Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin – Erster Band
Malwida von Meysenbug

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Siebentes Kapitel

Völlige Umwandlungen

Die Konstitution war vollendet. Sie war in Wahrheit die freisinnigste aller deutschen Konstitutionen. Ihre Einführung sollte mit großer Feierlichkeit geschehen. Das Volk war trunken vor Freude. Überall sah man die nationalen Farben (noch nicht die deutschen Farben, denn die Idee der großen deutschen Einheit war noch unter dem Bann, aber die meines engeren Vaterlandes, die früher auch verboten gewesen, weil sie das Symbol zu freier Bestrebungen waren). Die Nationalgarde vertrat an diesem Tag überall die Soldaten. Der große Platz vor dem Schloß war dicht gedrängt voll Menschen. Die Fenster, die Balkons, die Dächer selbst waren mit Zuschauern besetzt. Als der Fürst mit seiner Familie auf dem Balkon des Schlosses als konstitutioneller Monarch erschien, empfing ihn ein nicht endenwollender Jubel.

Ich war sehr von dem Schauspiel ergriffen. Der Anblick einer solchen Menge, die von einem einzigen Gefühl, dem der Liebe und der Dankbarkeit erfüllt war, schien mir eine erhabene Sache, obgleich ich nicht recht wußte, wie ich dies Gefühl mit dem des Schreckens und des Hasses vereinigen sollte, das der Anblick dieses selben Volkes mir kurz zuvor eingeflößt hatte. Auch war der gute Eindruck nicht von langer Dauer, denn ich sah bald, daß die Ungerechtigkeit des Volks gegen meinen Vater fortdauerte, gegen ihn, dem sie hauptsächlich diese freisinnige und so freudig bewillkommnete Konstitution verdankten. Die Ehren, mit denen ihn der Fürst überhäufte, entschädigten sein edles Herz nicht für den Undank des Landes, dem er seine besten Fähigkeiten mit voller Hingebung gewidmet hatte. Ich erinnere mich sehr wohl, wie er eines Morgens, eben aus dem Schlosse zurückkehrend, in goldgestickter Uniform in das Zimmer meiner Mutter trat, mit tiefer Trauer im Antlitz, und ihr sagte: »Ja, eine Exzellenz siehst du vor dir, aber um welchen Preis!« – Der Fürst hatte ihn zum Minister gemacht und ihm das Großkreuz des Hausordens verliehen. Er aber wollte nicht länger im Lande bleiben und bat um einen Gesandtschaftsposten, der ihm auch, obwohl mit Widerstreben seitens des Fürsten, zugesagt wurde.

Der Gedanke einer vollständigen Veränderung unseres Lebens stieg vor meiner Einbildungskraft auf. Ich sollte die Spielplätze meiner Kindheit, meine Freundinnen, meine Stunden, alle Traditionen meines jungen Lebens verlassen! Indem ich an diese Trennung dachte, schien es mir, als würde mein Herz vor Schmerz brechen. Auf der anderen Seite aber entfaltete die Phantasie ihre Flügel und eilte freudig dieser unbekannten Zukunft zu, in der ich so viel Neues lernen, schauen, erleben würde.

Die Veränderung kam, aber in anderer Weise. Der Fürst, der den Forderungen seines Volkes gezwungen nachgegeben hatte, sah bald genug ein, daß er unfähig war, als konstitutioneller Fürst zu regieren, und die Nachricht verbreitete sich, daß er entschlossen sei, zu Gunsten seines Sohnes abzudanken. Wahrscheinlich trug der Wunsch, sich mit derjenigen, die er dem Willen des Volks hatte opfern müssen, wieder zu vereinen, nicht wenig zu diesem Entschluß bei. Aber die Aufrichtigkeit, mit der er sich selbst beurteilte, war darum nicht minder lobenswert und ließ viele seiner Fehler vergessen. Einer seiner Kollegen im Absolutismus, der Kaiser Nikolaus von Rußland, hatte eines Tages gesagt: »Es gibt nur zwei Regierungsformen: den Absolutismus oder die Republik.« Unser Fürst schien diese Anschauung zu teilen, und da er die absolute Macht nicht mehr ausüben konnte, zog er vor, als freier Mensch und einfacher Bürger zu leben.

Mein Vater, auf das dringendste vom Fürsten aufgefordert, beschloß, seinem einstigen Spielgefährten in das freiwillige Exil zu folgen und den Staatsdienst zu verlassen, der ihm so viel bittere Enttäuschungen gebracht hatte. Der Entschluß des Fürsten rief große Beunruhigung hervor, und man bemühte sich, ihm entgegenzuarbeiten. Der Fürst beschloß, heimlich zu gehen, ehe man ihn daran verhindern könne. Er hinterließ ein Dekret, in dem er seinen Sohn für die Zeit seiner Abwesenheit zum Regenten ernannte und seine Rückkehr hoffen ließ. Mein Vater begleitete ihn.

Wir sollten folgen, ohne daß irgend jemand es wüßte, denn der Haß des Volkes gegen unsere Familie schien sich noch gesteigert zu haben seit der Abreise des Fürsten. Die geheimen Vorbereitungen für unsere, ich möchte fast sagen Flucht, hatten etwas Tragisches. Wir konnten unseren Freundinnen weder Lebewohl sagen, noch ihnen Geschenke als Andenken hinterlassen. Sogar die alte Tante durfte den Tag der Abreise nicht wissen; ihr hohes Alter erlaubte ihr nicht, uns zu folgen, und man fürchtete für sie die unvermeidliche Aufregung der Trennung.

An einem Januarmorgen standen wir alle vor Tagesanbruch auf, als alles ringsum noch schlief. Die Vorbereitungen waren während der Nacht gemacht, und der große Reisewagen stand, mit vier Postpferden bespannt, im Hof. Wir verließen leise und schweigend das Haus, ein jeder nahm still seinen Platz im Wagen ein, und die Pferde setzten sich in Bewegung. Wir fuhren durch die noch ganz menschenleeren, schneebedeckten Straßen; über uns spannte sich ein grauer, nebelverhüllter Himmel aus, kaum von der ersten Morgendämmerung erhellt, und jenem unbekannten Schicksal ähnlich, dem wir entgegengingen.

Sollte ich erfahren, daß dieses Schicksal die natürliche Folge einer langen Reihe von Ursachen und Wirkungen ist, die aus dem Zusammenstoß äußerer Umstände mit unserem individuellen Charakter und unseren Handlungen entstehen? Oder sollte ich mich überzeugen, daß das Endziel der menschlichen Schicksale im voraus von einem unerforschlichen Willen gezeichnet ist, der, indem er uns in absurde Widersprüche und grausame Leiden verwickelt, dennoch nur unser Bestes will und uns von jenseits der Wolken dazu leitet?

Zu jener Zeit glaubte ich an die letzte Hypothese!


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