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Zu der Zeit, von der ich rede, war ich gegen fünf oder sechs Jahre alt. Ich fing an, viel nachzudenken. Eines Tages fragte ich einen meiner älteren Brüder, wie es komme, daß unsere Stadt die Hauptstadt des Fürstentums Hessen sei und zugleich eine Stadt Deutschlands. Mein Bruder bemühte sich, mir, so gut es ging, auseinanderzusetzen, das Deutschland sich in viele kleine Länder teile, deren jedes eine Hauptstadt und einen besonderen Fürsten habe. Aber wie sehr er sich auch bemühte, ich konnte es nicht begreifen, daß man eine Menge einzelner Länder mit verschiedenen Namen als eine große Einheit ansehen solle.
Eine andere Frage beschäftigte mich auch auf das lebhafteste, nämlich was »die Ferne« sei. Bis dahin war ich nur so weit von meinem Geburtsort entfernt gewesen, um bequem am selben Tage dahin zurückkehren zu können. Mir aber vorzustellen, daß man so weit gehen könne, um nicht am selben Tag und nicht in vielen Tagen zurückkehren zu können – daß man in ganz anderen Ländern weilen und mit Menschen verkehren könne, die keine Beziehung zu uns hätten –, das erschien mir fast unmöglich.
Ich beschloß also, bei mir selbst zu erfahren, was »die Ferne« sei. Meine Mutter war mit meinen beiden ältesten Schwestern in ein Bad gereist. An einem schönen Sommermorgen nahm ich etwas Wäsche aus meiner Kommode, knüpfte alles in ein Taschentuch und ging die Treppe hinab, um mich geradewegs auf die Post zu begeben, mich in einen der großen Postwagen zu setzen, die ich so oft da hatte stehen sehen, und schnurstracks nach dem Orte zu fahren, wo meine Mutter weilte. Ich zweifelte nicht, daß man mir einen Platz im Wagen geben würde, wenn ich sagte, ich wolle wissen, was »die Ferne« sei.
Meine Wärterin hatte meine Abwesenheit noch zu rechter Zeit bemerkt, stürzte mir erschrocken nach, erfaßte mich in der Straße und verhinderte mich so, meine Entdeckungsreise zu machen.
Den darauffolgenden Sommer aber konnte ich endlich meine Wißbegierde befriedigen. Meine Schwestern und ich machten eine Vergnügungsreise mit meinen Eltern. Zunächst gingen wir auf das Land zu einer Tante im Süden von Deutschland, und da lernte ich zuerst das eigentliche Landleben kennen. Das große Haus, eine alte Abtei mit endlos langen Gängen – den prächtigen Garten mit einer Fülle von Blumen und Früchten, die Felder, das Vieh, die unbeschränkte Freiheit, alles das zu genießen, im Garten, im Feld umherzulaufen, das schien mir das Paradies selbst. Was mich aber besonders anzog, das war die alte Kirche, die früher zur Abtei gehört hatte und in der ich zum erstenmal die Zeremonien des katholischen Kultus sah. Eine lebhafte Erinnerung knüpft sich daran. Ein Kaplan, der zu der Kirche gehörte, kam häufig zu meiner Tante. Er war ein junger Mann, voller Talente, liebenswürdig in diesem Kreise fern von den Augen seiner Vorgesetzten – aber kaum wiederzuerkennen, wenn er, bleich und traurig, in der Kirche in priesterlichem Ornate erschien.
Er ging oft allein mit meiner Mutter im Garten spazieren, in anscheinend sehr ernste Gespräche vertieft, deren Gegenstand ich nicht kannte. Eines Tages fuhren wir in seiner Begleitung, um das königliche Schloß in Aschaffenburg in der Nähe zu besehen. Ich hielt meine Mutter bei der Hand, und er ging ihr zur Seite. Als wir in die Schloßkapelle kamen, wurde er sehr blaß, neigte sich zu meiner Mutter und flüsterte ihr zu, indem er auf den Altar und das Kruzifix auf demselben zeigte: »Da war es; vor jenem Altar und vor jenem Bild.« – Meine Mutter sah ihn voll Mitleid an und sagte: »Armer Mann!« – Erst viele Jahre später erhielt ich den Schlüssel zu dieser Szene, als meine Mutter mir die Geschichte erzählte. Als ganz unmündiger Knabe noch war er von seinem Vater beredet worden, in den geistlichen Stand einzutreten, und in der eben erwähnten Kapelle hatte er das Gelübde abgelegt, auf ewig mit den Neigungen einer poetischen und leidenschaftlichen Natur zu brechen. Später hatte er die ganze Tragweite seines Irrtums und seines Unglücks begriffen, und da er seine Gelübde nicht brechen konnte, führte er ein Leben voll innerer Widersprüche und unsäglichen moralischen Elends. Meine Mutter hatte recht gehabt, zu sagen: »Armer Mann!«
Nach unserer Rückkehr nach Hause fing ich an, recht ernstlich zu lernen. Meine jüngste Schwester und ich bekamen Stunden im Haus, die mir damals viel vorzüglicher erschienen als der Schulunterricht; zunächst, weil der Lehrer sich ausschließlich uns widmete, und es mir daher schien, als wüßten wir alles gründlicher wie unsere Freundinnen, die Schulen besuchten; dann aber auch, weil wir am Nachmittag keine Stunden hatten; Stunden, die mir sehr peinlich vorkamen und mir noch jetzt so scheinen. Man kann sich nicht vorstellen, daß es gesund sein soll, unmittelbar nach dem Essen, in den ersten Stunden der Verdauung, auf die Schulbänke zurückzukehren, in Stuben, die den ganzen Morgen durch voll Menschen waren, und da die Aufmerksamkeit wieder ausschließlich auf mehr oder minder abstrakte Gegenstände zu wenden. Ich fand uns sehr glücklich, daß wir nach dem Essen in Freiheit in unserem Garten spielen, dort Blumen und Gemüse ziehen und Robinsonaden und Entdeckung neuer Welten nach Herzenslust aufführen konnten. Und dennoch hätte auch selbst bei uns der Anteil der Natur an der Erziehung, im Vergleich zu dem des Lernens, größer sein sollen. Ich würde dadurch vor einer Gefahr bewahrt geblieben sein, die aus meiner Liebe zum Wissen selbst herkam. Ich konnte kein Buch sehen, ohne mich dessen zu bemächtigen. Mein Geburtstag erschien mir fade, wenn er mir keine Bücher brachte. Hatte ich die erhalten, so saß ich den ganzen Tag und las und vergaß die wirkliche Welt über die der Phantasie. Meine Leidenschaft für das Lesen verleitete mich sogar, heimlich Bücher aus der Bibliothek meiner Mutter zu nehmen. Glücklicherweise fand ich nur solche, die mir nicht schaden konnten, aber die Tatsache beunruhigte mein Gewissen sehr, und ich beschloß, ernstlich gegen die Versuchung anzukämpfen. Doch trug die Leidenschaft noch öfter den Sieg davon in diesem Kampf. Endlich blieb ich Siegerin. Es war mein erstes Begegnen mit der Schlange, meine erste Handlung als Tochter Evas; aber es war auch mein erster ernster Sieg. Ich habe ein wenig in der Zeit vorgegriffen in Beziehung auf diese Kämpfe, nur um meine Überzeugung auszusprechen, daß wenn das Gleichgewicht zwischen dem Leben des Lernens und dem Leben in der Natur größer gewesen wäre in meiner Kindheit, so würde mir dieser vorzeitige moralische Kampf gewiß erspart worden sein. Ich liebte den Wald, die Wiese, die Blumen ebenso sehr wie das Lesen, und wenn man mir die Natur durch das Lernen verständlich gemacht hätte, hätte ich sicher daraus ebenso viele Eingebungen geschöpft wie aus der Welt der Fiktion.
Aber man war damals noch weit davon entfernt, die Naturwissenschaften bei der Erziehung überhaupt, insbesondere aber bei der der jungen Mädchen, als unentbehrlich anzusehen.