seltsame Poesie darin, die mich ergriff: die Poesie der Situation, jenes Unerklärlichen, das das Leben zuweilen in besonderen Momenten an uns heranführt, das dichtend zu schaffen aber nur selten und nur dem wirklichen Genie gelingt. Am folgenden Tag, erst um die Mittagszeit, kehrte der Mann auf schon beruhigter See glücklich heim, nach heißer Arbeit, die aber auch den doppelten Lohn, den der völligen Rettung der Gefahrumdrohten und den mäßigen Geldeslohn, der den Rettern wird, mit sich brachte.

Eine gehoffte Freude nur blieb mir während dieses Aufenthaltes versagt, die nämlich, meine kleinen Freundinnen, die Töchter Herzens, dort zu sehen. Ich wünschte mir die Kinder herbei, die mir so lieb geworden waren, und ich wußte, daß sie es auch wünschten. Ich schrieb endlich an Herzen, um zu fragen, was denn der Grund ihres Nichtkommens sei, und sagte halb im Scherz, er könne sich wohl von London, den vielfachen Beziehungen, die er dort habe, und den Anregungen des dortigen Lebens nicht trennen; daß freilich das Leben in Broadstairs für ihn auch kein Interesse biete, weil außer den Klippen und den Wellen nichts da sei. Einige Tage darauf erhielt ich von ihm folgende Antwort:

»Sie haben es mit einem Menschen zu tun, der von einer Fatalität selbst in den einfachsten Dingen verfolgt wird.

Ich weiß nicht, wann wir kommen können. Mein Sohn ist krank: ich hätte Ihnen die Kleinen mit der Bonne schicken können, aber die letztere ist eben jetzt unentbehrlich. Ich werde Ihnen das Ultimatum in einigen Tagen schreiben.

Inzwischen habe ich Ihren Brief erhalten – also Brutus, auch du? Es schien mir. Sie kennten mich besser als irgend jemand in London, und auch Sie denken, daß mir – ja was denn? – daß mir das Café von Very, das Restaurant von Piccadilly, die Regentstreet, die Volksmenge, die Diskussionen nötig sind? Denn im Grunde habe ich doch nichts anderes hier. Sie kennen jetzt unser Leben, es ist zerrissen, wüst, es gleicht einem jener alten verödeten Paläste aus der Vorzeit, in denen nur noch ein kleines bewohnbares Eckchen ist. Was sollte der Reiz sein, der mich an ein solches Leben bände? Es gibt eine Seite in meinem Leben, die ich fanatisch liebe, das ist die Unabhängigkeit – aber dort am Meeresufer würden Sie mich nicht tyrannisieren, denke ich; die andere sind die Kinder, und die wären dort. Nein, Sie durften mich nicht so beurteilen!

Ich habe ein Leben in die Breite gehabt, ein Leben des entraînement und des Glücks – tempi passati! Eine Sache, die mir noch bleibt, ist die Energie des Kampfes – und ich werde kämpfen. Der Kampf ist meine Poesie. Alles übrige ist mir beinahe gleichgültig. Und Sie glauben, daß mir etwas daran liegt, ob ich in London oder in Broadstairs, bei Newroad oder bei Ramsgate bin? – Als wir vor einiger Zeit einmal zusammen sprachen, sagte ich, daß Sie die einzige Person sind, mit der ich nicht nur freimütig über die allgemeinen Dinge spreche (denn das tue ich mit allen Menschen, die ich achte), sondern auch über die intimeren Angelegenheiten. Diese Wohltat wiegt, denke ich, die kleineren Unannehmlichkeiten mit solchem Reichtum auf, daß sie nicht mehr der Erwähnung wert sind.«

Ich antwortete Herzen, fragte nach des Sohnes Gesundheit, erzählte ihm von meinen einsamen Freuden und bat ihn, mir mehrere wissenschaftliche Bücher, die er, wie ich wußte, besaß, zu schicken, unter anderen Moleschotts Kreislauf des Lebens. Einige Tage nachher erhielt ich wieder einen Brief, in dem er sagte, daß die Krankheit noch nicht gehoben sei, und dann fortfuhr: »Als ich Ihren Brief las, habe ich unwillkürlich gesagt: Mein Gott, was sind Sie noch jung in Sein und Gefühl! Alles was Sie sagen, weiß ich auch – aus der Erinnerung – auch ich war in Arkadien geboren! Aber ich habe diese Frische, diese sonorité nicht mehr. Sie gehen noch vorwärts, ich gehe zurück. Der Trost, der mir bleibt, ist meine Liebe zur Arbeit. Nur da bin ich noch jung, da besitze ich mich wieder selbst, wie früher. Moleschott ist sehr Spezialist in dem Buche: Kreislauf des Lebens. Kennen Sie das vortreffliche Buch: »Earth and Man« von Gugot? Dann die Pflanzenkunde von Schleiden? Ich kann Ihnen das alles schicken.«

Er schickte sie mir auch wirklich. Dann aber hörte ich längere Zeit nichts mehr von ihm, und besorgt wegen des Knaben, verwundert über das unerklärte Schweigen und Nichtkommen, fragte ich nach dem Grunde und fügte halb im Scherz hinzu, daß ich doch hoffe, seine gänzliche Hoffnungslosigkeit habe ihn noch nicht dazu geführt, sich totzuschießen. Ich bekam gleich eine Antwort:

»Erstens habe ich Briefe aus Rußland erhalten, in denen man mir einen Besuch von dort hier in London verhieß, den ich mit tiefen Herzensschlägen erwartete. Gestern erst habe ich die Anzeige erhalten, daß dieser Besuch erst im September kommen wird. Zweitens brachte der Morning Advertiser einen Artikel, in dem gesagt wurde, Bakunin sei ein russischer Spion. Der Artikel war F. M. gezeichnet. Man mußte also F. M. eine gehörige Lektion geben und seine Antwort abwarten. Endlich waren allerlei Streitigkeiten der allerunangenehmsten Art. Das war keine Stimmung, um heitere Briefe zu schreiben. Und so ist die Zeit von einem Tag zum andern vergangen.

Sich totschießen? Man tötet sich nicht infolge eines Raisonnements; die Kugel ist kein Syllogismus; nur ein einziges Mal in meinem Leben habe ich an Selbstmord gedacht, niemand hat jemals etwas davon gewußt, ich schämte mich, es einzugestehen und mich jenen Elenden gleichzustellen, die den Selbstmord ausbeuten. Ich habe jetzt keine Leidenschaft mehr, die stark genug wäre, mich zum Selbstmord zu treiben; ich habe sogar einen ironischen Wunsch, eine bloße Neugierde, zu sehen, wie alles gehen wird. Es sind jetzt zwei Jahre her, da schrieb ich eine Widmung an einen Freund und sagte: ›Ich erwarte nichts für mich; nichts wird mich mehr sehr erstaunen, nichts mehr sehr erfreuen. Ich habe so viel Kraft der Gleichgültigkeit, der Resignation, des Skeptizismus des Alters endlich erlangt, daß ich alle Schläge des Schicksals überleben werde, obgleich ich weder lange zu leben, noch bald zu sterben wünsche. Das Ende wird kommen, wie der Anfang gekommen ist, durch Zufall, ohne Bewußtsein, ohne Vernunft. Ich werde es nicht zu beschleunigen suchen, noch es fliehn.‹

Diese Zeilen waren in vollster Aufrichtigkeit geschrieben. Denken Sie darüber nach. Sie könnten mir meine Müdigkeit vorwerfen, wenn ich mich beklagte, aber ich beklage mich niemals, außer wenn eine Freundeshand an die schmerzlichen Saiten rührt. Sonst spreche ich von Revolution, demokratischen Komitees, von Mailand, Amerika, der Moldau usw. Ja es gibt Leute, die mich für den zufriedensten Menschen auf der Welt halten, z. B G . . . und C . . .; es gibt andere, die, wenn sie mich nachdenklich sehen, das nur politischem Ehrgeiz zuschreiben, wie z. B. die meisten Polen.

Ja, es kommen noch Augenblicke, wo ein Sturm im Herzen tobt – oh, wie man sich da nach einem Freund sehnt, einer Hand, einer Träne – man hat so viel zu sagen! – dann wandere ich durch die Straßen; ich liebe London bei Nacht; ganz allein; ich gehe und gehe – einen der letzten Tage war ich auf der Waterloo-Brücke, niemand war da außer mir – ich setzte mich lange hin, und mir war das Herz so schwer – ein Jüngling von vierzig Jahren!

Und dann geht das auch wieder vorüber. Der Wein ist für mich eine Gabe des Himmels, ein Glas Wein gibt mich mir selbst wieder . . . Aber genug davon! Man kann das alles im ersten besten Roman lesen. Ich liebe es nicht, mich in diesen lyrischen Ergüssen gehn zu lassen.«

Ich antwortete ihm darauf:

»Die klagelose Gleichgültigkeit, in die Sie, einer der wenigen Erwählten der Freiheit, versunken sind, tut mir weh. Das, was Sie sagen, ist eine Seite der Wahrheit, und Sie behalten ganz recht, wenn das Leben wirklich weiter nichts ist als das bloße Spiel einer kalten Notwendigkeit oder eines unbekannten Zufalls, der uns hineinwirft und nach Momenten, wo wir ein Scheinglück von Jugend, Liebe, Schönheit, Geist genossen (alles grausame Täuschungen in dem Fall), uns wieder in das Nichts der Materie entläßt, um aus unseren Atomen neue Nichtigkeiten von Existenzen zu bilden. Solch ein Resultat geben uns der negierende Verstand, die experimentierende Wissenschaft, das verarmte Herz. Danach bleibt nur zweierlei übrig: der Selbstmord mit ruhiger Überlegung, als die freiwillige Beschleunigung der letzten Konsequenz dieser Anschauung, oder die passive, ironisch neugierige Resignation. Ist das Leben nichts anderes als dies ewig wiederkehrende einförmige Spiel der Existenzen, dann dürfte ich weiter nichts sagen, weil die Erzählung jener Stimmungen dann wirklich unnütze lyrische Ergüsse wären, denen nachzugeben eine Schwäche wäre und die zu gar nichts führten. Aber wohl uns! dem ist nicht so; die ewige Poesie des Lebens, die höchste Vernunft, die Einheit, oder wie Sie es nennen wollen, empört sich gegen jenes Vernichtungsurteil und geht siegend aus der Analyse der zersetzenden Kritik, der Einsamkeit des Herzens hervor. Nach solchen Briefen, wie der Ihre, frage ich mich immer, ob ich denn weniger radikal bin als Sie, ob ich noch einen Rest Dogma irgendwo versteckt in mir habe? Aber nein; schonungslos habe ich ja jede Illusion zerstört, die liebsten Bande zerrissen, die angenehmsten Verhältnisse geopfert, als sie mich hemmen wollten auf meinem Weg zur Freiheit. Dennoch finde ich nach jedem noch so bitteren Kampf und Schmerz diese Einheit des Lebens wieder, nicht als einen Glauben, sondern als ein intuitives Wissen. Nein, das Leben ist kein solches Auf- und Untergehn ohne andern Zweck als den der Neuheit, der doch am Ende auch nichts mehr wäre. Freilich, die individuelle Erscheinung und ihre Denkkraft ist an den Organismus gebunden und vergeht mit ihm; aber die Gesamtentwickelung des Bewußtseins wird gleichsam ein Konkretes, ein Geist über der Welt, und schreitet vor zu neuen Idealen, zu dem vollkommeneren Kunstwerk des Daseins, zu dem die vorhergehenden Epochen ihm den Weg gebahnt. Um Zeuge davon zu sein, lebe ich noch gern, mit junger Freude am Leben, das ja für mich persönlich die schönsten Stunden schon begraben hat. Deshalb bin ich so gern mit Kindern, weil sie Erben jener fortschreitenden Zukunft sind, deren Samen ich in sie pflanzen möchte. Darum freute ich mich so heute abend, als ich den Moleschott erhielt, weil in ihm auch ein Teil des neuen Evangeliums verkündet wird, zu dem die Menschheit sich vorbereitet: ewige Transformation; darum freue ich mich bei den Torheiten der Reaktion, nicht um ihrer Schmach willen (das wäre ein elender Triumph), sondern um des unaufhaltsamen Kommens neuer Zustände willen, in denen die Menschheit, sei es auch unter scheinbarer Zerstörung, sicher einen Fortschritt macht. Ja, glauben Sie es nur: jene Stunden, wie die an Waterloo-Bridge, sind die Rache der Vernunft und der Poesie an Ihrem Verstand, der jene unterjochen will.«

Ich mußte mich endlich doch entschließen, meiner geliebten Meereinsamkeit zu entsagen und zu der schweren Arbeit meines Londoner Lebens zurückzukehren. Ich fühlte mich aber gestärkt und ermutigt, denn ich hatte einmal wieder mit mir selbst gelebt, hatte mich in jene objektive Beschaulichkeit versenkt, in der allein uns das Mysterium des Lebens verständlich wird und aus der, als aus dem Gefühl der großen Einheit aller Dinge, uns die Kraft erwächst, die Zerrissenheit des alltäglichen Lebens zu ertragen. Am letzten Abend, da der Vollmond gerade mit silbernem Glanze die Meeresfläche erleuchtete, ließ ich mich noch einmal von meinem Hausherrn im Kahne hinausfahren aufs Meer. Ich kenne kaum einen schönern Naturgenuß, als bei ruhiger See hinauszufahren in die laue Nachtluft, die auf dem Wasser milder ist als auf dem Land und, bald in dem glitzernden Silber, bald auf der dunklen Flut, dahin zu gleiten in die unbegrenzte Weite, still, traumhaft, als ginge es hinaus aus dem Reich der Erscheinung in das ewige Wesen der Dinge. Lange verloren in ein der Musik verwandtes Empfinden, hatte ich im Kahn gesessen und hatte beinahe vergessen, daß die gleichmäßigen Ruderschläge von einem menschlichen Geschöpf herrührten, als mein Fährmann plötzlich das Schweigen brach und anfing, mir zu erzählen, wie er als junger Knabe schon zur See gewesen sei, weite Weltfahrten mitgemacht und viele Nächte unter den Tropen auf dem Meer verbracht habe. Er schilderte mit glühenden Farben die Pracht des südlichen Sternenhimmels, der duftberauschten Luft, die ganzen wollüstig seligen Wunder jener phantastischen Zone. »Aber,« fügte er hinzu, »sobald wir ans Land stiegen, war es mein Erstes, schnell hinzulaufen und irgendwo Zeitungen zu lesen, denn nichts hat mich im Leben so interessiert wie die Politik; Sie müssen wissen, daß ich ein Republikaner bin, und zwar bin ich es nur aus eignem Nachdenken geworden, indem ich die verschiedenen Zustände der Länder, die ich bereiste, miteinander verglich und ausfand, daß die Republik die einzige, freier Menschen würdige Staatsform sei. Ich nehme auch heißen Anteil an all den verbannten Republikanern, die jetzt auf unserer Insel weilen.«

Ich sagte ihm, daß ich auch zu deren Zahl gehöre; da rief er lebhaft, das habe er schon lange bei sich gedacht und schon zu seiner Frau gesagt, ich müsse gewiß eine Republikanerin sein, weil ich so einfach menschlich mit ihnen verkehre. Dann fragte er mich, ob ich Ledru Rollin kenne. Ich sagte: nicht persönlich, wohl aber von Ansehn, und daß ich leicht mit ihm bekannt werden könnte, wenn ich wollte. »Nun wohl,« versetzte er nach einigem Zögern, »so sagen Sie ihm: wenn er je eines zuverlässigen Seemanns bedarf, um im sichern Kahn einen mutigen Mann, der dort das gesegnete Werk vollbringen will, das französische Volk von seinem Tyrannen zu befreien, hinüberzuführen zur französischen Küste, und ihn nach vollbrachter Tat ungefährdet zurückzuführen, so solle er meiner gedenken und mich rufen. Ich sei alle Zeit dazu bereit!«

Aus dem Traumland der schweigenden Meernacht rief mich diese seltsame Eröffnung zurück in die leidenschaftlich bewegte Welt der sogenannten Wirklichkeit, in der die finstern Mächte der fleischgewordenen wütenden Triebe herrschen, die die Tyrannei und in ihrem Gefolge den Mord wecken, zwischen deren finsteren Umarmungen das Ideal nur wie ein flüchtiges Meteor eine Welt erleuchtet, um dann, sich in unbekannte Fernen rettend, zu entfliehn.


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