Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Neunzehntes Kapitel

Ein neues Leben

Ich hatte der Frau des Professors Karl Fröbel, der der Hochschule vorstand, geschrieben, um sie wegen der Möglichkeit der Aufnahme usw. zu fragen. Sie hatte mir geantwortet, ich solle so bald als möglich kommen. Meine Mutter und meine Schwester begleiteten mich nach Hamburg, wo sich das Institut befand. Ich ließ sie im Gasthof und begab mich allein in die Anstalt. Ein eignes, beinah feierliches Gefühl erfaßte mich, als ich die Schwelle des Hauses, in dem ich ein neues Leben beginnen wollte, überschritt. Ich war keine junge Schülerin mehr, die Belehrung suchte für das kommende Leben; ich war ein gereiftes Wesen, das aus den Konflikten des Daseins zu der einzigen wahren Zuflucht flüchtete: zu einer edeln, fruchtbringenden Tätigkeit.

Der Professor und seine Frau empfingen mich mit solcher Herzlichkeit, daß ich mich gleich wie zu Hause fühlte. Es wurden mir fünf oder sechs junge Damen vorgestellt, alle längst der Schule entwachsen, die von auswärts gekommen waren, um hier ihre Bildung zu vollenden und die im Hause wohnten. Am Abend machte ich auch die Bekanntschaft der eigentlichen Begründerin der Anstalt, von der ich schon so viel gehört hatte. Emilie Wüstenfeld war eine von den mächtigen Persönlichkeiten, die, zu scharf ausgeprägt, zunächst durch einige eckige und gleichsam absolute Seiten ihres Wesens auffallen, die aber durch nähere Bekanntschaft immer mehr Achtung und Liebe einflößen und wahrhaft mit ihren höher steigenden Zwecken wachsen. – Sie empfing mich auf das herzlichste, und indem sie mir ihre Pläne auseinandersetzte, ersah ich, daß meine Träume hier eine Form gewinnen würden. Die ökonomische Unabhängigkeit der Frau möglich zu machen durch ihre Entwicklung zu einem Wesen, das zunächst sich selbst Zweck ist und sich frei nach den Bedürfnissen und Fähigkeiten seiner Natur entwickeln kann – das war das Prinzip, auf das die Anstalt gegründet war. Man muß sagen, daß hier, wie auch in anderen deutschen Städten, der Gedanke der Emanzipation der Frau sich infolge der freien Bewegung in der Kirche entwickelt hatte. Die freien Gemeinden, die sich zuerst von der katholischen, dann auch von der protestantischen Kirche, unter dem Namen Deutsch-Katholiken, Lichtfreunde usw. trennten, hatten seit der Revolution von achtundvierzig einen mächtigen Aufschwung genommen. Alle großen und viele kleine Städte Deutschlands besaßen solche. Die Reformatoren, die an der Spitze dieser Gemeinden standen, waren mehr oder weniger bedeutende Männer, aber sie handelten alle so ziemlich in gleichem Sinne. Die Unabhängigkeit des Gemeindelebens vom Staat, die eigne Verwaltung in den religiösen Angelegenheiten und denen des Unterrichts, die freie Wahl der Prediger und Schullehrer durch die Gemeinde selbst, die Gleichheit der bürgerlichen Rechte für Männer und Frauen – das waren so ziemlich überall die Grundlagen. In einigen Gemeinden strebte man sogar auch in den äußeren Formen nach der Einfachheit der ersten christlichen Zeit; man redete sich allgemein mit Du an und feierte die Kommunion wie Liebesmahle der Brüderlichkeit. Andere hatten Abendmahl, Taufe und andere Zeremonien des Kultus ganz abgeschafft, da sie ihnen keine Ideen mehr vorstellten. Sie tauften nur noch aus ziviler Notwendigkeit, um den Kindern ihre bürgerlichen Rechte zu sichern. In Hamburg hatte die freie Gemeinde, durch Johannes Ronge in das Leben gerufen, zahlreiche warme Anhänger gefunden. Die Frauen, die die Hochschule begründeten, hatten aber eingesehen, daß es nicht genug wäre, den Frauen gleiche Rechte mit den Männern in der Gemeinde zuzugestehen, sondern daß man ihnen auch die Mittel reichen müßte, würdig von diesen Rechten Gebrauch zu machen. Nun gab es eben für die Frauen, wie für das Volk, nur ein Mittel, die Freiheit zum Segen zu gestalten: Bildung. Die gewöhnliche, bis dahin allgemein angenommene Ansicht, daß die Erziehung des jungen Mädchens aufhört, wenn sie die Schule verläßt, daß sie dann nichts zu tun hat, als in die Gesellschaft einzutreten, sich zu verheiraten und, im besten Fall, das häusliche Leben durch ihre Talente zu verschönern – diese Ansicht bedurfte einer gründlichen Reform. In der Hochschule wollte man also den Mädchen, die die Schule verlassen hatten, oder solchen, die, schon im reiferen Alter, noch das Bedürfnis fühlten, die Lücken in ihrer Bildung auszufüllen, die Gelegenheit geben, höhere Studien aller Art zu verfolgen, entweder zu dem Zweck, eine Spezialität zu ergreifen, oder nur aus sich selbst ein vollendeteres Wesen zu machen. Die Anstalt wurde von einer Anzahl Aktienbesitzer erhalten, deren größere Zahl verheiratete Frauen und Familienmütter waren, die in ihrer eigenen Erfahrung die Überzeugung geschöpft hatten, daß das Leben noch eine andere Grundlage haben muß, als die bloße Hingebung an ein anderes Wesen. Die Aktienbesitzer bildeten den großen Verwaltungsrat des Instituts; daneben bestand aber noch ein anderes Komitee, das über die inneren Fragen der Anstalt entschied, gebildet aus den Frauen, die den Grund zu der Anstalt gelegt hatten, und den Professoren, die darin Vorlesungen hielten. Die Überwachung des häuslichen Lebens war dem erwähnten Professor und seiner Frau anvertraut. Für die Vorlesungen waren die ersten Gelehrten der Stadt gewonnen worden. Im Anfang hatten diese Herren wenig Vertrauen in die Sache gehabt, weil sie an der Ausdauer und Energie der Frauen bei ernsten Studien zweifelten. Sie hatten den Versuch nur aus Achtung und Freundschaft für die edeln Unternehmerinnen, besonders für Emilie, gewagt. Aber schon als ich ankam, fand ich ihr Interesse sehr lebendig, und es steigerte sich immer mehr, je mehr sie den Eifer ihres Auditoriums und die Fähigkeiten, die sich überraschend kund taten, sahen. Als ich mich am ersten Abend in das mir bestimmte Zimmer zurückzog, fühlte ich, daß ich den wahren Übergang zu einem neuen Leben gefunden hatte. Am folgenden Tag führte ich meine Mutter und Schwester in das Institut und hatte die Befriedigung, sie zufriedener damit zu sehen, als ich zu hoffen gewagt hatte. Nach einigen Tagen schieden sie und ich blieb allein – allein zum erstenmal im Leben, entschieden, mir meinen Weg zu bahnen ohne andern Führer als mein Gewissen, ohne andere Stütze als meine Arbeit, ohne andere Belohnung als die Achtung derer, die mich so achten wollten, wie ich war.

Ich machte die Bekanntschaft der Professoren, die die Vorlesungen hielten. Zunächst wohnte ich allen Vorlesungen bei, um mir die auszusuchen, die mich am meisten interessieren würden. Ich war hocherfreut über den Ton, der dort herrschte. Die Lehrer bestanden darauf, daß man sie durch Fragen und Bemerkungen unterbreche, um das Studium desto anregender zu machen und ihnen die Gewißheit zu geben, daß es nicht bloß totes Hören bleibe. Unter den Zuhörerinnen waren viele Freischülerinnen, denn es war ein Hauptzweck der Anstalt, dieselbe Wohltat der Bildung ohne Unterschied Reichen wie Armen zu gewähren. Diese Mädchen brauchten nur ein Examen zu bestehen und zu beweisen, daß sie genug elementare Kenntnisse besäßen, um den Vorlesungen folgen zu können. Die Vorlesungen wurden außerdem von vielen Damen der Stadt besucht, und es fand sich mitunter, daß Großmutter, Tochter und Enkelin zu gleicher Zeit am Lehrtisch saßen. Es wurde dem Wunsche der Professoren Folge geleistet, und oft entspannen sich lebhafte Verhandlungen, so daß die Vorlesungen nie monoton oder ermüdend wurden.

Bei dem Institut befand sich ein Kindergarten und eine Elementarklasse, wo die jungen Mädchen, die Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen werden wollten, praktische Übung fanden. Auch das System des Kindergartens, von dem genialen Friedrich Fröbel erfunden, hatte sich in Deutschland zugleich mit der politischen und religiösen Bewegung rasch entwickelt. Ich hatte davon reden hören, sah es aber hier zuerst in der Praxis und war entzückt davon. Mit der Grundidee Fröbels, daß die Erziehung beinah vom ersten Lebenstage an beginnen muß, stimmte ich ganz überein. Jede Mutter soll daher mit diesen Ideen bekannt sein, um schon von Anfang an das Kind dafür vorzubereiten. Vom dritten bis zum sechsten Jahr nimmt der Kindergarten die Kleinen auf und setzt das Werk der Mutter fort, bis die Elementarklasse beginnt. Daß den Kindergärten nur Mädchen und Frauen vorstehen sollten, daß Fröbel überhaupt die erste Erziehung der Kinder nur weiblichen Händen anvertraut wissen wollte, war wieder für mich ein beglückender Gedanke. An unserer Hochschule war auch ein spezieller Kursus für Kindergärtnerinnen, und diese reizende Bestimmung schien mir ganz besonders anziehend für junge weibliche Wesen zu sein. Psychologisch tief und geistvoll fand ich alle die Grundsätze, die Fröbels System zu Grunde liegen und worin sein eigentlicher Wert besteht, den oberflächliche Beurteiler nur in den kleinen Beschäftigungen und Äußerlichkeiten enthalten glauben: so vor allem die Tendenz, die Selbsttätigkeit und den Schöpfertrieb im Kinde zu wecken, indem man ihm nur Material in die Hände gibt, um selbst zu gestalten und zu schaffen, nicht aber Fertiges, das den Zerstörungstrieb reizt, der ja in den meisten Kindern im Keim vorhanden und oft nur allzu mächtig ist. Ebenso bedeutend fand ich die Wichtigkeit, die er den Bewegungsspielen, durch Rhythmus und Musik geleitet, beilegt, überhaupt alles, was er angeordnet hat mit der Absicht, von klein auf das künstlerische Element im Menschen wach zu rufen und zu nähren, da das allein der Boden wahrer Bildung sein sollte, in dem der Same des Wissens erst die rechten Früchte hervorbringen kann. Meine erste Bekanntschaft mit diesem System war eine wahrhaft beglückende. Später sah ich es oft entstellt in den Händen der Unwissenheit oder des bösen Willens, der den Angriffen gegen dasselbe den Vorwand gab. Wo immer ich es aber in den rechten Händen und im rechten Geist geleitet sah, da fand ich stets die schönsten Erfolge, und mehr als ein Lehrer von Elementarklassen hat mir versichert, daß der Unterschied in der geistigen Empfänglichkeit und Schnelligkeit der Auffassung zwischen den Kindern, die nicht im Kindergarten waren, und solchen, die dort waren, durchaus zum Vorteil der letzteren wäre.

Eine andere beglückende Überraschung wurde mir zuteil, als man mich am Sonntag in die Versammlung der freien Gemeinde führte, die von allen Mitgliedern der Hochschule besucht wurde. Ein großer Saal war einfach und würdig für diese Versammlung eingerichtet; ein zahlreiches Auditorium füllte ihn und folgte mit gespannter Aufmerksamkeit der Rede eines jungen, einfach und bescheiden aussehenden Mannes, der von einer Tribüne herab zu ihm sprach. Die Rede gehörte einer bereits vor meiner Ankunft begonnenen Reihe von Betrachtungen an, in denen der Redner mit der systematischen, wissenschaftlichen Kritik der alten Dogmen die Entwicklung neuer Ideen auf allen Gebieten des menschlichen Lebens, im Staat, in der Gesellschaft, in der Familie verband. Jedes Wort, das er sprach, fand ein freudiges Echo in meiner Brust. Das war das Anbeten im Geist und in der Wahrheit, nach dem ich mich gesehnt hatte; die Religion, aus den Schranken der Kirche befreit, wurde lebendiges, blühendes Dasein, Wesen, Inhalt, und nicht leere, starre Form. Mit Entzücken sah ich den Anteil, mit dem nicht bloß Leute der gebildeten Stände, sondern Menschen aus dem Volk, schlichte Arbeiter, der Rede folgten und sich so mit jenen zu der wahren Gemeinde der geistigen Gleichheit vereinigten. Die Gleichheit im Reiche Gottes war ja bis dahin immer noch eine Lüge gewesen. Das Recht der Bildung und dessen, was den Menschen adelt: der Freiheit des Gedankens gehörte nur auf die eine Seite; so wie sogar in der Kirche, wo man den Vater aller Menschen verehrte, die begünstigten Kinder in reichem Putz auf vornehmeren Sitzen saßen, während die Aschenbrödel sich in ihren Lumpen in die Ecken drängten und mit Angst das so oft unerhörte Gebet murmelten: »Unser täglich Brot gib uns heute.« Hier in dieser Gemeinde war die Religion zu der wahren Soziologie geworden, wo auf dem Grunde allgemeiner humaner Lebensanschauungen die bitteren Unterschiede des Ranges, Reichtums und der vielseitigeren Kenntnisse sich milderten und versöhnten. Das Ideal war nicht mehr in der Vergangenheit als ein absolutes ein für allemal festgestellt; es leuchtete in der Zukunft wie der Stern des Orients und zeigte den Weg.

Nach der Rede begab sich der Redner Weigelt mit Namen in ein anstoßendes Zimmer, wo ein jedes Gemeindemitglied zu ihm gehen, ihn über etwa zweifelhafte Punkte befragen und sich überhaupt mit ihm besprechen konnte. Dort entspannen sich oft noch lebhafte Verhandlungen, die nicht wenig dazu beitrugen, »das Wort« lebendig zu machen und die Gemeindemitglieder untereinander zu verbinden, da alle, Reiche und Arme, da gleichberechtigt waren. Als ich dem Redner vorgestellt wurde, sagte ich ihm, daß seine Rede mir den Wunsch erweckt habe, Mitglied der Gemeinde zu werden; daß ich wohl wisse, daß für diese eine Person mehr oder weniger nichts bedeute, daß es mir aber ebensowohl für Frauen wie für Männer eine Pflicht scheine, in Zeiten des Kampfes, wie die, in welchen wir lebten, die eigne Überzeugung rein auszusprechen und sich denen anzuschließen, die sie teilten. Er gab mir recht; nur riet er mir zu warten und die Sache näher zu prüfen, um nicht einen für meine soziale Stellung wichtigen Schritt übereilt zu tun. Ich folgte seinem Rat und fing damit an, seine Individualität zu studieren. Wenn man ihn vor der Gemeinde sprechen hörte, hatte man ihn für einen Menschen unbeugsamer Energie und von festem, kühnem Charakter halten sollen. Er war aber im Gegenteil von beinah weiblicher Sanftmut, wenig praktisch im gewöhnlichen Leben, scheu und zurückhaltend in Gesellschaft, liebenswürdig im näheren Umgang. In seinen Reden jedoch zog ihn die Logik des Denkens unwiderstehlich fort; dann war er unerbittlich konsequent. Ich widmete ihm bald eine innige Freundschaft, die ihre volle Kraft behalten hat bis auf diese Stunde, obgleich lange Jahre der Trennung zwischen uns liegen und unsere Wege sich wohl nie mehr kreuzen werden.

Nach einiger Zeit ließ ich mich als Mitglied in die freie Gemeinde aufnehmen. Es war dies einfach genug: Man wendete sich an den Verwaltungsrat und wurde dann der Gemeinde vorgeschlagen, die durch allgemeine Abstimmung über die Zulässigkeit der Aufnahme entschied. Danach wurde man in die Register der Gemeinde eingeschrieben und bezahlte einen äußerst geringen jährlichen Beitrag zu den gemeinsamen Ausgaben.

Für mich war dieser Schritt jedoch bedeutungsvoll genug. Er schied mich auf immer von meiner Vergangenheit; ich sagte mich dadurch öffentlich von der protestantischen Kirche los und verband mich einer völlig demokratisch-konstituierten Gemeinschaft. Bald mußte ich die ersten Folgen davon erfahren. Ich war noch ein ganz kleines Kind, als der Fürst meines Geburtslandes einmal kam, meinen Vater zu besuchen, und mich bei ihm fand. Ich weiß nicht, ob ich ihm gefallen hatte oder aus welch anderem Grunde, kurz, er schenkte mir an dem Tage die Anwartschaft auf eine Stelle in dem ersten und reichsten adeligen Fräuleinstifte des Landes, welche Stellen unverheirateten Damen eine angenehme Unabhängigkeit gewähren. Die Prätendentinnen rücken nach der Reihe vor, sobald eine Stelle frei wird. Sonderbarerweise erhielt ich kurze Zeit nach der Aufnahme in die Gemeinde die Anzeige, daß die Reihe an mich gekommen sei, Besitz von meiner Stelle zu nehmen. Meine Mutter bat mich brieflich, nicht eine angenehme Unabhängigkeit durch meine Schuld zu verlieren. Ökonomische Unabhängigkeit war mein heißer Wunsch; ich bedachte ernstlich, ob ich dann nicht eine Schule für das Volk gründen und nach meinen Ansichten organisieren könne. Aber zunächst hätte ich den Schritt rückgängig machen müssen, den ich eben getan hatte, denn als Stiftsdame mußte ich auf das Evangelium schwören, daß ich der christlichen Kirche angehöre. Hätte ich mich aber auch selbst von der Gemeinde wieder trennen wollen, so hätte ich doch nie wieder einer dogmatischen, orthodoxen Kirche angehören können, und es verstand sich von selbst, daß ich die Vorteile jener Stellung nicht mit einer Lüge erkaufen wollte. Ich erwiderte also auf die Aufforderung, mich in Besitz meiner Stelle zu setzen, daß ich aus Überzeugung der freien Gemeinde angehörte, daß ich aber, wenn man mich von jener Formalität entbinden könne, kommen würde, meine Stelle einzunehmen. Man würdigte mich nicht einmal einer Antwort.

Ich blieb bei meinem Vorsatz, nach Amerika zu gehen, und teilte ihn Emilien, dem Professor und seiner Frau mit. Sie hätten mich gern davon abgebracht wegen der Zuneigung, die sich schnell gegenseitig zwischen uns entwickelt hatte, aber sie verstanden meine Gründe sehr wohl und sie waren zu frei, um einem Entschluß, den sie natürlich fanden, entgegenzuwirken. Das Schicksal schien meinen Wünschen zu Hilfe zu kommen. Einige Zeit nach meiner Ankunft bei ihnen kam der Prediger einer freien Gemeinde mit seiner Familie und einigen Freunden dort an, in der Absicht, sich nach Amerika einzuschiffen und drüben eine freie Gemeinde zu gründen. Die Familie war sehr liebenswürdig, und ich beschloß, mich ihnen anzuschließen. Es schien mir, als habe ich zu gleicher Zeit Freunde, Heimat und Zweck gefunden, denn es mußte da viel zu tun geben, und vor allem würde man einer Schule bedürfen. Die Auswanderer erschienen in einer Abendversammlung unserer Gemeinde. Man sprach von der Zukunft der Menschheit, von der Verbreitung der freien Gemeinden diesseits und jenseits des Ozeans, vom Sieg des freien Gedankens und freier Institutionen. Man sagte sich, daß der Ozean jetzt keine Scheidelinie, sondern ein Verbindungsweg sein würde zwischen Brüdern, die in gleicher Weise an der großen Aufgabe arbeiten wollten, den menschlichen Geist immer mehr vom Joch der Unwissenheit und des Aberglaubens zu befreien und die Menschheit durch Arbeit, Wissenschaft und Sittlichkeit zu vereinen. Wie schön waren diese Stunden! Welche großmütige Empfindungen beherrschten alle Herzen! Ich war voll Freude: meine Träume wurden Wahrheit. In dieser Vereinigung von Menschen aller Stände schätzte man sich nicht mehr nach der zufälligen Stellung, die man in der Welt einnahm, sondern nach dem persönlichen Wert eines jeden. Dies erschien mir die wahre, beglückende Frucht der Revolution, und ich freute mich an dem Gedanken, mit von den ersten dieser wirklich edlen Demokratie zu sein, die sich auf beiden Hemisphären bilden sollte.

Ich mußte mich doch entschließen, meine Mutter mit meinem Vorsatz bekannt zu machen, denn ich wollte nicht heimlich gehen. Ich schrieb ihr also, indem ich ihr meinen Plan auf die einfachste und beruhigendste Weise auseinandersetzte. Ich sprach ihr von dem unbekannten Freund, der mich in Amerika erwartete und an dem ich eine Stütze und einen Beschützer fände, sagte, daß sie mich außerdem aber auch zu gut kenne, um nicht zu wissen, daß ich meinen Weg auch allein ruhig und würdevoll gehen werde. Ich flehte sie an zu glauben, daß ich einer tiefen, aufrichtigen Überzeugung folgte, daß meine ganze innere Entwicklung zu diesem Ziele hingedrängt hätte, daß ich nichts täte, als mein Schicksal erfüllen, und daß ich sie bäte, mich zu lieben, so wie ich sie bis zum letzten Augenblick meines Lebens lieben würde. Kurz, meine ganze Seele war in diesem Brief, und ich erwartete die Antwort mit tiefer Bewegung, denn meine Freunde wollten bald fort, und alles mußte sich rasch entscheiden.

Die Antwort kam, traf mich vernichtend und erfüllte mich mit Staunen und Schmerz. Meine Mutter fand meinen Plan nicht nur tollkühn, sondern schuldig. Sie fand es unweiblich, daß ich einem unbekannten Mann mit so viel Vertrauen entgegengehen, und unglaublich, daß ich mich so weit von der Familie entfernen wolle. Ihr Brief war so bitter ungerecht, ich fühlte mich so rein ihren Vorwürfen gegenüber, daß eine gewaltige Empörung mein Herz ergriff. Ich kämpfte einen furchtbaren Kampf mit mir selbst durch und sah mit Haß in jenen Abgrund, in den religiöse und soziale Vorurteile die edelsten Naturen hinabziehn. Ich erkannte mir vollkommen das Recht zu, diese Ketten zu brechen und meinen eigenen Weg zu gehen, sollte ich auch keine andere Billigung finden als die meines Gewissens, und keinen andern Erfolg als den, meine persönliche Verantwortlichkeit behauptet zu haben. Aber – es war meine Mutter, von der mir dieser Schlag kam; von ihr, die mich so geliebt hatte, ehe der Konflikt der Ansichten uns trennte, und die mich noch liebte trotz allem. Das entschied!

Ich antwortete ihr, daß ich stets fähig sei, meine Wünsche ihrer Ruhe zu opfern, daß ich daher meinen Auswanderungsplan aufgebe, daß ich mir aber für ewig die Freiheit meiner Überzeugungen vorbehalte, daß keine Macht der Erde mich darin hindern können würde, und daß ich gerade deshalb geglaubt hätte, es würde ihr weniger peinlich sein, mich in der Ferne nach ihnen lebend zu wissen, als in der Nähe unter ihren Augen.

Der Professor schrieb zu gleicher Zeit meiner Schwester: »Ihre Schwester ist eine Idealistin und will nach ihrem Ideale leben. Man kann ihr von diesem oder jenem Schritt abraten, wenn man ihn unvorsichtig findet, aber man darf die Unabhängigkeit ihrer Handlungen nicht angreifen, und noch weniger die Reinheit ihrer Absichten bezweifeln.« Er zeigte mir den Brief und sprach mir, ebenso wie seine Frau und Emilie, die lebhafteste Sympathie aus. Die letztere machte mir den Vorschlag, im Institut zu bleiben, ihm zusammen mit der Frau des Professors vorzustehen und ganz besonders meinen Einfluß auf die jungen Mädchen, die die Vorlesungen besuchten, geltend zu machen. Sie versicherte mir, daß die Damen des Verwaltungsrats sowie die Professoren fänden, daß ich ein gutes Element in das Leben des Instituts gebracht hätte, daß die Pensionärinnen mir sehr zugetan wären, endlich daß sie selbst fühle, in mir die Freundin gefunden zu haben, die sie für ihr Leben und ihre Tätigkeit brauche. Ich hörte das alles voll Rührung. Zum erstenmal kam mir das Bewußtsein, daß ich eine Individualität geworden war, die eine gewisse Macht ausübte, und dieses tröstende Bewußtsein kam mir gerade in dem Augenblick, in dem ich so tief verletzt worden war, in dem mein Leben wieder dem Zufall anheimgegeben schien, da ich wirklich nicht wußte, was beginnen, weil die Rückkehr in meine Familie mir nun ganz unmöglich war. Ich nahm daher Emiliens Vorschlag mit Dankbarkeit an. Eine Tätigkeit in Übereinstimmung mit meinen Anschauungen – das war es ja, was ich gesucht hatte. Ich hatte sie mir freilich anders suchen wollen, auf einer freien Erde, fern von den schmerzlichen Erinnerungen der Heimat, und ich sah meine auswandernden Freunde nicht ohne tiefe Wehmut ziehen. Aber ich nahm das Opfer an als Sühne für den Schmerz, den ich, ohne es zu wollen, meiner Mutter bereitet hatte.

Ich trat meine neue Aufgabe mit Eifer an und hatte bald die Freude, die jungen Mädchen sich mit Liebe um mich scharen zu sehen. Eine der ersten Maßregeln, die ich einzuführen versuchte, war die Teilung der Arbeit, indem ich das Beispiel gab. Um der Anstalt, die nicht reich war, die Ausgabe, viele Dienstboten halten zu müssen, zu ersparen, brachte ich jeden Morgen mein Zimmer selbst in Ordnung, und bald taten die übrigen Bewohner dasselbe. Nicht nur befand sich die Ordnung des Hauses dabei besser, sondern ein jeder fühlte für sich die gesunde Wirkung einer körperlichen Bewegung und Tätigkeit am Anfang des Tages, die nachher die Sammlung bei der geistigen Arbeit doppelt genießen ließ. Außerdem beschlossen wir Einwohnerinnen des Instituts, unsere feine Wäsche selbst zu waschen, um so wieder eine Ausgabe zu ersparen. Einmal die Woche standen wir dann im Garten fröhlich um einen Waschtrog, und während die Hände Wäsche rieben, besprachen wir Gegenstände aus den Vorlesungen, oder sonst irgendwelche wichtige Fragen, die durch letztere angeregt waren. Die schönste Folge überhaupt dieses Zusammenlebens war das totale Verschwinden aller kleinlichen Interessen, aller Klatschereien und Eitelkeiten, die sonst nur zu oft das Zusammensein von Frauen bezeichnen und ihnen mit Recht vorgeworfen werden. Unser Leben war zu schön erfüllt, um der Frivolität noch Raum zu lassen. Wir taten die gröbere Arbeit, weil es zum Vorteil der Anstalt diente, die unser aller höchstes, geistiges Interesse war, und wir fühlten uns nicht dadurch gedemütigt, weil die niedrigste Arbeit, wenn sie eine Pflicht ist, den Menschen ehrt. Aber wir legten dieser Arbeit auch nicht mehr Wichtigkeit bei, als sie verdiente, denn wir hatten etwas Besseres in unserem Leben, das uns neue Horizonte öffnete und uns in uns selbst die Fähigkeit der Frau zeigte, eine neue, edlere Stellung im Leben einzunehmen. Ich sah die schönsten Veränderungen in den Charakteren der Schülerinnen vor sich gehen. Mehr als eine Mutter erkannte dankend an, wieviel harmonischer und edler ihre Töchter würden; viele der begabtesten Schülerinnen, denen bisher alle häusliche Beschäftigung und Handarbeit ein Greuel gewesen war, suchten diese jetzt einfach mit der geistigen Arbeit zu vereinen; die Leichtsinnigen wurden ernst, die Faulen fleißig; es war eine Strömung, die sie alle zum Guten fortriß.

Die Lehrer, die anfangs so ungläubig gewesen waren, wurden immer begeisterter für ihre Aufgabe. Sie fanden eine viel regere Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit unter dem weiblichen Auditorium, als sie je unter dem männlichen gefunden hatten, und die Fragen, mit denen man sie meist noch nach den Stunden bestürmte, zeigten ihnen, daß sie nicht ins Leere gesprochen hatten.

Das Leben des Instituts beschränkte sich indeß nicht bloß auf die Vorlesungen und das häusliche Zusammensein. Einmal in der Woche war auch eine gesellige abendliche Vereinigung. Auch hier herrschte ein neuer, belebter Ton: Freiheit ohne Ausgelassenheit, Geist ohne Affektation. Die Jugend umgab das Alter, um zu lernen durch Fragen und Hören. Die Bedeutenden gaben sich willig den Gesprächen hin, in denen man von ihnen mit Ehrfurcht das Beste verlangte, was sie zu geben hatten. Ausgezeichnete Fremde, die durch Hamburg kamen, ließen sich an diesen Abenden einführen, und es kam mehr als einmal vor, daß Literaten und Dichter ihre geistigen Produkte da vorlasen, ehe sie noch dem größeren Publikum übergeben wurden. Besonders schön waren die allgemeinen Besprechungen, die von Zeit zu Zeit über wichtige soziale Fragen stattfanden. Jemand aus der Gesellschaft stellte die Frage von seinem Gesichtspunkt aus hin, und nun entspann sich die Diskussion, an der sich alle beteiligen konnten, und bei der sich die Frauen und Mädchen, auch die schüchternsten, endlich gewöhnten, ihre Ansicht auszusprechen, und sich so von der falschen Scham zu befreien, durch die so manches gute Wort oft ungesagt oder mancher noch unklare Gedanke unentwickelt bleibt.

Trotzdem mein Leben im Institut schon erfüllt genug war, so besuchte ich doch auch regelmäßig die Vereinigungen der Gemeinde am Sonntagmorgen und einmal die Woche abends. Diese letzteren waren der Geselligkeit und der Besprechung der Gemeindeangelegenheiten gewidmet. Die Arbeiter und ärmeren Gemeindemitglieder kamen dahin mit ihren Frauen und Kindern und saßen an denselben Tischen mit den Begüterten und sozial höher Gestellten. Man sprach zusammen wie unter Gleichgestellten über politische, religiöse, wissenschaftliche Dinge, und die Frauen nahmen lebhaften Anteil an allem. Derjenige Gegenstand, der die Gemeinde damals am meisten beschäftigte, war die Gründung einer konfessionslosen Gemeindeschule. Es sollte eine Kommission, aus drei Männern und drei Frauen bestehend, ernannt werden, um die Schule zu organisieren. Die Wahl wurde durch allgemeines Stimmrecht der Männer wie der Frauen bestimmt. Als die Zettel aus der Urne gezogen und die Namen verlesen wurden, kam der meine so oft vor, daß ich ganz beschämt war, denn obgleich ich bereit war, alles zu tun, um nützlich zu sein, hatte ich doch noch immer eine große Schüchternheit, sobald es galt, irgendwie öffentlich aufzutreten. Als unser lieber Prediger mir anzeigte, daß ich gewählt war, hätte ich es fast lieber abgelehnt, da ich mir auch noch nicht genug praktische Kenntnisse zutraute für die Organisation eines solchen Werks. Aber das freundliche Zureden von allen Seiten bestimmte mich, ein Vertrauen anzunehmen, das ich bis jetzt noch durch nichts zu verdienen Gelegenheit gehabt hatte. Meine beiden weiblichen Kollegen waren Frauen von großem Verdienst und vieler Erfahrung. Der Prediger, ein anderes Gemeindemitglied und unser Professor vom Institut bildeten die andere Hälfte des Komitees. Diese neue Aufgabe ward mir sehr lieb, denn ich konnte dabei viele praktische Kenntnisse erwerben und noch andere Ansichten verwirklichen helfen als in der Hochschule. Die Schule sollte selbsterhaltend werden, aber es wurde einstimmig beschlossen, das Schulgeld nach den Mitteln der Eltern zu bestimmen, denn es schien uns gerecht, daß der Reiche mehr für die Erziehung seines Kindes zahle als der Arme, daß diesem aber dieselben Vorteile der Bildung zugute kämen wie jenem. Man überließ es der Unparteilichkeit der Kommission und der Ehrlichkeit der Eltern, über diesen Punkt bei der Annahme von Schülern zu bestimmen. Ein zweites wichtiges Prinzip, das uns zu langen Erörterungen und ernstlichen Erwägungen führte, war das des gemeinsamen Unterrichts für Knaben und Mädchen. Es wurde endlich entschieden, es nur in den Elementarklassen durchzuführen, die höheren Klassen aber zu trennen, den Mädchen jedoch genau denselben Unterricht zu erteilen wie den Knaben. Die Religion wurde völlig aus den Unterrichtsgegenständen ausgeschlossen, indem man es den Familien überließ, hierfür im Hause je nach persönlichen Ansichten zu sorgen. Die Schule sollte nur unterrichten und das sittliche Gefühl wecken durch wahre Bildung, durch humane Anschauungen und Vorführung edler Beispiele und durch die Hinweisung auf die Pflichten des Individuums in Familie, Gesellschaft und Staat.

Ich beteiligte mich endlich auch an dem großen Armenverein, der ebenfalls von den unermüdlichen Stifterinnen der Hochschule gegründet war und außerordentlich viel Gutes tat, indem er nicht bloß Almosen austeilte, sondern durch reichlich belohnte Arbeit das moralische Gefühl der Armen belebte und durch persönliche Teilnahme an ihren Schicksalen sie aus der Isolierung des Elends heraushob. Ich bekam auch meine Anzahl armer Familien zu besuchen. Welches namenlose Elend sah ich da in der reichen, üppigen Stadt – welche tiefe moralische Versunkenheit! Eines Tages kam ich, ohne es vorher zu wissen, durch eine Straße, die fast nur von Prostituierten bewohnt ist. Ich sah deren mehrere an den offenen Fenstern oder vor der Tür, in der entsetzlichsten Wahrheit des Tageslichts, wenn die Schminke und der verhüllende Flitter abgestreift sind. Es war das erste Mal, daß ich solche traurige Geschöpfe sah, und ein unnennbares Mitleid mit den Unglücklichen, die durch Armut und die Sitten der Gesellschaft in den Abgrund stürzen, überflutete mein Herz. Wie empört aber wurde ich, als ich hörte, daß diese Unseligen eine Taxe an die Stadt bezahlen müssen, um ihre scheußliche Bestimmung ausüben zu können. Also profitiert der Staat von der Erniedrigung der Frau, von diesem schwarzen Flecken der Gesellschaft, von dieser Todsünde des öffentlichen Lebens! Mich ergriff ein glühender Wunsch, meine Anstrengungen nach dieser Seite hinzuwenden, und jenen Armen die neue Moral: daß die Arbeit den Menschen ehrt, statt ihn zu erniedrigen – zu predigen. Aber ich sah ein, daß auch für diese Reform der Boden erst bereitet werden mußte durch die Verwirklichung des Prinzips der ökonomischen Unabhängigkeit der Frau mittelst einer bessern Erziehung. Die Lösung der Frage konnte auch hier nur, wie überall, aus dem Grunde der Dinge selbst hervorgehen. Wie sollte man sonst eine moralische Revolution, die so tief in das Innerste des menschlichen Lebens eingriff, in Staaten hervorbringen, die die Unsittlichkeit beschützen und alle Infamie auf die Opfer des Elends und der Sklaverei zurückwerfen, während die wahren Missetäter vielleicht mit unter denen sitzen, die den Staat regieren und die Gesetze machen helfen.

So ausgefüllt, wie nun mein Leben war, blieb mir keine Zeit mehr zu vergeblichem Trauern und bitteren Betrachtungen. Ich lebte ein Leben in Übereinstimmung mit meinen Grundsätzen, und meine praktischen Fähigkeiten wuchsen mit deren freier Ausübung. Ein tiefer Friede war in meinem Herzen, und eines Abends, als ich, wie es meine Gewohnheit war, vor dem Schlafengehen am Fenster stand und, in die stille Nacht hinaussehend, mein Tagewerk und überhaupt mein vergangenes Leben prüfte, sagte ich mir selbst: Ich bin wieder glücklich.

Zu dieser Zeit brachte mir ein Brief der »Kleinen« die Nachricht, daß, auf die Bitten des Vaters und die Verwendung einflußreicher Personen, besonders aber auch aus ernsten Gesundheitsrücksichten, ihrem Bruder die Hälfte der Strafzeit erlassen wäre, und daß man ihn, nach anderthalb Jahren Gefängnis, zu Haus erwartete. Dann erfuhr ich, durch einen Brief meiner Schwester, daß er angekommen war, und daß die Familie außerdem den Besuch einer jungen Dame hätte, die, wie man sagte, den glücklich Befreiten heiraten werde. Ich wußte, wer es war: die Schreiberin der schönen Briefe an den Gefangenen. Ein Schatten glitt durch diese Nachrichten über die stille Klarheit in meinem Herzen. Aber ich hatte zu gleicher Zeit die Freude, der Anstalt eine neue Pensionärin anzeigen zu können. Meine Freundin Anna aus B. schrieb mir, daß alles, was ich vom Leben der Hochschule berichte, sie so sehr anzöge, daß sie, die ganz Unabhängige, beschlossen hätte, zu kommen und ihr Leben dort auch nützlich zu machen. Sie kam, nachdem sie bei der »Kleinen« zu Besuch gewesen war. Sie hatte Theodor dort kennen gelernt und war auch hingerissen von seinem edlen Wesen. Ich fragte nach der Heirat. Da erzählte sie, daß davon keine Rede mehr wäre, indem jenes Mädchen, so ausgezeichnet und bedeutend in ihren Briefen, doch in der persönlichen Erscheinung so wenig anziehend wäre, daß das Ideal, das sich Theodor im Gefängnis von ihr gemacht hätte, in argem Widerspruch mit der Wirklichkeit stände, und daß, wenn schon Freundschaft und Achtung im höchsten Grade blieben, die Liebe sich nicht hinzugesellt hätte. Nach ihrer Abreise war Theodor in ein Seebad gereist, da seine Gesundheit in bedenklicher Weise durch die lange Haft angegriffen war. Diese letzte Nachricht betrübte mich tief, aber die erste gab mir eine gewisse Befriedigung. Nicht, daß ich geglaubt hätte, das zerrissene Band könnte sich je wieder knüpfen, aber – so schwach ist das menschliche Herz! – ich sah es mit einer Art von Freude, deren ich nicht Herr werden konnte, daß keine der Neigungen, die er seit unserer Trennung empfunden hatte, sein Wesen so ganz in Besitz genommen, so ausgefüllt hatte, wie es einst mit der Liebe zu mir der Fall gewesen war.

Die Vorbereitungen für die Gemeindeschulen waren so weit fertig, daß nunmehr zu der Wahl der Lehrer und Lehrerinnen geschritten werden mußte. Es waren viele Bewerber beiderlei Geschlechts da. Die Kommission hatte sie vorgeschlagen, die Gemeinde hatte zu entscheiden. Zu dem Zweck hatten die Bewerber vor der Gemeinde ihre Ansichten über die Schulen freier Gemeinden zu entwickeln und dann eine Probestunde in einer hierzu versammelten Klasse zu geben. Wie groß war meine Überraschung, als ich einen Brief von der »Kleinen« erhielt, worin sie mir anzeigte, daß ihr Bruder den Wunsch habe, sich um die erste Lehrerstelle für die oberen Klassen zu bewerben. Das Feld literarischer Tätigkeit war ihm verschlossen, da das Wort nicht mehr frei war; der Staatsdienst unter der Reaktion war unmöglich, so blieb ihm nur die Tätigkeit in den freien Gemeinden, denen er ja seinen Ansichten nach längst angehörte. Es bewegte mich tief, daß er sich, sozusagen, an mich wandte, um sich eine neue Zukunft zu schaffen; aber ich war fest entschlossen, ihn mit der Ruhe einer Seele zu empfangen, die durch sich selbst ihr Gleichgewicht wiedergefunden hat. Ich antwortete der »Kleinen«, ihr Bruder möge zum Konkurs kommen, ich zweifle nicht, daß er den Sieg davontragen werde.

Meine Freundin Anna hatte sich mehr und mehr an mich angeschlossen. Ich liebte sie auch zärtlich, aber ich hatte zu viele Pflichten auf mich genommen, um mich ihr so ausschließlich widmen zu können, wie ihre Natur es verlangte. So kam es, daß sie sich mit großer Zärtlichkeit einem jungen Mädchen zuneigte, die seit kurzem in der Hochschule war und die sich mit leidenschaftlicher Hingebung an sie anschloß. Charlotte, dies war ihr Name, wurde bald wie der Schatten von Anna, und man sah nie eine ohne die andere. Anna war seit einigen Tagen leidend, und Charlotte wich nicht von ihrem Bett. Ich hatte am Nachmittag ausgehn müssen, um meine Armen in entfernten Stadtteilen zu besuchen, und kam erst am Abend, müde und betrübt vom Anblick so vieler Leiden, zurück. Das Dienstmädchen sagte mir, es wäre ein fremder Herr oben bei Anna. Ich erriet sogleich, wer es sei, und konnte mich einer tiefen Erregung nicht erwehren. Aber ich faßte mich gewaltsam und trat mit Ruhe in das Zimmer. Im Halbdunkel des Krankenzimmers sah ich jemand an Annas Bett sitzen. Ich erkannte ihn nur zu wohl. Er erhob sich, mich zu begrüßen. Ich hieß ihn ruhig willkommen, und wir sprachen miteinander wie alte Bekannte. Aber je ruhiger ich äußerlich war, um so bewegter war ich im Innern. Ich hatte ihn seit dem Tage des Begräbnisses seiner Mutter nicht wiedergesehen, und zwischen dem Tag und diesem Augenblick des Wiedersehens lag seine Gefangenschaft, lag mein Scheiden aus der Familie, und wie viele bittere, traurige Kämpfe! Seine Gegenwart ließ mich fühlen, daß die Liebe zu ihm noch nicht erloschen war, aber ich hatte wieder genug Macht über mich gewonnen, um gewiß zu sein, daß er nie etwas anderes bei mir finden werde, als die anerkennende Freundschaft, die seine herrlichen Eigenschaften verdienten.

Er verband sich schnell aufs wärmste mit unserem Prediger, der mit Freude erfuhr, daß er der Verfasser jenes Buchs gegen das kirchliche Christentum war, das ich früher erwähnt habe und das er zu der Zeit unserer innigsten Neigung geschrieben hatte. Der Prediger sagte, daß dieses Buch einen großen Einfluß auf ihn gehabt hätte. Auch Emilie kannte es und war glücklich, den Autor kennen zu lernen.

Theodor war zunächst nur auf einige Tage gekommen; er wollte erst sehen, ob unser Leben ihm genug gefiele, um sich ihm anzuschließen. Während dieses kurzen Aufenthalts war er freundschaftlich frei und aufmerksam gegen mich. Die Welt schien mir aufs neue schöner, beleuchtet von den Strahlen seines Geistes, und es war mir, als ob die Gemeinschaft mit dieser reichen poetischen Natur das Leben anziehender machen würde, auch wenn sein Herz nicht mehr mir gehöre.

Er ging zurück, seine Sachen zu ordnen, um ganz wiederzukommen. Während der Zeit bemühte ich mich auf das äußerste, seine Wahl in der Gemeinde vorzubereiten, indem ich von ihm erzählte, von dem, was er schon für seine Überzeugungen gelitten, und von der glänzenden Begabung als Lehrer, die ich ihm zutraute. Als er zurückkam, war der Boden schon vorbereitet. Emilie, deren Haus ein paar Schritt weit vom Institut lag, hatte ihn gastlich bei sich aufgenommen. Er kam beinah jeden Tag zu uns, wohnte mehreren Vorlesungen bei und verbrachte meist die Abende im Kreise der Hochschule. Der Prediger hatte ihn gebeten, sich der Gemeinde vorzustellen, indem er Sonntags an seiner Statt zu ihr rede. Es war für mich ein wehmütig lieber Eindruck, ihn wieder vor einer Gemeinde reden zu sehen, wie ich ihn einst gesehen hatte in erster Jugendbegeisterung, als er und ich uns noch nicht von der Tradition losgesagt hatten. Damals sprach er zu einem christlichen Auditorium, jetzt zu einer freien Gemeinde, und wir, die wir einer durch den andern Freidenker geworden waren, trafen uns, nach so langer, schmerzlicher Trennung, darin vereinigt zu einem gemeinsamen Werk.

Seine Rede war schön und machte einen großen Eindruck. In ihr empfand man nicht mehr die poetische Glut des jungen Apostels von ehedem, der ein entferntes Ideal in den Wolken sah und von dem Reich Gottes auf Erden sprach; es herrschte vielmehr in ihr die Ruhe des geprüften Mannes, der die furchtbaren und praktischen Mächte kennt, mit denen der ideale Gedanke zu kämpfen hat, und bereit ist zu der Arbeit der Entsagung, die nötig ist bei dem langsamen Gang des wirklichen Fortschritts.

Der Tag der Lehrerwahl kam. Die Unterlehrer und Lehrerinnen waren bereits gewählt; es blieb nur noch die Wahl des ersten Lehrers übrig, der zugleich Mitglied des administrativen Ausschusses, zu dem auch ich gehörte, werden sollte. Die Wahl geschah am Abend, und die Gemeinde hatte sich beinahe vollständig eingefunden. Auf der Tribüne, wo die Redner standen, saß auch unser Komitee, und vor uns stand die Urne, die die Stimmzettel empfangen sollte. Zwei andere Bewerber kamen zunächst, lasen ihre schriftlichen Arbeiten über die Bestimmung und Organisation einer freien Schule, und gaben ihre Probestunde mit einer zu diesem Zweck versammelten Kinderklasse. Sie wurden beide mit großem Beifall von der Gemeinde belohnt, so daß ich schon etwas Angst bekam, ob Theodor die Stimmenmehrheit haben würde. Nun kam er und las seinen Aufsatz, in dem die Frage über die Aufgabe der freien Schule vollkommen gelöst war, in idealer und in praktischer Weise zugleich. Solche Schulen, wie er sie beschrieb, würden, wenn einmal überall eingeführt, die wahre Revolution machen, d. h. die sittliche und geistige Umwälzung, die die Völker zur Selbstregierung und zu der Erfüllung ihrer Pflichten, die die wahre Grundlage der sozialen Existenz sind, führen würde. Wir alle empfanden, daß hier das Höchste gesagt war, was sich über den Gegenstand sagen ließ; der Prediger nickte mir mit freudigem Lächeln zu. Die Probestunde entsprach der Vorlesung. Die Kinder, die ihn nie gesehen hatten, waren ganz aufgeregt vor Freude und wollten gar nicht aufhören. Die Stimmzettel wurden nun in die Urne geworfen; der Prediger las und zählte sie. Ich sah das Resultat schon an seinem frohen Ausdruck. Er erklärte Theodor mit großer Majorität gewählt. Dieser selbst schien sehr glücklich; er hatte aufs neue eine Bestimmung, einen Beruf.

In derselben Woche wurde die Schule eröffnet. Es blieb jetzt nur übrig, für Theodor das Bürgerrecht zu erhalten, denn er wurde in dieser deutschen Stadt, die aber ihre besondere Regierung hatte, wie ein Fremder angesehen.

Neben diesen Erfolgen aber bereiteten sich im intimen Leben der Hochschule selbst peinigende und bitter schmerzliche Verhältnisse für mich. Anna und Charlotte führten mehr und mehr ein exklusives Leben, das nicht ganz zu den eigentlichen Zwecken der Hochschule stimmte. Sie zogen sich fast ganz auf Annas Zimmer zurück, und dahin kam nun auch Theodor jeden Abend, wo die beiden ihn mit allen Aufmerksamkeiten umgaben, die die Verhältnisse gestatteten. Ich hatte von lange her die Gewohnheit, eine Stunde bei Anna zuzubringen, ehe wir uns zu den gemeinschaftlichen Abendvereinigungen der Bewohner der Anstalt begaben. Auch jetzt folgte ich dieser Gewohnheit; ich traf dort Theodor und es wäre mir nun eine Freude gewesen, dem intimeren Gespräch, das der Reiz seines Geistes beherrschte, beizuwohnen, wenn von allen Seiten einfaches, unbefangenes Benehmen stattgefunden hätte, und wenn man nach dem Privatgespräch auch zur rechten Zeit der Pflicht gegen das gemeinsame Leben genügt und in den Salon zu den übrigen Hausbewohnern gekommen wäre. Dem war aber nicht so, und es gab mir eine bittere, traurige Empfindung, zu bemerken, daß Anna und Charlotte – sie, die die Vergangenheit kannten – anstatt liebevoll zu vermitteln und auf die noch immer im Grunde des Herzens unvernarbte Wunde den Balsam einer tröstenden, freundschaftlichen Gemeinschaft zu legen, wie ich sie angebahnt hatte, nun sich so benahmen, daß meine Besuche in Annas Zimmer wie etwas Besonderes, ihm Geltendes aussahen. Es entstand dadurch bald ein Mißton in diesem intimen Zusammensein, der mich tief verletzte, mich, die ich so viel schon vergeben hatte und gar keinen persönlichen Anspruch mehr machte. Ich unterließ fortan öfter meine Besuche bei Anna, arbeitete allein auf meinem Zimmer oder vereinte mich früher mit den übrigen Hausbewohnern, die bereits anfingen Klage zu führen über den Koteriegeist, der von den zwei Freundinnen eingeführt wurde; aber es war ein neues schmerzliches Entbehren und eine harte Erfahrung in Beziehung auf Anna und Charlotte, die mir sogar Besuche, die sie Theodor machten, verheimlichten.

Der Schluß des Jahres war da. Wir hatten ein wahrhaft demokratisches Fest zur Feier des Silvesterabends veranstaltet. Mehrere Arbeiterfamilien, der Gemeinde zugehörend, waren dazu gebeten worden. Beim Abendessen saß ich neben einem Tischler, den ich schon länger kannte und hochschätzte. Er war ein charaktervoller, denkender, gebildeter Mann, hatte lange Zeit in Paris gearbeitet, war ein Freund Börnes gewesen, hatte dessen Vorlesungen an die deutschen Arbeiter beigewohnt und an seinem Sterbebette gestanden. Als Börne ihn fragte, ob er glaube, daß die deutschen Arbeiter ihn verstanden hätten, hatte er dem Sterbenden mit einem zuversichtlichen Ja geantwortet. Nach seiner Vaterstadt zurückgekehrt, lebte er für die Propaganda der Freiheit und zeigte durch sein Beispiel, was der Arbeiter bei seinem Handwerk für seinen eigenen Fortschritt und den der andern leisten kann. Es war mir stets eine Freude, mich mit diesem Menschen von hellem Verstande und warmem Herzen zu unterhalten. Seine Frau, eine feurige Republikanerin, war seiner wert. Als man im Jahre 1848 ihren Mann aus politischen Gründen in das Gefängnis gesetzt hatte, war sie zu der obersten Behörde gegangen und hatte seine Freiheit verlangt, »nicht als eine Gnade, sondern als ein Recht, da er unschuldig ist«, wie sie sagte. Solche Menschen gab es damals unter den deutschen Arbeitern.

Nach dem Abendessen las Theodor uns die »Albigenser« von Lenau vor. Diese schöne Dichtung, die ein großes Martyrium erzählt, berührte dieselbe Saite in uns allen. Ich war aber doppelt davon ergriffen, da ich sie von jener melodischen Stimme vortragen hörte, die so oft mein Herz bewegt hatte, und das edle bleiche Antlitz dabei sah, das einem jener Märtyrer anzugehören schien, deren Geschichte er uns las. Als er geendet hatte, trat ich in das anstoßende leere Zimmer, um meiner Bewegung Herr zu werden. Ich hörte mir jemand folgen, und als ich mich umwandte, sah ich, daß er es war. Wir sahen uns einen Augenblick lang an, und in diesem Blick lag die Anerkennung eines Bandes, das höher ist als die Liebe, und das die Menschen auf ewig, über Raum und Zeit hinaus, vereint: die Liebe zum Ideal. Worte waren da überflüssig; andere Menschen kamen hinzu; aber von diesem Augenblick an war mir die Bitterkeit, die sich in unsere Beziehungen eingeschlichen hatte, verschwunden, und es blieb nur ein stiller, wehmutsvoller Friede.

Einige Zeit nach Neujahr kam die Antwort auf Theodors Anfrage um das Recht, in Hamburg bleiben und ein bürgerliches Amt ausüben zu können. Sie lautete verneinend. Man gab vor, daß hohe politische Rücksichten einen längeren Aufenthalt und die Ausübung einer bürgerlichen Tätigkeit für einen Mann, der des Hochverrats angeklagt gewesen sei, unmöglich machten. Der Befehl, das Gebiet der Stadt baldmöglichst zu verlassen, war hinzugefügt. Wir waren alle schmerzlich betroffen. Die Gemeinde war in großer Aufregung. Es war dies das erste Signal, daß die Gefahr herannahte; daß die Reaktion diese kleinen Zentren, in denen eine Freiheit herrschte, die man nirgends mehr dulden wollte, mißgünstig ansehe. Es war sicher, daß die kleine, unbedeutende Regierung der freien Stadt Hamburg diese abschlägige Antwort nicht erfunden hatte. Man hatte bei einem größeren Staat, dem, in dem Theodor sein Verbrechen begangen hatte, angefragt und war dem von dort erhaltenen Gebot gefolgt. Die einflußreichsten Männer der Gemeinde taten alle möglichen Schritte, boten jedwede Garantie – umsonst. Auch ich entschloß mich zu einem verzweiflungsvollen Versuch. Ich ließ bei dem damaligen Haupt des Freistaats um eine Audienz nachsuchen und erhielt sie. Es war dies ein süßlich höflicher, kleiner Greis. Ich sagte ihm, in welcher Angelegenheit ich komme, und daß ich mehr persönliche Garantien geben könne, als alle andern, da ich die hochgeachtete Familie Theodors genau kenne, da ich bestimmt wisse, wie fernab für jetzt jeder Gedanke an Beschäftigung mit Politik von Theodors Seele liege, und daß er nur daran denke, sich dem Unterricht der Jugend zu widmen. Der kleine Greis erwiderte mir darauf mit einem schlauen Lächeln, daß dies jetzt vielleicht bedenklicher sei, als alles andere, da man beim Unterricht erst recht die Mittel habe, seine Ideen zu verbreiten. Dann nahm er eine Miene des Wohlwollens an und sagte: »Ich versichere Ihnen, daß die Schwierigkeiten nicht von uns herkommen. Man hat einmal von uns gesagt, daß wir kein väterliches, sondern ein mütterliches Gouvernement sind; wir würden nichts abgeschlagen haben. Gewichtige Rücksichten bestimmen uns, und ich muß Ihnen leider sagen, daß gar keine Hoffnung ist.«

So mußte ich denn diesen mütterlichen Greis verlassen und tief traurig nach Hause gehen. Emilie hatte auch ihrerseits alles Mögliche versucht – ebenfalls umsonst.

Theodor war schwer von dem Ereignis betroffen. Er sprach wenig darüber, aber man sah wohl an seinem bitteren Lächeln, an seiner tödlichen Blässe, daß er erst jetzt ganz seine Lage begriff. Das Vaterland war ihm verschlossen, die letzte Tätigkeit ihm unmöglich gemacht. Was blieb? – das Exil. Mit seinen Fähigkeiten und in der Blüte des Lebens wäre das noch nicht das größte Unglück gewesen, aber dieser unerwartete Schlag verriet plötzlich einen solchen Grad eines physischen Leidens, dessen Keim sich wohl im Gefängnis gezeigt hatte, das aber weder er selbst noch seine Freunde schon so weit entwickelt geglaubt hatten, daß an Auswanderung vorerst nicht zu denken war. Von Hamburg jedoch mußte er fort, denn alle Vorwände, die wir erfanden, um ihn noch bleiben zu machen, mußten doch schließlich ein Ende nehmen, und so erschien es als das Nötigste, zunächst an seine Gesundheit zu denken und ihr eine längere Pflege zu widmen. Er entschied sich für eine Kaltwasserheilanstalt im Norden, eine Tagereise weit von Hamburg, wo ein Charlotten bekannter Arzt war, der eines großen Rufs genoß. Theodor sagte der Schule Lebewohl und hatte die Befriedigung, sein Scheiden lebhaft von seinen Schülern beklagt zu sehen; dann ging er, und ich fühlte aufs neue eine unausfüllbare Lücke in meinem Leben. Als nach einiger Zeit gar keine Nachricht von ihm kam, entschied ich mich, ihm zu schreiben, und sagte ihm, daß er mir zu viel Achtung und Freundschaft schuldig sei, um in diesem wahrhaft schuldvollen Schweigen zu beharren, und mir nicht von Zeit zu Zeit Nachricht über sein Ergehen zu geben, da er wisse, welchen uneigennützigen Anteil ich für immer an seinem Schicksal nähme. Diesmal antwortete er, wie es sein mußte, mit freier, offener Freundschaft. Von da an war unser Briefwechsel hergestellt, aber die Nachrichten, die er mir über seine Gesundheit gab, waren wenig befriedigend. Ich schrieb heimlich an den Arzt der Anstalt und bat ihn, mir die volle Wahrheit seiner Ansicht über den Zustand des Kranken zu sagen. Seine Antwort lautete: »Da Sie die Wahrheit zu wissen verlangen, so muß ich Ihnen sagen, daß ich Ihrem Freunde nicht einmal mehr Jahre des Lebens verbürgen kann. Es kann nur noch von der mehr oder minder raschen Entwicklung des Übels zu dem unabweisbaren Ende die Rede sein.«

Ich blieb lange Zeit mit diesem Brief in der Hand, ohne daß ich wagte, die furchtbaren Worte noch einmal zu lesen. Endlich ging ich allein hinaus, einen einsamen Weg längs eines Baches, der unter frischgrünen Büschen und Bäumen dahinfloß. Der Frühling war in seiner vollen Pracht, Blumen blühten und dufteten, Vögel sangen fröhliche Chöre in den Zweigen. Ich allein wandelte in dieser lachenden Natur wie eine Verurteilte, mit unerträglichen Ketten Belastete. Die Zeit war auf immer vorbei, wo ich einen Trost darin gefunden hatte, mich anderen anzuvertrauen. Ich hatte mich gewöhnt, allein mit dem Schicksal zu bleiben; nur die Natur, von früh auf meine intimste Freundin, konnte ich auch jetzt fragen: »Ist es sein letzter Frühling?« Und da die Hoffnung schwieg, so fielen stille Tränen in den Bach und wurden von ihm fortgetragen in die geheimnisvolle Ferne, in der sich alles verliert: Jugend, Liebe, Hoffnungen, Leiden, und zuletzt – die Individualität selbst.

Es mußte ein anderer Lehrer an Theodors Stelle gewählt werden. Ich schlug dem Komitee den »Demokraten« vor, jenen edlen Freund, mit dem ich stets in Briefwechsel geblieben war. Ich wußte, daß er keine Stelle hatte, da er ein zu entschiedener Republikaner war, um unter der Reaktion zu dienen. Man ging auf den Vorschlag ein; ich schrieb ihm; er nahm mit Freude an, kam, wurde erwählt, und da er nie öffentlich kompromittiert gewesen war, gab es keinen Vorwand, ihm die Erlaubnis zum Bleiben zu verweigern. So war denn wieder ein treuer Freund mehr in meiner Nähe, und bald hatte ich die große Freude, ihn sich einem vortrefflichen, hochgebildeten Mädchen, die seit einiger Zeit in der Hochschule war und mit mir dieser vorstand, zuneigen zu sehn. Sie erwiderte seine Neigung, und gegen Ende des Sommers feierten wir mit innigem Anteil ihre Verlobung. Dieser Sommer war überhaupt, abgesehen von dem schmerzlichen Geheimnis, das ich im Herzen bewahrte, in geistiger Beziehung sehr schön. Ein neuer Professor war zu Vorlesungen an der Hochschule gewonnen worden, ein ebenso geistig bedeutender wie liebenswürdiger Mann. Er hielt uns Vorlesungen über Geologie und Chemie. Bei dem völligsten Positivismus in der Wissenschaft war er doch eine tief poetische Natur, und wenn er uns von dem Kohlenstoff-Atom erzählte, das durch die Ewigkeit der Materie wandert, um sich bald zu dem Gehirn des Genius, der Unsterbliches schafft, bald zu dem Blütenkelch, der Duft ausströmt, mit anderen Stoffen zu verbinden, so schilderte er das in einer Weise, die uns alle zur Begeisterung hinriß. Eine Welt neuer Gedanken öffnete sich mir. Ich glaubte endlich die Lösung der Fragen nach dem Grund der Dinge zu erblicken. »Die Ewigkeit der Materie«, dieses Wort erschreckte mich nicht mehr – mich, die ich nicht mehr an die persönliche Unsterblichkeit glaubte. Ein ewiges Prinzip schien mir nun gesichert, und die Materie, die durch die christliche Anschauung so tief gedemütigt war, erstand aus ihrem verachteten Grabe und rief siegend: »Ich bin der ewige Grund, und das Individuum ist nur eine vorübergehende Äußerung meiner Ewigkeit.«

Ich schrieb weitläufige Berichte über diese Vorlesungen an Theodor, um ihn der Freude, die sie mir gaben, teilhaftig zu machen. Als aber die Herbstferien für Hochschule und Gemeindeschule kamen, fühlte ich mich sehr ermüdet und beschloß, etwas für meine Gesundheit zu tun. Ich war seit jenem Aufenthalt in Ostende vollständig der Hydrotherapie zugetan und hatte alle Medizin verbannt. Unser Arzt in Hamburg gehörte derselben Richtung an und verordnete mir eine Kur in jener Anstalt, in der sich Theodor befand. Ich ging mit Freude darauf ein, da ich, wissend, was ich wußte, eine tiefe Sehnsucht hatte, ihn noch einmal wiederzusehn. Anna und Charlotte rieten mir von dem Aufenthalt ab; ich hatte beschlossen, mein trauriges Geheimnis niemand zu sagen; auch hatte der Arzt mich um strenge Diskretion gebeten. Ich konnte ihnen also meinen geheimen Grund nicht erklären; aber, im Angesicht der ewigen Trennung, was lag mir denn auch an den müßigen Skrupeln, selbst der nächsten Freunde?

Ich reiste ab, nach jener Anstalt, die an einem kleinen See ländlich und hübsch gelegen ist. Ich kam um Mittagszeit, vor dem Essen, an. Der Arzt, der mich empfing, bestätigte mir, was er geschrieben. Im Eßsaal fand ich eine zahlreiche Gesellschaft; Theodor saß obenan am Tisch. Ich hatte ihm geschrieben, daß ich käme; er war also nicht überrascht. Er stand auf und kam mich zu begrüßen. Ich hatte Mühe, meine Wehmut zu verbergen, als ich ihn sah, so sehr hatte er sich verändert. Der Arzt schrieb mir eine strenge Kur vor, mit absolutem Nichtstun wegen meiner Augen und völliger Gemütsruhe. In diesem letzteren Punkt konnte ich leider nicht gehorchen. Mein Gefühl für den Freund ließ mir keine Ruhe, wenn ich ihn bleich, erschöpft dem zu frühen Tod entgegengehn sah, oder wenn ich ihn lange Stunden hindurch allein auf seinem Zimmer wußte, versenkt in sein Leiden und in den Kampf der Entsagung, die so schwer wird, wenn die Seele noch voll Jugend, Poesie und Zukunftsgedanken ist. Wie drängte es mich dann, ihm zu sagen: »Erkenne mich doch für das, was ich bin, für diese Schwesterseele, die du selbst dir mit so festen Banden verbunden hast, daß sie nicht mehr zu zerreißen sind. Ich verlange nichts von dir, als jetzt wie eine Schwester mit dir den dunklen Pfad zu gehn, den du durchmissest, denn es wäre solcher Wesen wie wir, nur würdig, diesen Kelch miteinander mit vollem Bewußtsein zu trinken.«

Doch hielt ich mich zurück und ehrte selbst seine Freiheit im Leiden. Ich begnügte mich damit, es still mit ihm zu teilen. Zuweilen kam er und holte mich ab, an einen der hübschen Plätze, die den See umgaben, und da las er mir verschiedenes, was ihn gerade beschäftigte, vor. Da waren Augenblicke voll sanfter, wehmütiger Ruhe. Dann aber war er wieder finster, unnahbar, und stieß jeden Versuch, ihm wohlzutun, mit Härte ab. Eines Tages, während wir bei Tisch saßen, überbrachte man mir einen Brief des unbekannten Freundes in Amerika. Der Brief enthielt auch einen an Theodor, dessen Freund er ebenfalls war und den er noch in Hamburg vermutete. Nach dem Essen forderte ich Theodor auf, mit hinauszukommen, um die Briefe des gemeinsamen Freundes zu lesen, da sie immer lang und von großem Interesse waren. Wir setzten uns an einen reizenden Platz, von Felsen umschlossen, die mit Moos bewachsen waren und aus denen eine klare Quelle sprang. Jedes las zunächst seinen Brief für sich. Der meine war aus dem fernsten Westen Amerikas datiert, wo der Freund eine Niederlassung zu gründen beabsichtigte, der er eine große Zukunft weissagte. Der Boden und die Lage konnten daraus ein wichtiges internationales Zentrum machen. Der Freund kannte die Gründe, die mich früher abgehalten hatten, nach Amerika zu gehen. »Siegen Sie jetzt über alle diese Schwierigkeiten und Zweifel und kommen Sie,« schrieb er. »Aber ich fühle, daß ich Sie nicht in eine so weite Ferne rufen kann, ohne Ihnen einen legitimen Schutz anzubieten. Kommen Sie, um meine Frau zu werden, indem wir uns gegenseitig die Freiheit vorbehalten, je nach unserem Herzen diesem Band seinen wahren Charakter zu geben.« Dann beschrieb er mir genau die Reise, die ich zu machen haben würde, die notwendigen Dinge, die ich mitzubringen hätte usw. Endlich fügte er hinzu: »Dieser Brief scheint so materiell und von Kleinigkeiten erfüllt neben so großen Entschlüssen, und dennoch, wenn Sie wüßten, mit welcher Bangigkeit mein Herz Ihrer Entscheidung entgegensieht! Wenn Sie sich entscheiden zu kommen, bringen Sie uns noch andere Freunde mit. Ich meine hiermit zunächst Theodor, der sich hier von dem Übel, das ihm die alte Welt angetan hat, erholen wird.«

Ich fühlte, daß ich errötete vor innerer Bewegung, als ich diesen Brief las. Welche sonderbare Lage war dies auch! Der, den ich vordem hatte aufsuchen wollen als Beschützer und Führer, um mit seiner Hilfe mein Ideal eines neuen Lebens zu beginnen, rief mich nun, um als seine Frau mit ihm den Grund zu einem neuen Kulturwerke zu legen. Aber dieser Ruf kam in dem Augenblick, wo die alte Welt mich wieder mit jenen Banden an sich gefesselt hatte, mit denen ein Sterbender das Herz, das ihn geliebt hat, an sein Sterbelager bindet: die Hochschule, die Gemeinde, deren immer bedrohte Existenzen ein Teil meines Lebens geworden waren; dann der, der mir in dem Augenblick zur Seite saß und langsam auf dieser alten Erde dahinstarb – alles das ließ mich fühlen, daß ich nun nicht eher scheiden könnte, bis diese Schicksale entschieden wären. Ich wendete mich zu Theodor; sein Kopf war zurückgeworfen und ruhte auf dem Moos, das den Fels bedeckte, an dem wir saßen; seine Augen waren halb geschlossen und sein totenblasses Gesicht drückte einen tiefen Schmerz aus. Er hielt mir seinen Brief hin, ohne ein Wort zu sagen. Ich durchflog die Zeilen: der Freund drängte auch ihn zu kommen, mich zu begleiten, um gemeinschaftlich den Grundstein einer großen Zukunft zu legen, eines bedeutungsvollen Zentrums für die Entwicklung der Kulturgeschichte.

»Zu spät!« sagte er endlich mit leiser Stimme. Ein unermeßliches Mitleid durchströmte mein Herz; ich legte für einen Moment meine Hand leise auf die seine und in meinem Herzen tönten die Worte von Novalis:

»Wenn alle untreu werden,
So bleib' doch ich dir treu,
Damit doch Treu auf Erden
Nicht ausgestorben sei.«

Ich sagte ihm nichts von den Voraussetzungen, unter denen unser Freund mich hinrief, aber ich las ihm den ganzen übrigen Teil des Briefes. Er fragte mich, ob ich gehen würde. Ich sagte ihm, daß es mir jetzt unmöglich schien, mich von den Beschäftigungen und Pflichten, die ich übernommen hatte, loszusagen, bevor sie mir von außen unmöglich gemacht würden. Er gab mir recht. Ich schrieb dem fernen Freunde in diesem Sinn und gab ihm alle Gründe meines Nichtkommens an. Theodor fügte einige Worte hinzu, in denen er sagte: »Wie sehnlich wünschte ich kommen zu können und mich dir zu vereinen! Aber es ist zu spät! Ich bin nur noch ein schwaches, kränkliches Wesen, ein Schatten von dem, der ich einst war. Ich glaube nicht, daß ich noch werde genesen und dir folgen können.«

Man kann sich denken, mit welcher Empfindung ich dies las! Der Kur müde, die seinen Zustand nicht besserte, entschloß sich Theodor, zu gehen, ohne noch recht zu wissen wohin. Meine Ferien waren auch zu Ende: ich wurde in der Hochschule erwartet und ging noch vor ihm, mit der Hoffnung, ihn noch einmal zu sehn, denn er wollte jedenfalls über Hamburg kommen, um seine dortigen Freunde zu begrüßen. In der Hochschule wurde ich mit Freude empfangen. Anna und Charlotte, die auch eine Ferienreise gemacht hatten, waren noch nicht zurück. Unser lieber Professor, der Naturalist, kam von einer Reise in das südliche Deutschland zurück, wo er Gelegenheit gehabt hatte, den Umtrieben auf die Spur zu kommen, die die pietistische Partei, die eine starke Organisation in Hamburg hatte, gegen die Hochschule ins Werk setzte. Er hatte sogar bis in kleine Orte des Schwarzwalds hinein bei Pfarrern gedruckte Pamphlete vorgefunden, die von einer pietistischen Druckerei in Hamburg herrührten, in denen die Hochschule als ein Herd der Demagogie dargestellt wurde, wo, unter dem Mantel der Wissenschaft, revolutionäre Pläne geschmiedet würden, und in denen demnach Eltern davor gewarnt wurden, ihre Töchter diesem Institut anzuvertrauen. Man machte uns also einen offenen Krieg! Die Freunde der Unwissenheit und des Aberglaubens, die sich von jeher der Religion bedient haben, um ihre Zwecke durchzusetzen, hatten sich gegen uns bewaffnet, weil wir die Frauen ihrem schmählichen Joch entziehen wollten. Die Gefahr machte mir die Hochschule noch teurer und ich gelobte mir selbst, sie nicht zu verlassen und ihr Schicksal zu teilen. Die Gefahr nahte sich auch mehr und mehr den Gemeinden; schon waren mehrere in verschiedenen Gegenden Deutschlands aufgelöst worden. Inzwischen blühte unsere Gemeindeschule, und unser Prediger führte sein Auditorium durch alle Konsequenzen der Kritik, bis er offen das Wort Atheismus aussprach, indem er ihm auf der andern Seite einen idealen und praktischen Sozialismus darlegte, der die Stelle der alten Ordnung der Dinge, die, des lebendig machenden Geistes beraubt, nur noch ein gefährlicher Irrtum waren, einnehmen sollte.

Kurze Zeit nach mir kam auch Theodor. – Emilie nahm ihn wieder bei sich auf. Man brauchte nicht zu fürchten, daß das »mütterliche« Gouvernement von Hamburg ihm nicht einige Tage der Ruhe dort gönnen würde. Er war zufrieden, wieder da zu sein, und war, wie früher, jeden Tag mehrere Stunden in der Hochschule, häufig mit mir allein. Am Abend vereinigten wir uns meist bei Emilien mit dem Prediger oder dem einen oder andern der Professoren und verbrachten herrliche Stunden in bedeutenden Gesprächen. Theodor fand zuweilen die ganze Stärke seines Geistes wieder und schien sich nur schwer zum Gehn entschließen zu können. Endlich bestimmte er seine Abreise: er wollte zunächst in die Heimat. Aber am Tag vorher fiel er in der Straße, und dieser Fall erschütterte seinen kranken Organismus so sehr, daß er mehrere Tage im Bett zubringen mußte, und der Doktor erklärte, er werde noch vor einigen Wochen nicht reisen können. So ließ denn das Schicksal selbst mir noch für einige Zeit seine Gegenwart, aber unter so traurigen Bedingungen, daß es mir das Herz zerriß. Ich hatte nun keine Skrupel mehr, ihn als wirkliche barmherzige Schwester zu besuchen. Ich ging jeden Morgen, nachdem ich meine Pflichten in der Hochschule erfüllt hatte, auf eine Stunde zu ihm, um ihn durch Unterhaltung zu zerstreuen, ihm Bücher zu bringen und darüber zu wachen, daß ihm nichts fehle. Er ließ mich gewähren; er hatte es endlich begriffen, daß in jeder großen weiblichen Liebe auch die Mutterliebe ist, die nichts mehr fordert, aber gibt, hilft, tröstet und versöhnt. Als er das Zimmer verlassen durfte, forderte er mich auf, eine Spazierfahrt mit ihm zu machen. Es war ein schöner, milder Herbsttag. Eine sanfte, melancholische Heiterkeit ging von der Natur in unsere Seelen über. Wir führten edle, wohltuende Gespräche. Als wir nach Hause zurückkehrten, seufzte er und sagte: »O Königin, das Leben ist doch schön!«

Den Tag darauf schied er. Er hatte beschlossen, nach der kleinen Stadt Gotha zu gehen, wo sich ein ausgezeichneter Arzt befand, den er um Rat fragen wollte. Vorher wollte er noch einige Tage zu den Seinen und nach B., um dort eine Dame zu sehen, der er sehr nah stand. Es war dies eine junge, reiche Witwe, die ihn liebte. Ich weiß nicht, warum er vordem gezögert hatte, sich mit ihr zu verbinden; jetzt, wo er so krank war, konnte er natürlich nicht daran denken, aber er wollte sie besuchen. Ich erfuhr aber nach einiger Zeit, daß er seinen Entschluß geändert hatte und nach ein paar bei seiner Familie verbrachten Tagen nach Gotha abgereist war. Auch dies war mir eine innere Befriedigung; er liebte also diese Frau nicht, sonst hätte er, selbst an der Schwelle des Todes, noch einmal gesucht, sie zu sehen.

Anna und Charlotte kehrten endlich zurück. Die Vorlesungen der Hochschule waren äußerst besucht, die Gemeindeschule entwickelte sich immer herrlicher; von dieser Seite blieb mir nichts zu wünschen übrig. Unter den jungen Mädchen, die die Vorlesungen besuchten, waren ausgezeichnete Persönlichkeiten, große Intelligenzen; besonders zeigten sich überraschende Fähigkeiten für die Mathematik. Alle diese Schülerinnen liebten mich, einige bis zum Fanatismus. Ich empfand oft eine tiefe Befriedigung, wenn ich diese Jugend um mich sah und an ihr meine Hoffnungen für die geistige Entwicklung der Frauen bestätigt fand. Aber ich war noch nicht am Ende der Prüfungen, die mir von der Seite kamen, von der überhaupt die größten Schmerzen meines Lebens gekommen waren. Ich erhielt einen Brief von zu Haus, in dem man mir unter anderem erzählte, daß Theodors Vater, nachdem er einige Wochen ohne Nachricht vom Sohn gewesen sei, von der Stadt Gotha aus benachrichtigt worden war, daß dieser gleich nach seiner Ankunft schwer krank geworden und ins Hospital gebracht worden wäre, ohne daß man seinen Namen und Wohnort gewußt hätte. Jetzt erst, da es ihm ein wenig besser gehe, habe er die Anweisung geben können, seine Familie zu benachrichtigen. Der Vater wäre hierauf alsbald nach Gotha gereist, hätte ihn außer Bett, aber so schwach gefunden, daß er ihn im Hospital hätte lassen müssen, wo er übrigens auch sehr gut gepflegt würde.

Ich allein wußte vielleicht genau, was diese Krankheit bedeutete, und war schwer betroffen von der Nachricht. Der Gedanke an den sehr Kranken im Hospital einer kleinen Stadt, ohne Freunde in der Nähe, verließ mich nicht mehr, weder Tag noch Nacht. Ich schrieb ihm und hatte bald den Trost, einige Zeilen Antwort zu bekommen, die von einer großen überstandenen Gefahr und einer leisen Hoffnung sprachen. Ich konnte diese letzte Täuschung nicht mehr teilen, aber ich schrieb ihm Dinge, die ihn interessieren und zerstreuen konnten. Ich hatte nur wenig Geld, nichts als meine sehr kleine Rente, deren Hälfte noch für die Armen, die Gemeinde usw. dahin ging; nun gab ich aber nichts mehr für mich aus, flickte meine Kleider, anstatt mir neue zu kaufen, und verwandte das Wenige, was mir blieb, darauf, dem, der fern von den Seinigen und den Freunden einsam sein Leben aushauchte, alles zu verschaffen, was ihn erheitern und ihm angenehm sein konnte. Der Augenblick war gekommen, seine Leiden durch jene kleinen Aufmerksamkeiten zu erleichtern, die ich stets gegen den Gesunden, als einer großen Liebe unwürdig, verschmäht hatte, obgleich so manche Frauen sich dadurch gerade den Männern unentbehrlich zu machen suchen. Dem Kranken aber durfte man auch sogar manchen Leckerbissen senden, den das Hospital ihm nicht gewähren, und der ihm doch eine momentane Befriedigung geben konnte. Jede Woche ging ein Päckchen ab, das alles enthielt, was ich nur irgend ausdenken konnte. Es war ja wenig, aber hätte er gewußt, wie ich mir dafür gewissenhaft alles versagte, um ihm alles geben zu können, es hätte ihm doch viel geschienen. Er fühlte auch den Sinn der Gaben, denn seine kurzen Briefe waren immer gut und seelenvoll; er sprach vom Frühjahr, wo er hoffe, Gotha verlassen zu können. Ich las das mit tiefer Herzensqual, und doch hoffte ich auch noch manchmal, daß die Jugend über den Tod werde triumphieren können.

So kam ein anderes Weihnachtsfest herbei. Wir feierten es wieder in unserem Kreis, aber in mein Herz kam diesmal keine Freude. Die letzten Nachrichten von ihm waren aufs neue schlechter gewesen. Das neue Jahr nahte heran, meine Angst um den armen Kranken, den niemand zu trösten ging, wuchs bis zu solch einem Grade, daß ich beschloß, nach Gotha zu gehen, um selbst zu sehen, wie es um ihn stünde. Ich vertraute nur Emilien und dem »Demokraten« das wahre Ziel meiner Reise; beide sagten mir, ich täte recht. An einem kalten Wintertag machte ich mich auf die Reise und kam erst bei einbrechender Nacht in Gotha an. Kaum im Gasthof abgestiegen, ließ ich mich zum Hospital führen. Es lag ziemlich weit außerhalb der Stadt. Ich mußte durch stille, einsame Straßen, dann durch eine lange Allee schreiten, zu deren beiden Seiten sich weite mit Schnee bedeckte Felder ausbreiteten, die beim blassen Licht der Sterne wie ein unendliches Leichentuch aussahen. In mir war eine tiefe, feierliche Ruhe; es schien mir, als gehörte ich nicht mehr dieser Erde an und als ginge ich, den geliebten Schatten im Hades aufzusuchen. Ich hatte keine Furcht irgendeiner Art, denn ich gehorchte einem innern Gebot, das nichts mehr zu tun hatte mit irdischen Rücksichten. Endlich sah ich ein einsames Haus, in dem oben zwei Fenster erleuchtet waren. Als ich eintrat, fand ich eine alte Frau, die, als ich nach Theodor fragte, sich mir als seine Pflegerin zu erkennen gab und hocherfreut schien, daß jemand komme, um ihn zu sehen. Ich schrieb zwei Worte auf ein Stück Papier, um ihm zu sagen, daß ich da wäre. Er ließ mich bitten, gleich herauf zu kommen. Ich fand ihn auf dem Sofa liegend, er schien tief gerührt, mich zu sehen. Ich war bis in das Innerste erschüttert von seinem Anblick und dachte, daß das nicht die einzigen Helden sind, die auf dem Schlachtfeld für die Freiheit sterben. Er starb ja auch, ein Kämpfer, an den Folgen des Kampfes. Sein Zimmer war groß und luftig, aber es war doch das Zimmer eines Hospitals, und er war allein da, fern von allen, die er liebte. Er war noch nicht dreißig Jahre, aber er schien mindestens vierzig; ein langer schwarzer Bart hob seine Blässe und Magerkeit noch mehr hervor, und wenn ein Lächeln auf seine Lippen kam, so war es traurig zum Weinen. Ich sagte ihm, daß ich den Gedanken nicht habe aushalten können, ihn an diesen Festtagen allein zu wissen, und es schien ihm schmerzlich, daß niemand der Seinigen gekommen war, ihn zu sehen. Ehe ich ihn verließ, bat er mich, den folgenden Vormittag bis zur Essenszeit und den Nachmittag bis zum Abend zu kommen. Ich ging in den Gasthof zurück, traurig und doch glücklich; denn wenn es etwas gibt in der menschlichen Natur, was sie über das Vergängliche erhebt, so ist es die Charitas, das endlose Mitleid, in dem alles Persönliche untergeht, das das Leiden, die Schwäche, die Hinfälligkeit umfaßt, um zu trösten, zu retten, um den Tod noch zu verschönen. Selbst die größte Intelligenz hat ihre Grenzen, irrt zuweilen, läßt sich verblenden. Die große Liebe allein, die zugleich Mitleid, Erbarmen, Vergessen aller Selbstsucht ist, die allein ist unfehlbar, strömt aus einer unbekannten ewigen Quelle und macht das Herz zu einem Tempel, wo sich die Mysterien der einzigen wahren Religion feiern: der Religion, die rettet und vergibt.

Am folgenden Morgen ging ich um zehn Uhr hin. Er hatte sein Zimmer schön aufräumen lassen und seine Krankentoilette etwas sorgfältiger gemacht. Ich hatte mir eine Handarbeit mitgebracht, setzte mich ihm gegenüber an den Tisch und nähte. Wir sprachen von tausenderlei Dingen und er wurde immer heiterer. Viel Lesen und Schreiben war ihm unmöglich, weil es seinen Kopf zu sehr anstrengte; es blieb ihm also nur das Gespräch. Wenn ich sah, daß auch dies ihn ermüdete, schwieg ich; er lehnte den Kopf zurück auf das Kissen und schloß oft die Augen, ich arbeitete fort, bis er selbst das Gespräch wieder anfing. Am Nachmittag war es ebenso; er warf mir sogar vor, spät gekommen zu sein. Unser Gespräch war sehr belebt. Am folgenden Tag war Silvester. Er lud mich ein, am Abend zu bleiben und sein Abendessen zu teilen. Ich hatte einige Kleinigkeiten mitgebracht, die er, wie ich wußte, liebte, um ein kleines Fest zu bereiten; die gute Krankenwärterin, die mich schnell liebgewonnen hatte, half mir alles ordnen. Theodor war heiter; ich gab mir Mühe, es zu scheinen und ihn nicht durch das leiseste Wort daran zu erinnern, daß in unserer Vergangenheit ein Abgrund von Schmerzen lag, deren Urheber er war. Er konnte sich mit seiner Mutter glauben. Auch sprachen wir sehr viel von ihr und unsere Herzen fanden sich in ihrem Angedenken. Mit der Neigung, die die Sterbenden haben, auf die Ereignisse der Vergangenheit zurückzukommen, da sich die Zukunft ihnen verschließt, erzählte er auch von Begebenheiten seiner Kindheit, von seiner ersten Liebe zu einem kleinen Mädchen, dann kam er auf seine Beziehungen zu seiner schönen Tante zu sprechen und gedachte mit gerechtem Lob ihres Geistes und ihrer Talente. Er rezitierte ein Gedicht von ihr, das wirklich sehr schön war. »Aber sie hatte nicht das wahre weibliche Herz,« setzte er hinzu, »sie konnte nicht vergeben«. Er hielt an und zögerte, in seinen Erinnerungen fortzufahren. Ich forderte ihn nicht auf, sondern wartete, was er sagen würde. Plötzlich fragte er mich, ob sein Bruder mir mitgeteilt habe, was er ihm eines Tages gesagt hätte mit der Bitte, es mir zu sagen. Ich verneinte; darauf sagte er, er hätte ihm von dem Gefühl, das den Beziehungen zu seiner Tante gefolgt sei, wie von dem besten Gefühl seines Lebens und der edelsten Blüte seiner Jugend gesprochen.

Mit diesen Worten endete das Jahr für mich. Als ich einige Stunden, nachdem ich ihn verlassen hatte, Mitternacht schlagen hörte, fühlte ich brennende Tränen mein Kopfkissen netzen. Ich wußte, daß es das letzte Mal war, daß ein neues Jahr für ihn anfing, und daß, noch ehe es zu Ende ging, er nur noch eine Erinnerung sein würde.

Am Neujahrsmorgen ging ich früh aus, um zu sehen, ob ich Blumen kaufen könne. Er liebte sie so sehr und hatte mir einst so viele gegeben, daß ich ihm gern diese Überraschung machen wollte. Aber die kleine Stadt kannte solchen Luxus nicht: Blumen im Winter! Endlich sagte man mir, daß der Gärtner eines fürstlichen Lustschlosses, das eine gute Strecke weit außerhalb der Stadt lag, vielleicht welche habe. Ich ging hin, und wie groß war meine Freude, einen Topf mit einer blühenden Hyazinthe und einen andern mit Tulpen zu finden. Der Gärtner wollte sie mir zuerst nicht geben, aber ich bezahlte sie gut und erhielt sie. Nun trug ich sie selbst den weiten Weg zurück. Ein eisiger Wind wehte über die schneebedeckten Felder; ich fürchtete für meine Blumen und hielt schützend meinen Mantel um sie, wie um zwei liebe Kinder, während der Wind mir den Schleier wegriß und die scharfe Luft mein Gesicht zerschnitt. Ich wurde durch Theodors Lächeln belohnt, als ich die Blumen auf seinen Tisch setzte; durch die Freude, mit der er die süßen Düfte einzog, die ihm so viel köstliche Empfindungen zurückriefen, ihm, der die Natur ebenso leidenschaftlich liebte, wie ich. Zwei Tage vor meiner Abreise war er sehr schwach; er konnte kaum sprechen und eine fieberhafte Unruhe trieb ihn, im Zimmer umherzugehen, oder sich bald hier, bald dort, erschöpft hinzusetzen. Er hatte nur ein Sofa und gewöhnliche harte Stühle im Zimmer. Ich sann auf Mittel, ihm etwas größere Bequemlichkeit zu schaffen, indem ich ihm einen Lehnstuhl fände, und lief durch die Stadt, einen zu mieten. Zu vermieten waren aber keine da, wohl aber zu verkaufen. Ich zögerte ein wenig; ich hatte nur gerade genug Geld, um meine Wirtshausrechnung und meine Rückreise zu bezahlen. Aber ich sagte mir, ich würde in der dritten Klasse fahren. Er hatte den Lehnstuhl nötig, ich kaufte ihn. Ich ließ ihn in sein Zimmer tragen und ging, den letzten Abend bei ihm zu verbringen. Er war sehr gerührt, und als er mir die Hand zum Abschied reichte, sagte er mit bewegter Stimme: »Man hat behaupten wollen, daß die demokratischen Frauen kein Herz hätten; es ist an mir, dem zu widersprechen.« Das waren die letzten Worte, die ich von ihm hörte. Ich konnte ihm nichts sagen. Mein Blick war von Tränen verschleiert; ich wußte, es war der ewige Abschied.

Am folgenden Morgen schied ich vor Tagesanbruch. Die Abfahrt des Zuges erwartend, ging ich auf der Plattform der Station hin und her. Es war frische aber ruhige Winterluft; über mir glänzten noch unzählige Sterne, aber im Osten zeigte ein dunkelroter Streif an, daß die Sonne wieder erscheinen werde, um diese Welt der flüchtigen Erscheinungen zu beleuchten. Mein Herz war so schwer, daß mir selbst die Tränen ihren Dienst versagten. Ich starrte auf den purpurnen Streifen am Horizont und fragte voll Verzweiflung: »Was bleibt noch übrig auf der Welt?« – »Gut zu sein,« antwortete es in mir. Ich klammerte mich an diesen einzigen Anker, und während der Dampf mich fern und ferner zog, betrachtete ich den Sonnenaufgang, und in meinem Herzen tönte es wie ein Hymnus an dieses glorreiche Schauspiel: »Gut zu sein, gut zu sein!« –


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