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5. Kapitel

Die Zeit entschwand für Carlo und Helene nur zu schnell. Bald waren die wenigen Wochen vorüber, welche die gräfliche Familie noch in Bad Nauheim zu verbringen hatte. Dann sollte Graf Herzfeld noch eine Nachkur von vier Wochen in der Schweiz machen. Die Gräfin kehrte mit dem Gemahl nach Herzfeld-Waldenberg zurück. Nur wenige Tage blieb der Graf, um überall wieder einmal im großen Geschäftsbetriebe nach dem Rechten zu sehen. Als er dann aber nach Brunnen am Vierwaldstätter See reiste, durfte ihn Gräfin Helene begleiten. Sie nahm herzlichen Abschied von ihrem Geliebten Carlo, der ihr fleißig zu schreiben versprach, nicht ahnend, daß dies eine lange, lange Trennung von der Liebsten bedeuten sollte.

Nach der Abwesenheit Helenens erschien Carlo das Leben in Waldenberg trostlos und öde. Er arbeitete viel, komponierte im stillen Kämmerlein, und dies war das Einzige, was ihn über die langen Stunden, welche er fern von der so zärtlich Geliebten verbringen mußte, hinwegtröstete. Carlo hoffte Helenens Rückkehr nach Waldenberg noch abwarten zu können, ehe er bei Beginn der Saison seine Konzertreisen unternahm. Er hatte eine große Anzahl von Städten zu besuchen, in welchen er überall konzertieren mußte. In den Hauptstädten Europas trat er überall auf. Sogar nach Konstantinopel hatte er eine Einladung von Kunstfreunden, die für ihn das Arrangement eines Konzertes übernahmen, erhalten. Carlo freute sich über die in Aussicht stehenden Ehren sowohl, als auch auf die großen Summen, welche ihm zugesichert waren. Er war kein Geldmensch, sondern wie alle Künstler fast schien er nur das Geld als Mittel zum sorgenfreien, schönen Lebensgenusse zu betrachten. Seitdem er aber mit Helene verlobt war, trachtete er auch danach, das Erworbene gut verzinslich anzulegen, noch mehr dazu zu bekommen und das Vermögen, das er sich bereits erspielt hatte, so zu vergrößern, daß er einmal seiner Frau ein angenehmes Los zu bieten imstande sei. Auf Helenens Reichtum wollte er ganz Verzicht leisten, das war des Künstlers größter Ehrgeiz! Ihm sollte keiner nachsagen können, daß der schnöde Mammon ihn verlockt habe, die schöne Gräfin zu begehren. Schon der bloße Gedanke, man dürfte einen solchen Verdacht gegen ihn hegen, trieb Carlo das Blut ins Gesicht. Er war stolz, der Sohn des Arbeiters! Ebenbürtig der Geliebten hatte ihn seine hohe Kunst gemacht, nun sollte sie ihn auch reich machen! – –

Die kleinen Kompositionen für die Violine, welche Carlo in seinen Mußestunden, schöpferischen Anwandlungen nachgebend, niedergeschrieben hatte, fanden gut zahlende Verleger. Der junge Künstler würde noch viel dieser Musikstücke haben zu gutem Honorare unterbringen können, hätte er mehr Zeit gehabt, sich der Komposition zu widmen. So aber besaß er den gewiß anerkennenswerten Eifer, dem Publikum in der kommenden Saison ganz neue Stücke zum Vortrag zu bringen, die er bisher in keinem seiner Konzerte gespielt. Er, Carlo Cartano, machte es nicht, wie so viele Andere, die in jeder Stadt dasselbe Konzert mit demselben schon bereits in großer Anzahl vorher angefertigten Programme geben. Nein, trotzdem es eine Riesenarbeit war, alle die Kompositionen zu bewältigen und minutiös genau auswendig zu lernen erledigte sich Carlo dieser Aufgabe mit Eifer und Hingabe. Er spielte in jedem Konzert neue Sachen, nur in den Einlagen und Dreingaben gestattete er sich eine Wiederholung von besonders beliebten und beifällig aufgenommenen Nummern. Man kann sich denken, wie sehr die Vorbereitung für seine Konzerte den jungen Künstler in Anspruch nahm und welche Anforderungen das fortwährende Ueben und Auswendiglernen an seine Nerven stellte. Es war deshalb in gewisser Hinsicht gut für Carlo, daß Helene ferne weilte. Der Gedanke an sie konnte ihn im besten Schaffen doch zerstreuen oder auch zu erneutem Eifer anspornen. Die Zusammenkünfte mit der lieblichen Braut, wie der Künstler nur die junge Gräfin im Stillen nannte, erfrischten ihn aber auch, belebten und beseligten den liebenden Mann. Heiß sehnte er sich oft nach ihr und dann ging er zu ihrer Mutter! Ein herzliches Entgegenkommen und viel Verständnis für seine Kunst fand Carlo Cartano seit der frühesten Jugend Tage an bei der edlen, hochgebildeten Frau, die dem Weibe seiner Liebe das Leben geschenkt. Die Gräfin brachte dem jungen Manne ein großes, freundliches Interesse für alles, was ihn anging, entgegen. Oft brachte er seine Violine mit. Dann kamen wundervolle Stunden für Gräfin Herzfeld und ihre Verwandte Ada. Der geniale Meister spielte nur für die beiden Frauen allein. Seine Geige sang ihnen wunderbare Lieder voll süßen Wohllauts und himmlischer Harmonie. Der Welt entrückt schien Carlo, der sein bestes Können offenbarte. So schmeichelnd und weich drangen die Töne in Ohr und Herz seiner andächtig lauschenden Zuhörerinnen und alles, was gut und edel in ihnen war, wurde lebendig. Der »Sohn des Arbeiters« verstand es, ihre Herzen zu erwecken. Dann gedachte wohl Helenens Mutter des fernen, leidenden Gatten! Würde er gesund und wohl bald zu ihr zurückkehren? Sehnsucht nach dem geliebten Manne und auch herzliches Verlangen nach der einzigen, lieben Tochter regte sich im liebenden Frauengemüte. Ach und Sehnsucht nach Helene, der Göttin seines Lebens, war es auch, die Carlo durchglühte! Sehnsucht führte ihm den Bogen, heißes, ungestümes Verlangen nach ihr zitterte in seinen Nerven und strömte durch die Fingerspitzen in die Saiten. Dann fanden leidenschaftliche, feurige Weisen ihren Weg zu den Ohren der Hörerinnen. Die Violine klagte und schluchzte! Laute, gleich der menschlichen Stimme rangen sich bebend, zitternd und klagend aus dem kleinen, unscheinbaren Holzkasten, den vor vielen, vielen Jahren im fernen, sonnigen Italien die Hand des Meisters zusammenfügte! Welcher unscheinbaren Hilfsmittel bedient sich das Genie, Großes, Wunderbares zu vollbringen! Das dachten oft die beiden Gräfinnen, wenn sie Carlo Cartanos einzig schönem Violinspiele lauschten. Dann war es den frommen Frauen, als seien sie im Gotteshause und als spräche der Schöpfer zu ihnen in einer Sprache, wunderbarer und eindringlicher als Orgelton und Priesterwort. Auch die Kunst hat ihre Weihestunden. – – –

Wieder einmal war Carlo im Schlosse und wieder hatte er vor den beiden Damen länger denn eine Stunde gespielt, oder wie die Gräfin oft scherzend sagte: »ein Konzert im kleinen Kreise gegeben«. Jetzt ließ Carlo den Bogen sinken. In seinen Augen lag noch der schwärmerische Glanz, den sie stets annahmen, wenn er spielte und beim Spielen sich ganz im Selbstkomponieren vergaß. Helenens Mutter trat auf den jungen Meister zu. Sie reichte ihm die Hand und sagte herzlich:

»Das war wieder einmal ein Kunstgenuß! Vielen innigen Dank! Sie verwöhnen uns recht, Herr Carlo! Was werden wir anfangen, wenn Sie einmal wieder abgereist sind und anderen Ihre Konzerte geben? Das wird dann sehr still und einsam hier in Waldenberg im Winter werden!«

Carlo horchte erstaunt auf, denn es war ihm schon von Helene erzählt worden, die gräfliche Familie werde in der kommenden Saison sehr gesellig leben, viel Besuche bekommen, große Jagden seien geplant und zur Karnevalszeit wollte man nach München reisen. Es mußte wieder eine Aenderung eingetreten sein und Carlo fühlte ein gewisses Unbehagen, mehr zu erfahren. Helenens letzter Brief war so hoffnungsfroh auf ein baldiges Wiedersehen, vor Carlos Abreise noch, gewesen. Gräfin Ada dankte nun Carlo ebenfalls für sein Spiel und da sie seine heimliche Neigung zu Helene längst erraten hatte, bemerkte sie:

»Von meiner Nichte Helene soll ich Ihnen auch herzlichste Grüße bestellen. Sie schrieb heute, die Briefe trafen am Mittag ein!«

»Besten Dank,« erwiderte Carlo, »gnädigster Komtesse und dem Herrn Grafen geht es hoffentlich gut?«

»Danke,« antwortete anstatt Ada die Gräfin. »Helene geht es sehr gut, aber meinem lieben Manne dürfte es besser gehen. Er hat eine starke Erkältung gehabt und hustet immer noch. Deshalb spricht der dortige Arzt noch von einer Verlängerung des Aufenthaltes in Brunnen und schlägt sogar vor, daß mein lieber Mann den ganzen Winter, von Oktober bis April, im Süden zubringen soll. Er empfiehlt dringend einen Aufenthalt in Helouan oder Biskra. Meinem Manne ist natürlich der Gedanke entsetzlich, so lange von Hause fort bleiben zu müssen! Aber ich werde entschieden dazu raten, daß er dennoch seinen Winteraufenthalt im Süden nimmt. Unsere Gebirgsluft ist viel zu rauh. Sie wissen, Herr Carlo, mein Mann hat fast jeden Winter mit Influenza zu tun! Das ist jetzt, wo sein Herz angegriffen ist, doppelt gefährlich für ihn und wir müssen alles zu verhüten trachten, was ihm schädlich sein könnte. Professor Schott in Nauheim hat mich nicht wenig beunruhigt diesen Sommer. Er glaubt, das Leiden meines lieben Mannes sei bereits in bedenklicher Weise vorgeschritten und wir müssen im nächsten Jahre die Kur bei Zeiten beginnen!«

»Das tut mir aber aufrichtig leid,« versetzte Carlo. Er hatte die Gräfin angehört, aber nur wenig von ihrer Rede verstanden. Nur der Gedanke beschäftigte ihn: Helene wird doch nicht auch so lange fortbleiben wie ihr Vater? Das wäre ja entsetzlich. So fragte er dann auch rasch:

»Begleiten Sie, gnädigste Frau, den Herrn Gemahl nach dem Süden?«

Die Gefragte schüttelte den Kopf und gab zur Antwort:

»O, wie gerne würde ich das tun! Aber meine Gegenwart hier ist in der Abwesenheit des Grafen doppelt notwendig. Ich muß mit unserem Hüttendirektor sowohl, als auch mit dem Gutsinspektor und dem Oberförster das Geschäftliche beraten und erledigen! Das kann sonst niemand, Helene ist nicht eingeweiht! An ihr wird es nun sein, den Vater auch im Winter zu begleiten. Er liebt die Tochter ja auch so sehr und ist ganz entzückt davon, wie sie sorgsam und lieb ihn pflegt! Die Reisen sind auch für meine Tochter sehr interessant und bildend. Sie lernt Welt und Menschen kennen und ich bin gewiß, Helene freut sich auf die Reise.« – – Tante Ada warf hier aber dazwischen, sie sah Carlo dabei freundlich an:

»Ich weiß nicht, ob Helenchen sich gerade darauf sehr freut! Sie hat noch garnicht getanzt und sollte diesen Winter eingeführt werden. Besonders freute sie sich auf den Münchener Karneval.«

Die Gräfin widersprach:

»Helene machte sich garnicht viel aus dem Tanzen, Ada! Das kann sie übrigens alles im nächsten Winter nachholen! Bis dahin ist der Papa, hoffen wir, wieder gesund und wir können dann gleich im November nach München zu den Bällen fahren! Helene ist so verständig, daß sie gleich mir die Gesundheit des lieben Vaters in den Vordergrund stellt. Da müssen wir vorderhand alle eigenen Wünsche zurückdrängen. Meinen Sie nicht, Herr Carlo?« – – Der junge Mann verbeugte sich zustimmend, obwohl es ihm gar nicht wohl zu Mute war! Daß er die Geliebte eine so endlose Zeit nicht sehen sollte, faßte er momentan noch gar nicht. Es schien ihm zu unerträglich. Er sann und sann auf einen Ausweg, diese lange Trennungsfrist abzukürzen. So viele Monate zu leben, ohne die lieben Augen seiner Braut zu sehen, das hielt er einfach nicht aus! Mechanisch erwiderte er auf der Gräfin Frage:

»Gewiß, gnädigste Gräfin! So leid es mir auch sein wird, den Herren Grafen und die Komtesse nun nicht mehr vor meiner Abreise sehen zu dürfen, muß ich doch auch nur das wünschen, was zu meines edlen Wohltäters Besten ist und ich hoffe nichts sehnlicher, als daß der Herr Graf denn auch eine vollständige Heilung durch den Aufenthalt im Süden finden möchte!«

»Das hoffen und wünschen wir auch!« sprach die Gräfin mit einem tiefen Seufzer. »Leichten Herzens wird mein armer Gatte jetzt gerade nicht fortbleiben, wo die geschäftlichen Verhältnisse im Augenblick nicht gerade die günstigsten sind. Ich denke aber, unser Direktor wird die Schwierigkeiten überwinden, er ist doch eine sehr tüchtige, gewissenhafte Kraft.« – – –

Man sprach noch hin und her über die Hüttenwerke, die Verhältnisse in der Eisen-Industrie – über dieses und jenes! Carlo stand liebenswürdig Rede und Antwort. Er war aber froh, als er sich endlich empfehlen durfte. Daheim angelangt, fand er einen Brief der Geliebten vor, indem sie ihm erzählte, was er schon im Schlosse erfahren hatte. Sie schrieb unter Anderem:

»Daß es mir ein entsetzlicher Gedanke ist, Dich, meinen Carlo, so lange nicht wiedersehen zu sollen, wirst Du mir glauben. Mein Vater ist aber so an den Gedanken gewöhnt, daß ich ihn begleite, daß ich ihm nicht widersprechen will. Wer weiß, wie lange der Himmel ihn noch in unserer Mitte läßt? Er kommt mir manches Mal sehr krank vor und dieser böse Husten erschöpft seine Kräfte!

Wie wäre es aber, mein Teurer – hast Du mir nicht mitgeteilt, daß Du in Konstantinopel auftreten mußt? Ich denke, von dort ist die Reise nach Biskra, wohin wir jedenfalls fahren werden, nicht allzu weit. Wenn Du das möglich machen könntest, mein Carlo, mich in B. zu besuchen! Das wäre ja entzückend! Dieser Gedanke gibt mir Trost für die lange, lange Zeit, der ich fern von Dir, mein Lieber, entgegengehen werde.« – – –

Carlo war entschlossen, auf alle Fälle Helenens Wunsch, von Konstantinopel aus nach der Oase in der Sahara zu reisen, zu erfüllen. Auch er schöpfte Mut und Kraft in dieser verlockenden Aussicht. Er beantwortete sofort der Geliebten Brief, beklagte, daß er sie nun nicht mehr in Waldenberg wiedersehen könne, weil seine Verpflichtungen ihn früher abriefen und versprach ihr ein Wiedersehen im fernen Orient. – – –

Bei seinem Abschiedsbesuche im Schlosse erwähnte der Künstler so beiläufig, daß er im Februar in Konstantinopel konzertiere und, wenn es ihm irgend möglich sei, werde er dann den Abstecher von da nach Biskra machen, um sich persönlich nach dem Befinden des Grafen zu erkundigen.

»Das tun Sie ja doch, Herr Carlo!« rief die Gräfin erfreut. »Sie würden meinem Gatten, der so große Stücke auf Sie hält, eine unendliche Freude bereiten!« – Carlo versprach es und so wurde nun von des jungen Künstlers Besuch in Biskra bereits als von etwas ganz Feststehendem gesprochen! – – –

* * *

Der junge Meister überwand die anstrengenden Konzertreisen, dank seiner gesunden Natur, außerordentlich gut. Er erntete überall neue Lorbeeren und die glänzenden Kritiken trugen dazu bei, ihm allerorten die Wege zu ebnen, so daß er von Fürstlichkeiten und hochstehenden Persönlichkeiten ausgezeichnet wurde. Er berichtete in seinen Briefen der Geliebten getreulich von seinen Erlebnissen. Helene war stolz auf Carlo und sie konnte nur mit Ungeduld erwarten, ihn wiederzusehen. Endlich – endlich war der Tag da, wo sie ihn wieder begrüßen durfte. Wer beschreibt die Wonne dieses Wiedersehens nach langer, schmerzlicher Trennung? Auch für den Grafen war es eine große Herzensfreude, hier im fremden, fernen Lande einen Freund zu sehen, der von der Heimat berichten konnte, wo er das Weihnachtsfest verlebte. Carlo konnte nicht genug von Waldenberg erzählen. Immer noch hatte der Graf Fragen und er bat so lange, bis der Künstler, welcher zuerst nur wenige Tage in Biskra zu bleiben vorhatte, seinen Aufenthalt auf nahezu drei Wochen ausdehnte, zur innigen Freude Helenens. – – –


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