Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wenn ich an diese Zeit zurückdenke und mich erinnere, wie zahlreiche Beweise ihrer Freundschaft und Achtung die Eingeborenen des Tales mir gaben, so begreife ich kaum, warum ich trotz alledem von den düstersten Ahnungen gequält wurde und meine Tage in tiefster Traurigkeit verbrachte. Wohl waren die verdächtigen Umstände, unter denen Tobys Verschwinden erfolgt war, an sich genug, um mich den Wilden gegenüber mißtrauisch zu machen, in deren Gewalt ich war, besonders wenn ich daran dachte, daß diese Leute, so freundlich und achtungsvoll sie mir begegneten, doch im Grunde Menschenfresser waren.
Aber die Hauptquelle meiner Sorge und was mir jeden Genuß verbitterte, war die geheimnisvolle Krankheit meines Beins, die unvermindert fortdauerte. Weder die Kräuterbehandlung Teinors, noch die härteren Maßnahmen des alten Wundarztes und Kory-Korys liebevolle Pflege hatten mir geholfen. Ich war nahezu ein Krüppel, und der Schmerz war manchmal geradezu unerträglich. Das unerklärliche Leiden zeigte keine Spur einer Besserung, im Gegenteil, es nahm täglich an Heftigkeit zu und drohte zum Schlimmsten zu führen, wenn nicht bald geeignete Abhilfe geschaffen wurde. Und jedenfalls wußte ich, daß ich, solange das Übel bestand, keine Gelegenheit zur Flucht aus dem Tal benützen konnte.
Ein Ereignis, das nach meiner Schätzung sich etwa drei Wochen nach Tobys Verschwinden zutrug, bewies mir, daß die Eingeborenen, aus welchem Grunde immer, mir unter keinen Umständen gestatten würden, sie zu verlassen.
Ich bemerkte eines Morgens, daß die Leute in der Nachbarschaft sich höchst aufgeregt benahmen, und ich entdeckte bald, daß ihre Aufregung von dem unbestimmten Gerücht herkam, daß man Boote in weiter Entfernung gesehen hätte, die sich der Bucht näherten.
Zufällig hatten meine Schmerzen an diesem Tage ein wenig nachgelassen; ich fühlte mich wohler als sonst, auch meine Stimmung war besser und ich hatte in Kory-Korys Aufforderung, den Häuptling Mehivi im »Tai« zu besuchen, gewilligt. Ich habe diesen Ort, der sich innerhalb der mit Tabu belegten Haine befand, bereits geschildert. Die geweihte Stelle lag nicht weit von Marheyos Wohnung entfernt, zwischen ihr und dem Meer; der Weg zum Strand lief an der Vorderfront des Tai vorüber und führte dann den Saum der heiligen Haine entlang.
Ich lag im Inneren des Gebäudes in Gesellschaft Mehivis und mehrerer anderer Häuptlinge auf den Matten, als jene Nachricht kam. Ein freudiges Erbeben lief durch meinen ganzen Körper: vielleicht kehrte Toby zurück. Ich sprang sogleich auf und unwillkürlich wollte ich ohne weiteres zum Strand hinabeilen, ganz ohne die Entfernung und meine Lahmheit zu bedenken. Als Mehivi bemerkte, welche Wirkung die Nachricht auf mich machte, und wie ungeduldig ich schien, ans Meer zu kommen, nahm sein Gesicht wieder jenen unbeugsam starren Ausdruck an, der mich an dem Nachmittag unserer Ankunft im Hause Marheyos so eingeschüchtert hatte. Als ich das Tai verlassen wollte, legte er mir die Hand auf die Schulter und sagte ernst: »Ebo! ebo!« – »Warte, warte.« Nur von dem einen Gedanken erfüllt, achtete ich gar nicht darauf, sondern wollte an ihm vorbeieilen, als er plötzlich in gebieterischem Ton »Moih« – »Setze dich nieder« zu mir sagte. Obschon die Veränderung in seinem Benehmen mir auffiel, war meine Aufregung doch zu groß, als daß ich dem unerwarteten Befehl gehorcht hätte, und ich humpelte noch auf den Rand des Pai-Pai zu, wobei ich Kory-Kory, der mich zurückzuhalten suchte, an dem einen Arm mit mir zog, als die Eingeborenen, die um mich saßen, aufsprangen und sich längs der offenen Front des Gebäudes in einer Reihe aufstellten, während Mehivi mich finster ansah und seinen Befehl in noch strengerem Tone wiederholte.
Fünfzig wilde Gesichter richteten ihre drohenden Blicke auf mich, und zum erstenmal begriff ich die ganze Tragweite der Tatsache, daß ich ein Gefangener war. Die plötzliche Erkenntnis war erschütternd, ich sah meine schlimmsten Befürchtungen wahr werden. Ich sah auch sofort, daß jeder Widerstand meinerseits nutzlos sein mußte, mir wurde elend zumute, ich setzte mich wieder auf die Matte und überließ mich der Verzweiflung.
Ich sah nun, wie die Eingeborenen, einer nach dem anderen, am Tai vorüber den Weg zur See hinabeilten. Die werden nun bald, dachte ich, vielleicht mit meinen Landsleuten zusammentreffen, die mich leicht befreien könnten, wenn sie von meiner Lage wüßten. Mir war unbeschreiblich jammervoll zumute; und bitter verwünschte ich die Treulosigkeit Tobys, der mich meinem Schicksal überlassen hatte. Vergeblich bot Kory-Kory mir Essen, zündete meine Pfeife an und suchte mich durch seine ungeschlachten Spaße, über die ich bisweilen gelacht hatte, abzulenken. Dieses letzte Mißgeschick, obwohl ich es oft vorausgesehen und gefürchtet hatte, schlug jetzt, da es wirklich eintraf, mich völlig nieder.
So allein meinem Kummer hingegeben, blieb ich mehrere Stunden im Tai, bis laute Rufe aus den Wäldern jenseits des Hauses die Rückkehr der Eingeborenen vom Strande verkündeten.
Ob an diesem Morgen Boote in der Bucht gewesen waren oder nicht, habe ich nie erfahren. Die Eingeborenen leugneten es, aber ich dachte, daß sie mich täuschen und die Heftigkeit meines Kummers damit lindern wollten. Wie dem aber sein mochte, ich wußte jetzt, daß die Taïpis mich gefangenhalten wollten. Dabei behandelten sie mich mit immer gleicher Aufmerksamkeit, so daß ich mir ihr Verhalten gar nicht erklären konnte. Wäre ich in der Lage gewesen, sie irgendwelche Handwerkskunst zu lehren, oder hätte ich mich ihnen sonst irgendwie nützlich erwiesen, so hätte ich einen Grund für ihr Benehmen gewußt; so blieb es mir vollkommen unbegreiflich.
Während meines ganzen Aufenthalts auf der Insel kam es nur zwei oder dreimal vor, daß die Eingeborenen sich an meine höhere Erkenntnis wendeten, und diese Vorfälle waren so komisch, daß ich sie erzählen muß.
Als wir in das Tal herabstiegen, hatten wir die wenigen Sachen, die wir von Nukuhiva mitgebracht, in einem kleinen Bündel mit uns geführt. In der ersten Nacht hatte ich es als Kopfkissen benutzt. Am folgenden Morgen hatte ich es aufgemacht, um den Inhalt den Eingeborenen zu zeigen; sie blickten darauf mit einer bewundernden Scheu, als ob ich ihnen ein Kästchen voll Diamanten gezeigt hätte und bestanden darauf, daß ein so kostbarer Schatz sicher aufbewahrt werden müßte. Es wurde daher an eine Schnur gebunden, die über die große Längsstange unter dem Dach lief, und daran in die Höhe gezogen, so daß es gerade über meinem gewöhnlichen Lager hing. Wenn ich etwas brauchte, streckte ich nur den Finger nach einem Bambus neben mir aus, und ließ an der Schnur, die daran befestigt war, das Paket herab. Dies war eine sehr bequeme Einrichtung, und ich gab den Eingeborenen zu verstehen, wie ausgezeichnet ich sie fand. Der Hauptinhalt des Bündels waren ein Rasiermesser mit seinem Futteral, Nadeln und Zwirn, oder ein oder zwei Pfund Tabak und ein paar Ellen bunten Kalikos.
Meine ganze Garderobe bestand aus einem Hemd und einem Paar Hosen. Kurz nach Tobys Verschwinden hatte ich im Gedanken, wie lange ich vielleicht noch auf der Insel würde bleiben müssen – wenn es mir überhaupt je gelang, davonzukommen! –, beschlossen, diese Kleidungsstücke abzulegen, um sie in einem erträglichen Zustand zu erhalten für den Tag, an dem ich wieder unter zivilisierte Menschen kommen würde. Ich selbst mußte daher die Tracht der Taïpis anlegen, die ich ein wenig veränderte, um meinen Begriffen von Anstand zu genügen, und in der ich zweifellos so vorteilhaft aussah wie ein römischer Senator in seiner Toga. Ein breiter Streifen von gelbem Tappa, um die Mitte meines Leibes gewickelt, fiel in Falten auf meine Füße, etwa wie ein Damenunterrock, nur daß ich ihn rückwärts nicht in der Weise ausstopfte, in der unsere lieblichen Frauen die erhabene Rundung ihrer Gestalt zu betonen pflegen. Das war mein Hausanzug. Wenn ich ausging, zog ich noch ein weites mantelartiges Kleid aus dem gleichen Stoff über, in das ich mich völlig einhüllte, um mich vor den Sonnenstrahlen zu schützen.
Eines Tages hatte ich ein Loch in den Mantel gerissen, und um den Eingeborenen zu zeigen, daß der Schaden leicht gutzumachen war, ließ ich mein Bündel herunter, nahm Nadel und Faden heraus und begann die Öffnung zuzunähen. Sie betrachteten diese herrliche Kunst mit äußerster Bewunderung, und während ich noch mit dem Steppen beschäftigt war, schlug sich der alte Marheyo, der sich unter den Zuschauern befand, plötzlich vor die Stirne, eilte in eine Ecke des Hauses, zog einen schmutzigen und zerfetzten Streifen ausgeblichenen Kalikos hervor, den er vermutlich einmal am Strande erhandelt hatte, und bat mich eifrig, meine Kunst daran zu versuchen. Ich tat ihm gerne den Gefallen, obwohl sicherlich noch niemals eine so kurze Nadel wie meine so riesenhafte Stiche durch Kaliko geführt hat. Als die Ausbesserung vollendet war, umarmte der alte Marheyo mich väterlich, löste seinen »Maro« – »Gürtel« –, schlug das Kalikotuch um seine Lenden, steckte seine geliebten Schmuckstücke in die Ohren, ergriff seinen Speer und schritt stolz aus dem Hause wie ein tapferer Tempelritter, der eine neue und kostbare Rüstung angelegt hat.
Mein Rasiermesser blieb während meines ganzen Aufenthaltes auf der Insel unbenutzt; obschon es gar nichts Besonderes war, bewunderten die Taïpis es sehr, und Narmonih, einer ihrer Helden, der besonders peinlich und sorgfältig in seiner Toilette war und auf seine Erscheinung hielt – er war der am scheußlichsten tätowierte Mann im ganzen Tale –, wünschte, daß ich es an seinem bereits geschorenen Schädel versuchte.
Die Eingeborenen benützten zum Scheren gewöhnlich einen Haifischzahn, der sich dafür so eignete wie eine einzinkige Gabel zum Heuaufladen. Es war also kein Wunder, daß der scharfsinnige Narmonih die Vorzüge meines Rasiermessers erkannte. Infolgedessen erbat er sich eines Tages diese persönliche Gefälligkeit. Ich gab ihm zu verstehen, daß es zu stumpf wäre und vorher geschliffen werden müsse. Um ihm dies klarzumachen, tat ich, als würde ich es an meiner Handfläche abziehen. Narmonih begriff meine Absicht sogleich, eilte aus dem Hause und kehrte im nächsten Augenblicke mit einem Block, groß wie ein Mühlstein, zurück und bedeutete mir, daß es das wäre, was ich brauchte. Es blieb mir nichts übrig, als ans Werk zu gehen. Er wand sich und schnitt Gesichter unter der Prozedur, aber von meiner Kunstfertigkeit überzeugt, ertrug er den Schmerz standhaft wie ein Märtyrer.
Ich habe Narmonih nie in der Schlacht gesehen, aber auf seinen Mut und seine Tapferkeit will ich schwören. Hatte sein Kopf vorher eine mit kurzen Borsten besetzte Fläche gebildet, so glich er am Schlusse meiner stümperhaften Arbeit einem Stoppelfelde, über das eine Egge gegangen war. Da aber der Häuptling nur die lebhafteste Befriedigung zeigte, hütete ich mich, eine andere Meinung auszusprechen.