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6. Kapitel

In Schwabing bei München sind mit der Zeit ganze Villenkolonien entstanden. Dort leben viele hundert Leute, welche eine ruhigere Lage dem Trubel der Großstadt vorziehen. Die elektrische Bahn vermittelt so rasch den Verkehr mit derselben auch, so daß man die Entfernung von München gar nicht als solche empfindet. Umgeben von einem schattigen Gärtchen, dicht bei der Haltestelle der »Elektrischen«, liegt die reizende Villa »Buon retiro«. Von der Straße gelangt man durch den kleinen Vorgarten direkt zum Aufgange ins Haus. Neben der Tür ist ein großes Porzellanschild befestigt: »Ida Niedermaier, Damen-Konfektion«. Sie ist eine sehr geschickte Schneiderin, die Niedermaier, und hat eine große Kundschaft aus feinsten Kreisen. Das kommt davon, weil sie früher bei Reichmann Direktrice war. Die Damen kennen sie von dorther und wissen, daß die Ida einen vornehmen Geschmack und viel Chik hat. Sie fanden es alle auch ganz selbstverständlich, daß sich die Direktrice selbständig machte. Ida hatte dies zu Anfang des neuen Jahres getan, sehr zum Aerger von Herrn Reichmann und zur großen Trauer seines Buchhalters Braun. Die Verwandten und Eltern Idas wollten auch garnichts davon wissen. Letztere hatten sich von der Tochter förmlich losgesagt und sie mit einigen Tausend Mark abgefunden, seitdem man ihnen hinterbracht hatte, Ida lebe mit ihrem Geliebten zusammen. Allerdings war da etwas Wahres dran. Der flotte Arnold war schuld an der Umwälzung in dem Leben der schönen Ida. Seinetwegen hatte sie die Villa in Schwabing gemietet und das Damenkleidergeschäft eingerichtet. Es ruhte aber Segen auf Idas Beginnen. Sie verdiente Geld wie Heu und beschäftigte vierzehn Schneiderinnen. Herr Reichmann hatte sich nachträglich mit Ida ausgesöhnt und aus ihrem Atelier gingen manche seiner Modelle hervor. Arnold fand die Beschäftigung seiner Geliebten sehr aufreibend, nur an den Abenden und Sonntags gehörte sie ihm. Dann war ihm immer noch die Fahrerei mit der Elektrischen so unbequem. Eines Tages wurden die beiden Zimmer im Giebel der Villa »Buon retiro«, die Ida an ein älteres Ehepaar vermietet hatte, frei und Arnold mietete sich darin ein. Ida hatte zwar zuerst nichts davon wissen wollen, aber dann fand sie auch, daß es das Beste und Natürlichste war. Der flotte Arnold wurde sehr solide. Höchst selten verbrachte er einen Abend außer dem Hause, sondern speiste mit seiner »Frau«, wie er Ida nur noch benannte, zu Abend, und dann verlebten die Glücklichen selige Stunden. Eine wahre Perle hatte Ida an Franzi gewonnen. Franzi, eine Köchin par excellence, nahm Ida aus dem Haushalte der Verwandten mit. Franzi sorgte für alles und war treu und verschwiegen wie das Grab. Sie wußte recht gut, wie es um ihre Herrin und den »Herrn Herzfeld« stand – verriet aber gegen niemanden eine Silbe. Franzi selbst war über die Jugendstreiche hinaus als stattliche Vierzigerin. Ihr einziges Vergnügen bestand in einem feuchtfröhlichen Abend auf dem Löwenbräu- oder Münchener Kindl-Keller. Auch besuchte sie dann und wann das Gärtnerplatz-Theater.

Im Sommer erhielt Ida eines Tages sehr schlechte Nachrichten von ihrer verheirateten Schwester. Dieselbe hatte Familienzuwachs bekommen und hatte das Fieber. Ein Telegramm rief Ida anderen Tages ab zur Pflege. Die erste Zuschneiderin übernahm die Führung des Geschäftes auf drei Wochen. So lange blieb Fräulein Niedermaier weg. Als sie zurückkehrte, war sie sehr blaß und sah viel schmäler aus. Oder machten dies die Trauerkleider? Die Schwester war gestorben und hatte ein Bübchen zurückgelassen. Ida erzählte unter vielen Tränen ihren Gehilfinnen: »Wenn sich für das arme Hascherl keine passende Person findet, muß ich's einstweilen zu mir nehmen. Mein Schwager ist tagsüber immer fort und kann sich nicht um das Kind bekümmern!«

Wirklich, nach einigen Tagen kam eine kräftige Amme angereist und brachte den kleinen Jungen. Auf Wunsch von Fräulein Ida Niedermaier blieb die Amme, welche Anfangs nur das Bübchen hatte abliefern sollen, im Hause. Es war eine brave Person und widmete dem kleinen Kerl ihre ganze Zeit. Aber auch Ida zeigte sich sehr besorgt um ihren Pflegebefohlenen und sogar »Herr Herzfeld« verbrachte manche Stunde im Kinderzimmer.

Es war ein stürmischer Herbstabend. Die Mädchen waren alle bereits weggegangen. Ida räumte noch im Nähzimmer auf, dann ging sie hinüber in die behaglich durchwärmte Eßstube, wo für zwei Personen gedeckt war. Die Amme hatte den Kleinen gerade zur Ruhe gebracht und war zum Essen in die Küche gegangen. Arnold mußte jeden Augenblick kommen.

»Klingling« tönte die Hausglocke, Ida hörte des Liebsten Stimme im Hausgang, dann betrat er das Zimmer. Hier in Schwabing war Arnold stets in Zivil. In München bewohnte er pro forma noch ein zweites Zimmer, dort vollzog sich stets seine Wandlung vom glänzenden Oberleutnant und Grafen zum simplen »Geschäftsreisenden Herzfeld«. Ida flog an seinen Hals, er küßte sie und fragte gleich:

»Schläft Bubi schon? Ich habe mich heute ein bissel verspätet.«

»Ja, Bubi schläft, aber du kannst ihn doch noch sehen. Das Licht brennt noch drin im Zimmer!« erwiderte Ida.

Sich an der Hand haltend, betraten die beiden leise das Zimmer. Da lag das blondhaarige kleine Kerlchen süß schlummernd in den Kissen. Es war ein schöner Anblick, denn Bubi war ein engelschönes Kind.

Herzfeld schaute lange auf den Kleinen und dann herzte er Ida und flüsterte ihr ins Ohr:

»Er ist ein Prachtkerl, unser Junge!«

Ida zog Arnold wieder aus dem Schlafzimmer und saß dann glückstrahlend an seiner Seite beim Essen. Die Beiden gaben so ganz das Bild eines zufriedenen, verliebten jungen Ehepaares ab, was anderes waren sie ja auch in Wirklichkeit nicht. Nur fehlte die Formel des Gesetzes und der Segen des Priesters.

»Uebrigens, was ich dir sagen muß, Herzel,« erzählte später gleichmütig Arnold, »meine Verwandten aus Waldenberg kommen Anfang November hierher. Onkel hat mir heute den gewiß ›angenehmen‹ Auftrag gegeben, ich sollte ihm eine Wohnung mit vier Zimmern mieten. Dabei mußt du mir behilflich sein, kleine Frau!«

Ida versprach es. Sie legte der Erzählung des Liebsten weiter kein Gewicht bei, aber Arnold schien noch etwas zu drücken.

»Du,« sagte er eine Weile später, »freuen kann ich mich justament nicht auf die Waldenberger Einquartierung. Das gibt eine Hetz! Da werde ich wohl auch auf alle Bälle müssen, die das gnädige Fräulein Kusine besuchen will, und auch sonst ihren fürsorglichen Kavalier spielen!«

»Geh', sei gescheit, Arnold, verdirb dir jetzt noch mit den dalketen Gedanken nicht den Abend,« bat frohgelaunt Ida. »Es ist eine lange Zeit noch bis dahin und du weißt, ich bin schon zufrieden, wenn ich dich nur mit mir unter einem Dache weiß, ob du jetzt früh oder spät heimkommst!«

»Ja, du bist meine liebe, gute Ida,« lobte sie Arnold. »Wenn ich dich nicht hätt', wär' mir das Leben fad!«

»Mich und den Bubi,« flüsterte die Geliebte, »ja, wir gehören halt eben doch zusammen, gelt, mein Schatz?«

Ida hatte die Hand auf Herzfelds Arm gelegt und sah ihn mit innigem Blick an. Den Mann durchschauerte ein grenzenloses Glücksgefühl. Die Liebe, welche ihm durch dieses Mädchen geworden war, hatte so wenig gemein mit dem Alltäglichen. Ida hatte um seinetwillen sich von den Ihrigen losgesagt. Sie gab alles dahin, nur um eines sein zu können: Arnolds Geliebte! Ihre Frauenehre war dabei verloren gegangen, andere Geschlechtgenossinnen sahen sie über die Achsel an, um des Schrittes willen, den sie getan, aber das schien Ida nicht zu kümmern. Arnold war der erste Mann, der auf Idas Herz einen Eindruck gemacht hatte, das Mädchen fragte nicht danach, ob er auch der beste war. Sie liebte ihn mit seinen Fehlern, die sie wohl kannte, aber mit liebender Nachsicht verzieh. Ida glaubte an Arnold. Sie glaubte seinen Schwüren, daß er sie nie verlassen würde, komme was da wolle! Es war ihr bekannt, daß der flotte Leutnant Schulden gemacht, welche sein Vater nicht mehr bezahlen wollte. Oft schon hatte sie mit Arnold gerechnet und überlegt und immer blieb eine Summe von 8- bis 10 000 Mark zu decken. Ida hatte hierzu dem Liebsten ihr mütterliches Vermögen, welches nahezu soviel betrug, angeboten, aber dieses Opfer nahm Arnold doch nicht an. Seitdem er Ida kannte, war er sehr haushälterisch geworden und streckte sich nach seiner Decke. Ja, noch mehr, seitdem er mit Ida zusammen hauste, war es ihm möglich, kleine Ersparnisse zu machen von der monatlichen Zulage, die er erhielt. In einer guten Stunde kaufte er für »Bubi« ein Sparkassenbuch und machte dort seine Anlagen und Ida unterstützte ihn darin. Was später aus ihrem Verhältnisse werden solle, darüber waren sich die jungen Leute durchaus nicht klar. Ida dachte vielleicht, das könne lange Jahre so bleiben, aber Arnold wußte es besser. Zwar hätte er oft mit Faust ausrufen mögen: O Augenblick, verweile, du bist so schön! – und auch jetzt dachte er diesen Gedanken wieder, als er mit seinem Liebchen zusammen saß – und doch brannte ihm in seiner Brusttasche des Vaters Brief, darin es hieß, er solle dazu tun, daß er mit Kusine Helene ins Reine käme und bis zur Weihnachtszeit Verlobung feiern könne. Der Onkel käme ihm auf halbem Wege entgegen, Arnold habe jetzt Gelegenheit, in München Helene näher kennen zu lernen und er hätte die schönste Zeit, sich ihr zu nähern und so fort. Dieses Schreiben wollte der Leutnant gerne Ida zeigen und mit ihr beratschlagen, was zu tun sei. Nun aber, als er sie so gleichmütig und heiter sah, wollte er ihre frohe Laune nicht trüben. Es war immer noch früh genug, sie mit dem drohenden Ungemach bekannt zu machen. Vielleicht fand sich doch noch ein Ausweg aus diesem Dilemma. – –


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