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»Marnu, Marnu pimih!« Diese willkommenen Töne schlugen etwa zehn Tage nach dem in dem vorhergehenden Kapitel geschilderten Ereignissen an mein Ohr. Wieder wurde die Ankunft des Fremden ausgerufen, und die Nachricht wirkte auf mich wie ein Zauberwort. Ich war bereits glücklich, daß ich wieder mit jemandem in meiner Sprache sprechen konnte, und völlig entschlossen, auf jede Gefahr irgendeinen Plan mit ihm zu verabreden, um mich aus meiner Lage, die mir unerträglich geworden war, zu befreien. Ich war zu jedem noch so verzweifelten Schritt bereit.
Als Marnu näher kam, gedachte ich besorgt des ungünstigen Ausganges, den unsere erste Begegnung genommen hatte, und als er das Haus betrat, beobachtete ich gespannt, wie man ihn empfangen würde. Zu meiner Freude wurde er mit dem lebhaftesten Vergnügen begrüßt; er redete mich auch freundlich an, setzte sich an meine Seite und begann mit den Eingeborenen zu sprechen. Es zeigte sich jedoch bald, daß er heute keine wichtigen Nachrichten brachte. Ich fragte ihn, woher er komme? Er erwiderte, daß er aus Puiarka, seinem Heimattal, komme, und noch am selben Tag dahin zurückzukehren beabsichtige. Sogleich kam mir ein Gedanke: wenn ich nur unter seinem Schutz bis in dieses Tal gelangte, könnte ich von dort Nukuhiva leicht zu Wasser erreichen. Eine leichte Hoffnung erfüllte mich, ich teilte ihm meinen Plan in wenigen kurzen Worten mit und fragte ihn, wie er am besten auszuführen wäre. Aber er erwiderte in seinem gebrochenen Englisch, er sei überhaupt nicht ausführbar. »Kannaka nicht lassen Sie gehen nirgends,« sagte er, »Sie Tabu. Warum Sie nicht wollen bleiben? Viel Moï-Moï (Schlaf), viel Kai-Kai (Essen), viel Weihini! (junge Mädchen). Oh, sehr guter Ort, Taïpi! Wenn Sie nicht lieben diese Bucht, warum Sie kommen? Sie nicht hören von Taïpi? Alle weiße Männer fürchten vor Taïpi, so keine weißen Männer kommen.«
Seine Worte machten mich völlig niedergeschlagen, und als ich ihm nochmals die Umstände erzählte, unter denen ich ins Tal gekommen war und ihn für mich zu gewinnen suchte, indem ich ihm mein körperliches Leiden schilderte, hörte er mich nur mit Ungeduld an und schnitt mir schließlich das Wort ab, indem er leidenschaftlich rief: »Mich nicht hören Sie reden noch mehr; bald Kannaka werden wild, töten Sie und mich auch. Nicht Sie sehen, er nicht wollen Sie zu mir sprechen überhaupt? – Sie sehen – ah! bald Sie nicht kümmern – Sie werden gesund, er töten Sie, essen Sie, hängen Sie Kopf auf da, wie Happar-Kannaka! Jetzt Sie hören – aber nicht reden noch mehr! Mit Zeit ich gehen; Sie sehen Weg, ich gehen. Ah! Dann eine Nacht Kannaka alle moï-moï (schlafen) – Sie laufen fort – Sie kommen Puiarka. Ich sprechen Puiarka – Kannaka – er nichts tun Sie – Ah! Dann ich nehmen Sie mein Kanu Nukuhiva, und Sie nicht laufen fort Schiff noch mehr.« Mit diesen Worten, denen er durch Gebärden von einer Heftigkeit, die sich nicht schildern läßt, den größten Nachdruck gab, sprang Marnu auf, verließ mich und begann sogleich ein Gespräch mit einigen Häuptlingen, die ins Haus getreten waren.
Jeder Versuch, das Gespräch, das Marnu so entschieden beendet hatte, wieder aufzunehmen, wäre müßig gewesen, er war offenbar nicht geneigt, seine Sicherheit aufs Spiel zu setzen, indem er irgendeinen unüberlegten Schritt für mich tat. Aber der Plan, den er mir vorgeschlagen hatte, schien nicht ganz unausführbar, und ich beschloß, so schnell wie möglich danach zu handeln.
Als er aufstand, um zu gehen, begleitete ich ihn daher mit den Eingeborenen aus dem Hause, um genau zu sehen, auf welchem Weg er das Tal verlassen würde. Ehe er vom Pai-Pai hinabsprang, faßte er meine Hand, warf mir einen vielsagenden Blick zu und rief: »Nun Sie sehen, Sie tun, was ich sagen Sie! – ah! dann Sie tun gut! – Sie nicht tun so – ah! dann Sie sterben!« Im nächsten Augenblick winkte er den Eingeborenen zum Abschied mit seinem Speer, schlug einen Weg ein, der zu einem Engpaß in den Bergen auf der Happar entgegengesetzten Seite führte, und schwand uns rasch aus dem Gesicht.
Ich wußte nun einen Weg zur Flucht; aber wie sollte ich ihn benützen? Ich war stets von den Wilden umgeben; ich konnte nicht von einem Hause zum anderen gehen, ohne daß mich einige begleiteten; und selbst in der Nacht, wenn alles schlief, schien die leiseste Bewegung, die ich machte, die Aufmerksamkeit derer, die auf den nächsten Matten schliefen, zu erregen. Trotz alledem beschloß ich, sogleich den Versuch zu machen. Wenn ich ihn nur mit der geringsten Aussicht auf Erfolg unternehmen wollte, mußte ich einen Vorsprung von mindestens zwei Stunden haben, ehe die Inselbewohner meine Abwesenheit entdeckten; denn der Alarmruf klang so schnell durchs ganze Tal, und die Eingeborenen waren mit den Wegen durch die Haine und das Dickicht natürlich so vertraut, daß ich nicht hoffen konnte, lahm, geschwächt und des Weges unkundig, wie ich war, zu entkommen, wenn ich nicht wenigstens diesen Vorteil für mich hatte. Ich konnte also meinen Plan nur des Nachts ausführen, und auch dann nur mit der äußersten Vorsicht.
Man betrat die Wohnung Marheyos durch eine enge niedrige Öffnung in der weidengeflochtenen Wand an der Vorderseite. Dieser Ausgang wurde jede Nacht, ohne daß irgendein Grund dafür ersichtlich gewesen wäre, wenn alle zur Ruhe gegangen waren, geschlossen, indem man eine schwere Schiebetür davorzog. Sie bestand aus Brettern, die sehr geschickt durch Bindsel aus Flechtwerk zusammengefügt waren. Wenn irgendjemand hinauswollte, machte das Zurückschieben dieser roh gezimmerten Türe solchen Lärm, daß alles aufwachte; und ich hatte mehr als einmal bemerkt, daß die Eingeborenen dann ebenso gereizt wurden, wie zivilisiertere Menschen im gleichen Fall.
Diese Schwierigkeit wollte ich in folgender Weise umgehen: Ich wollte im Laufe der Nacht kühn aufstehen, die Tür beiseiteschieben und aus dem Hause gehen, unter dem Vorwand, daß ich nur einen Trunk aus der Kalebasse tun wollte, die außerhalb des Wohnraums in einer Ecke des Pai-Pai stand. Beim Zurückkommen wollte ich die Tür hinter mir offen lassen, überzeugt, daß die Eingeborenen zu lässig sein würden, sie zu schließen, mich wieder auf meine Matte strecken und geduldig warten, bis alle wieder eingeschlafen waren. Dann wollte ich mich hinausschleichen und sogleich den Weg nach Puiarka einschlagen.
Schon in der nächsten Nacht nach Marnus Abschied ging ich an die Ausführung. Als es ungefähr Mitternacht schien, stand ich auf und zog die Schiebetür weg. Die Eingeborenen fuhren empor, genau wie ich es erwartet hatte, und einige fragten: »Arwehr pu awa, Tommo?« (Wohin gehst du, Tommo?) »Wai« (Wasser), antwortete ich lakonisch und griff nach der Kalebasse. Auf diese Antwort legten sie sich wieder hin, und zwei Minuten später kehrte ich zu meiner Matte zurück und erwartete gespannt und ängstlich das Ergebnis.
Ich hörte, wie die Wilden sich unruhig hin und her warfen, aber allmählich schien einer nach dem anderen wieder einzuschlafen, und hocherfreut über die Stille, die eintrat, wollte ich mich eben wieder von meinem Lager erheben, als ich ein leichtes Rascheln hörte und eine dunkle Gestalt zwischen mir und der Türöffnung sah: die Schiebetür wurde vorgeschoben und der es getan hatte – wer er immer sein mochte –, kehrte zu seiner Matte zurück. Das war ein schlimmer Schlag für mich; aber wenn ich in dieser Nacht noch einen zweiten Versuch unternommen hätte, so hätte es den Verdacht der Eingeborenen wecken können; ich mußte ihn, wenn auch ungern, auf die nächste Nacht verschieben. Mehrere Male wiederholte ich nun in den folgenden Nächten das gleiche Manöver, aber mit so wenig Erfolg wie zuvor. Und da ich unter dem Vorwand, meinen Durst löschen zu wollen, das Haus verließ, stellte Kory-Kory, entweder weil er argwöhnisch geworden war, oder auch nur, um mir gefällig zu sein, jeden Abend eine Kalebasse voll Wasser neben mir auf die Matten.
Selbst unter diesen ungünstigeren Umständen machte ich den gleichen Versuch wieder und wieder; aber sooft ich aufstand, stand auch mein Diener auf, der mich offenbar nicht aus den Augen verlieren wollte. Schließlich mußte ich die Sache zunächst aufgeben; ich suchte mich mit dem Gedanken zu trösten, daß mir die Flucht auf diese Weise doch einmal gelingen müßte.
Bald nach Marnus Besuch verschlechterte sich mein Zustand derart, daß ich nur mit äußerster Schwierigkeit gehen konnte, selbst wenn ich mich auf einen Speer stützte, und Kory-Kory mich wie früher täglich zum Fluß hinabtragen mußte.
Während der heißen Zeit des Tages lag ich stundenlang auf meiner Matte, und während beinahe alle um mich her sorglos schlummerten, blieb ich wach und lag in düsteren Gedanken über das Schicksal, gegen das weiterer Widerstand vergeblich schien. Ich dachte geliebter Freunde, die Tausende von Meilen von der wilden Insel entfernt lebten, auf der man mich gefangenhielt, bedachte, daß sie mein schreckliches Schicksal nie erfahren und vielleicht noch lange hoffen und meine Rückkehr erwarten würden, wenn mein Körper längst Staub im Tale war, und ein kalter Schauer überlief mich.
Jede Kleinigkeit, die ich in diesen langen Leidenstagen vor meinen Augen sah, ist meinem Gedächtnis aufs lebhafteste eingeprägt. Auf meine Bitte hatte man mir die Matten so gelegt, daß ich durch die Tür sehen konnte, wie Marheyo draußen in geringer Entfernung an seiner Hütte aus Zweigen baute.
Wenn meine sanfte Fayaweh und Kory-Kory sich neben mir hinstreckten, und mich für eine Weile völlig in Ruhe ließen, dann verfolgte ich die kleinste Bewegung des sonderbaren alten Kriegers mit einem merkwürdigen Interesse. Da saß er ganz allein in der Stille des tropischen Mittags und flocht die kleinen Blätter seiner Kokoszweige zusammen oder rollte gedrehte Rindenfasern auf seinem Knie, um die Schnüre zu verfertigen, mit denen er das Dach eines winzigen Häuschens festknüpfte. Bisweilen unterbrach er seine Beschäftigung, und wenn er meinen traurigen Blick auf sich gerichtet sah, machte er eine Handbewegung, die tiefes Mitleid ausdrückte, kam dann langsam auf das Haus zu, trat auf den Zehenspitzen ein, besorgt, die Schlummernden nicht zu stören; dann nahm er mir den Fächer aus der Hand, setzte sich neben mich und bewegte ihn sachte hin und her, wobei er mir mit großem Ernst ins Gesicht sah.
Gerade außerhalb des Pai-Pais standen drei prächtige Brotfruchtbäume, die in einem Dreieck angeordnet vor dem Hauseingang wuchsen. Noch jetzt sehe ich ihre schlanken Stämme vor mir und die anmutigen Unebenheiten ihrer Rinde, auf denen mein Auge täglich ruhte, während ich so einsam lag und sann. Es ist seltsam, wie unsere Empfindungen sich an leblose Dinge knüpfen, besonders in trüben Stunden. Mitten im Lärm und in der Bewegung der stolzen geschäftigen Stadt, in der ich wohne, sehe ich plötzlich jene drei Bäume so lebhaft vor mir, als ob sie wirklich dastünden, und fühle das stille beruhigende Gefühl, das ich damals empfand, wenn ich stundenlang ihre höchsten Zweige anmutig im leisen Winde schaukeln sah.