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Weihnacht in Waldenberg! Im Winterkleide lagen die Hüttenwerke und das Herrenhaus, im Winterkleide stand der schweigende, stille Wald. Schnee lag auf den hohen, düsteren Tannen, unter seiner Last bogen sich die schlanken Buchen und flammend und glänzend schimmerte alles in der Runde im hellen Sonnenstrahl, lieber der großen, weißen, schimmernden Pracht blaute ein durchsichtig klarer Dezemberhimmel. Es war am Vormittag des heiligen Abends. Gräfin Helene war herausgekommen in den verschneiten Forst. Sie mußte allein noch mit sich sein, allein mit den quälenden, herznagenden Gedanken. Heute Nachmittag kam ihr Vetter Arnold und am Abend unterm glänzenden Lichterbaum sollte die junge Gräfin sich dem Vetter verloben. Endlich hatte sie ja eingewilligt zur großen Freude ihres schwerkranken Vaters. Nur um dem Vater Aufregungen zu ersparen, war Helene zu dem Entschlüsse gelangt, nachzugeben, und wie sie es im Stillen bei sich nannte, »diese elende Komödie« zu spielen. Ach, die stolze, aufrichtige junge Gräfin kam sich ganz verächtlich vor! Mit der Liebe zu dem Anderen im Herzen ging sie den Bund mit Arnold ein und war dabei doch fest entschlossen, der Verlobung mit dem Vetter niemals die Hochzeit folgen zu lassen, komme, was da wolle. Lieber ging sie vorher in den Tod oder sie ließ sich von Carlo entführen. Ein Rettungsweg mußte gefunden werden! Eine innere Unruhe verzehrte Helene in den letzten Tagen. Sie hoffte und harrte vergeblich auf ein Ereignis, das auch diese Scheinverlobung nicht zur Ausführung gelangen ließe. Zeit gewonnen, alles gewonnen! Arnold konnte vielleicht krank werden oder keinen Urlaub bekommen, oder sonstwie würde ein Hindernis sich in den Weg stellen – oder nichts dergleichen trat ein. Arnold hatte im Gegenteil vorhin ein Telegramm von einer größeren Station unterwegs gesandt: »Treffe Nachmittag 2 Uhr 35 ein!« – und da war Helene zu Hause fortgerannt, heraus in den verschneiten Forst. Ihre seinen, in Ueberschuhen steckenden Füßchen folgten den breiten Fußspuren, die Waldenberger Arbeiter im Schnee hinterlassen hatten. Mühsam nur kam die Komtesse vorwärts. Es wurde ihr fast warm und allmählich beruhigten sich ihre erregten Nerven, sie sah um sich und ihre Augen schauten die schneeige, flimmernde Herrlichkeit an Baum und Strauch, so recht weihnachtlich sah dies alles aus. Da wurde es ruhig in Helenens Brust und durch ihren Sinn zog ein Dichterwort:
»Willst du die Ruhe suchen,
Komm zum Walde,
Wenn es auch Winterszeit!
Es steh'n die hohen Buchen,
Die Tannen auf der Halde
Ganz dicht beschneit – – –
Kein Vogelruf will tönen,
Kein Eichhorn in den Bäumen
Sich lustig wiegt – – –
Mag von dem Lenz, dem schönen,
Der junge Wald wohl träumen,
Der schlummernd liegt?«
Ja, träumen vom schönen Lenz! Ein Seufzer hob Helenens Brust! War sie nicht zur holden Frühlingszeit hier Arm in Arm mit ihrem Carlo geschritten, was waren sie beide da für glückliche Leute? Und heute? Der Geliebte kam nicht wie sonst zu seinen Eltern zum Feste. Er hatte eigens auf den zweiten Feiertag ein Konzert anberaumen lassen, um einen Grund zu haben, Waldenberg fernbleiben zu können. Es wäre zuviel der Qual gewesen, in der Nähe der Geliebten zu weilen und sie als Braut an der Seite des Andern sehen zu müssen. Auch hätte Carlo es nicht unterlassen dürfen, im Schloß persönlich zu gratulieren und das konnte und wollte er nicht. In Helenens Tasche knisterte Carlos letzter Brief. Sein Bild im kleinsten Format in einem goldenen Anhänger hatte er der Geliebten gesandt. Die junge Gräfin verbarg sein Geschenk an seinem, dünnem Bändchen auf der Brust. Es sollte sie schützen, wie den Gläubigen sein Amulet in dem geweihten Heiligtums. Noch einmal las Helene Carlos liebeglühende Zeilen, in denen das tiefe Weh der Entsagung zitterte, dann zerriß sie den Brief in ganz kleine, winzige Fetzchen und streute sie in den Schnee. Ruhig betrat sie nach einer halben Stunde das Eßzimmer, wo die Familie bereits um den großen Eichentisch versammelt war. Ihr Lieblingsbruder Udo war am Abend vorher schon nach Hause gekommen. Oskar und Wilhelm wurden ebenfalls am Nachmittag erwartet. Graf Wilhelm wollte seine Kinder an Weihnachten immer alle beisammen haben, zumal heute, wo es galt, der einzigen Schwester Verlobungsfest zu begehen.
»Ich möchte wissen, warum Tante Ada nicht kommen will« sagte Graf Wilhelm. »Sonst war sie doch Weihnachten immer hier und ich werde sie schwer vermissen abends beim Whistspielen! Dann fehlt uns ja der vierte Mann, Udo!«
»Papachen, da werde ich als vierter Spieler, oder besser gesagt als Spielerin eintreten!« meinte Helene freundlich. Sie wußte nur zu gut, warum Tante Ada nicht gekommen war. Die gute alte Dame wollte es nicht mit ansehen, wie ihre liebe Nichte Helene auch ein Opfer der Familienrücksichten ward und dem ungeliebten Manne sich verlobte. Tante Ada hätte viel mehr gewünscht, es wäre in Waldenberg einmal nach Liebe und Neigung gefreit worden, und der geniale Carlo Cartano war in ihren Augen viel würdiger als der eigene Neffe, der Bräutigam Helenens zu heißen. – Graf Wilhelm erwiderte auf seiner Tochter freundliches Anerbieten:
»Da mußt du erst Arnold um Erlaubnis fragen, Helene, ob der gestattet, daß sich ihm die Braut auch nur auf kurze Zeit entzieht! Gegen ihn hast du fortan die ersten Pflichten, Töchterchen!« – Helene warf schmollend die Lippen auf. Eine scharfe Erwiderung schwebte ihr auf der Zunge, doch sie verschluckte ihre Gegenrübe, um den Grafen nicht aufzuregen. Man vermied ängstlich alles, was den Kranken nur im entferntesten beunruhigen formte, aus Furcht, seinen Zustand zu verschlimmern. War doch das leidende Herz immer mehr schonungsbedürftig geworden und alle ärztlichen Mittel vermochten oft nicht die Anfälle von Atemnot und Beklemmung zu verhindern. – –
Graf Udo lenkte die Unterhaltung bei Tische auf gleichgültigere, ferner liegende Dinge. Beiläufig sagte er:
»Ich sah gestern abend an der Bahn auch Else Brandt. Sie sieht sehr gut aus und scheint recht glücklich mit dem Inspektor geworben zu sein! Er holte sie ab, sie schien noch Weihnachtseinkäufe in der Stadt gemacht zu haben! Er ist ja auch ein ganz netter Mann, war voll Galanterie gegen die junge Frau, packte sie so vorsichtig im Schlitten ein und fuhr dann glückselig mit ihr davon.« – Die Gräfin entgegnete:
»Warum denn auch nicht? Ich glaube auch, daß die Leutchen recht glücklich miteinander geworden sind. Man sagte zwar früher, Elslein schwärme für Carlo – aber der dachte wohl niemals an Else Brandt!«
»Nein, bestimmt nicht!« bestätigte Udo. »Uebrigens werde ich den alten Cartano 'mal in der Werkstätte aufsuchen! Der Mann hat Schnitzereien nach München geliefert, wunderschön, in der Tat! Er ist ein Künstler in seinem Fach!«
»Ja, ja,« nickte sein Vater. »Unglaublich, daß es der Mann so lange als einfacher Arbeiter in unserem Betrieb ausgehalten hat! Das war ja der reine Selbstmord, diese mechanischen, einfachen Dinge tagtäglich zu verrichten und dabei den Trieb zu viel Größerem, Edlerem in sich zu haben!« – Die Gräfin erwähnte anerkennend:
»In seinen Mußestunden hat Herr Cartano früher schon hübsche Schnitzereien gemacht! Denkt nur an das reizende Vogelhaus, das er mir einmal zum Geburtstag schenkte!«
Helene nahm keinen Teil am Gespräch. Sie hörte nur mit Interesse zu, was die Ihrigen über Carlo und seinen Vater noch weiter sprachen. Zum Schlusse meinte ihr Vater:
»Warum Cartano diesmal nicht zum Feste hier ist? Ich hätte mir das sehr schön gedacht, wenn er mit seinem Spiele unser Fest verherrlicht haben würde!« – Udo entgegnete lebhaft:
»Der berühmte Meister hat vor einem größeren, gewählteren Publikum in diesen Tagen zu konzertieren. Er spielt in Berlin in der Philharmonie unter Artur Nikischs Direktion! Das Konzert möchte ich gerne hören!«
»Ich auch,« meinte die Gräfin. »Es muß großartig werden!«
»Wer hätte das gedacht,« sprach nachdenklich der alte Graf, »daß aus dem Sohne des Arbeiters, aus dem verachteten Waldenberger Italienerknaben, dereinst ein solch berühmter Mann werden sollte? Wir können eigentlich stolz auf Carlo Cartano sein und ich besonders, der ich sein Talent entdecken und fördern half!« – Es waren seit langer Zeit die ersten guten Worte, die Graf Wilhelm wieder über Carlo Cartano sprach. Heute aber, wo endlich sein Lieblingswunsch in Erfüllung ging und die Verlobung Helenens mit Arnold stattfand, war der Graf gegen alle Menschen wohlwollend gesinnt und guter Laune.
»Wir haben nicht mehr viel Zeit,« meinte er jetzt, »Arnold kommt schon 2 Uhr 35. Ich habe den Schlitten auf zwei Uhr bestellt und werde selbst an die Bahn fahren. Kommst du gleich mit, Helene?« – Helene erglühte, sie wollte nicht ablehnen und doch schien es ihr nicht passend. Arnold so weit entgegen zu kommen. Dann würde er ja am Ende glauben, es wäre ihr eine große Ehre und ein unendliches Glück, seine Braut zu heißen und diese Meinung sollte er nicht haben. Dies hieße, die Heuchelei zu weit treiben! Udo antwortete statt der Schwester:
»Lasse mich mit nach der Bahn fahren, Vater! Die Damen haben noch so viele Vorbereitungen, auch wegen der Leutebescherung zu treffen!« – Graf Wilhelm war es zufrieden. Er hob die Tafel auf und Helene eilte auf ihr Zimmer, sich für den ungeliebten Bräutigam zu schmücken. – – –
Lustiges Schellengeklingel und Peitschengeknall verkündete des Bräutigams Ankunft. Bald danach stand Arnold vor Helene. Er sah jung und schmuck aus und die junge Komtesse sagte sich, daß wohl manche junge Dame aus adliger Familie sich glücklich geschätzt haben würde, Arnold als Bräutigam zu umarmen. Für sie, Helene, aber war es eine Qual, als er den Arm um sie schlang und ihre Lippen küßte. Sie duldete es stumm. Viel Worte machte Arnold nicht, und das war Helene lieb. Als er ihr aber den blitzenden Brillantreif an den Finger steckte, zitterte ihre Hand und es war ihr, als könnte sie den Druck des Ringes, ihres Verlobungsringes, nicht ertragen. Sie meinte, sie müsse das Kleinod wie eine drückende Fessel weit von sich schleudern, und ihr Mund vergaß fast, dem Bräutigam den schuldigen Dank zu sagen. Arnold sah Helene prüfend an. Sie bemerkte seinen forschenden Blick und nahm sich von nun an zusammen. Sie brachte es sogar fertig, sich lustig und angeregt mit ihrem Bräutigam zu unterhalten. Er erzählte allerhand Anekdötchen aus der Residenz und gab sich unendlich Mühe, den angenehmen Schwerennöter zu spielen. Der alte Graf saß vergnügt dabei und lachte über Arnolds Witze so herzlich, wie schon lange nicht mehr. Mit einem späteren Zuge kamen die jungen Grafen Oskar und Wilhelm und jetzt wünschte Helene, die Brüder abzuholen. Sie fuhr außerordentlich gern Schlitten und kutschierte selbst. Ihr Bräutigam machte ein ziemlich verdutztes Gesicht, als sie im chiken Pelzjackett und der kleidsamen Mütze, langen Fahrhandschuhen und russischen »Boots« vor ihn hintrat und um eine halbe Stunde Dispens bat. Sie müsse nach der Bahn fahren, sie sei von den jungen Herren bestellt. Und lachend entfernte sie sich, Arnold in der Gesellschaft des Vaters zurücklassend. Es war für Helene eine Wohltat, in die kalte, frische Luft, die ihre Stirne frostig umwehte, hinauszufahren. Der Diener setzte sich Hintenauf und sie nahm die Zügel, schnalzte mit der Zunge und heidi ging die Fahrt über die blendend weiße, schneeige Fläche. Max und Moritz, die beiden Trakehner, kannten ihrer jungen Herrin kräftigen und doch elastischen Zügeldruck. Pfeilschnell flogen sie dahin und ihre Glöckchen klangen harmonisch silberhell und die roten Federbüsche an den Mähnen tanzten munter auf und ab. Helene mürbe es leicht ums Herz. Die rasende Fahrt ließ das Blut in ihren Adern schneller kreisen und all die trüben Befürchtungen schwanden – es mußte, es sollte doch noch alles gut werden. »Nur nicht verzagen!« – – –
Alljährlich wurde im Schlosse in Waldenburg eine feierliche Bescherung für alle Bediensteten und jenen Teil der Arbeiter, das heißt ihrer Familie, abgehalten, die in allernächster Nähe des Herrschaftshauses wohnten. Dann kamen die Schulkinder mit ihrem Lehrer aus Dornheim und sangen ihre Weihnachtslieder und wurden ebenfalls mit Backwerk, Aepfeln und Nüssen bedacht. Im großen Saale, dem sogenannten »Napoleonssaal«, weil auf feinem Rückzug aus Rußland 1812 Napoleon in jenem Räume mit seinen Generalen und Getreuen eine Beratung abgehalten hatte, war die Weihnachtsfeier. Zwei riesige Tannen standen oben am Ende des Saales und weiter hinunter waren dann die langen Tische gedeckt mit den Gaben für die Leute. Der sogenannte Familientisch befand sich zwischen den beiden Tannenbäumen. Mit dem Glockenschlag »sieben Uhr« ertönte das weithin schallende Gong, welches die Geladenen zur Bescherung im Napoleonssaale rief. Die weiten Flügeltüren öffneten sich und herein kamen paarweise zuerst die Kinder, welche am oberen Ende des Saales in der Nähe der Christbäume sich aufzustellen hatten. Dort befand sich an der Wand rechts ein Harmonium, woran sich der Dorfschullehrer niederließ und seinen Choral spielte. Feierlich zogen die Klänge durch den festlichen Raum, der sich allmählich auch mit den anderen Festteilnehmern füllte. Auf ein Helles Klingelzeichen stammten dann mit einem Male die Kerzen an den hohen Tannen auf, verbunden waren sie mit einer unsichtbaren Zündschnur, und die gräfliche Familie trat zuletzt durch eine Seitentüre ein. Herein schritt heute wie immer zuerst der Graf Wilhelm, an seinem Arm die geliebte Gattin führend. Dicht hinter den beiden aber kamen heute nicht die beiden ältesten Söhne, sondern Gräfin Helene am Arm Arnolds von Herzfeld. Aller Augen richteten sich auf das schöne junge Paar. Man flüsterte sich in die Ohren: »Unser Komteßchen hat sich verlobt!« »Die junge gnädige Gräfin ist Braut!« Dann sah man sich den Offizier in der glänzenden Uniform näher an. Ah, das ist ja der lustige Vetter Arnold aus München. Viele der Anwesenden kannten ihn von seinen häufigen Besuchen in Waldenberg her. Die drei gräflichen Söhne, zwei davon, Udo und Oskar, ebenfalls in Uniform, Wilhelm war Student, traten als Letzte in den Saal. Die Kinder begannen zu singen: »Vom Himmel hoch da komm ich her!« – Als sie geendet, hielt der Graf als Fabrik-Gutsherr und Familienvater eine kurze herzliche Ansprache. Er erwähnte darin zum Schlüsse, daß die gräfliche Familie heute eine doppelte Feier begehe, nämlich außer dem Christfeste die Verlobung der Gräfin Helene mit ihrem Vetter, dem Leutnant Grafen Arnold von Herzfeld. Nachdem der Graf seine kurze Rede geschlossen hatte, umringten Glück wünschend die Beamten, Bediensteten und Arbeiter die gräflichen Herrschaften. Helene war wie im Traume. Sie fühlte ihre Hand unzählige Male gebrückt, geschüttelt und hörte gute, freundliche Worte – aber ihr Herz war weit fort. Ihre Augen blickten ganz geistesabwesend, während sie um den Mund ein ständiges Lächeln festzuhalten suchte. Dann war auch diese Qual überstanden! Die Leute näherten sich den Tischen und sahen ihre Geschenke an. Graf Arnold aber führte Helene an ihren Platz am Familientisch und fragte etwas vorwurfsvoll: »Interessiert dich denn garnichts, holde Braut, was ich dir hier aufgebaut habe?« – Und Helene betrachtete den herrlichen Schmuck – sie dankte, sie lächelte, ließ sich küssen und doch ihr Herz war bei altem nicht dabei. – – –