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Sechzehntes Kapitel

Tag für Tag verging, und nichts änderte sich in dem Verhalten der Eingeborenen gegen mich. Allmählich verlor ich die Zeitrechnung und versank in jenen Zustand der Apathie, der auf einen heftigen Verzweiflungsausbruch zu folgen pflegt. Plötzlich heilte mein Bein, die Schwellung nahm ab, der Schmerz ließ nach, und ich konnte hoffen, daß ich das Leiden, das mich so lange gequält hatte, bald vollkommen los sein würde. Sobald ich in Gesellschaft der Eingeborenen im Tale umherstreifen konnte, begann ich eine Elastizität des Geistes zu fühlen, in der all jene düsteren Ahnungen schwanden. Eine ganze Schar von Eingeborenen folgte mir, so oft ich das Haus verließ; wohin ich kam, wurde ich mit achtungsvollster Freundschaft aufgenommen, mit den köstlichsten Früchten bewirtet, von dunkeläugigen schönen Mädchen bedient; dabei standen mir stets die Dienste des treuen Kory-Kory zur Verfügung; für einen Aufenthalt unter Kannibalen konnte man es nicht besser haben.

Meine Wanderungen waren allerdings auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt. Der Weg zum Strande war mir durch ein ausdrückliches Verbot untersagt; und nach zwei oder drei vergeblichen Versuchen, die ich ebensosehr aus Neugier, um zu sehen, was geschehen würde, als aus anderem Grunde unternahm, gab ich den Gedanken auf. Etwa heimlich hinzugelangen, war völlig ausgeschlossen, da die Eingeborenen mich stets in größerer Zahl begleiteten; ich kann mich nicht erinnern, daß sie mich auch nur einen einzigen Augenblick allein gelassen hätten.

Die steilen grünen Höhen, die das Talende, wo Marheyos Wohnung stand, umschlossen, machten jede Hoffnung, in anderer Richtung zu entfliehen, unmöglich, selbst wenn ich den tausend Augen der Wilden hätte entgehen können.

Aber diese Betrachtungen störten mich jetzt nur selten; ich gab mich dem Augenblick hin, und wenn mir etwa ein unangenehmer Gedanke kam, so scheuchte ich ihn fort. Wenn ich auf die grüne Landschaft hinaussah, in der ich verborgen lebte, oder zu den Gipfeln der herrlichen Berge emporblickte, die sie umschlossen, dann konnte ich mir gut vorstellen, daß ich mich in den »seligen Gefilden« befand, während jenseits der Höhen eine Welt von Mühsal und Sorge lag.

Nun erschien mir alles in einem neuen Licht, und je mehr ich Gelegenheit fand, die Sitten der Eingeborenen zu beobachten, desto stärker wurde der günstige Eindruck. Was mir als bewundernswert auffiel, war die beständige Heiterkeit, die in dem ganzen Tale herrschte. Es schien keine Sorgen, keine Trübsal, kein Ärgernis im Lande der Taïpis zu geben. Die Stunden flogen fröhlich dahin wie vergnügten Paaren auf einem ländlichen Tanzfest.

All die tausend Quellen der Verärgerung, die der zivilisierte Mensch sich ausgedacht hat, um sein eigenes Glück zu zerstören, gab es hier nicht. Keine Hypotheken, die fällig wurden, keine Wechsel zum Protestieren, keine Rechnungen, keine Ehrenschulden; keine unvernünftigen Schneider und Schuster, die durchaus ihr Geld verlangten; überhaupt keine Gläubiger irgendwelcher Art; keine streitsüchtigen Rechtsanwälte, die die Zwietracht ihrer Klienten nährten und beide Seiten ausbeuteten; keine armen Verwandten, die eine Stelle am Familientisch beanspruchten und sich im einzigen freien Schlafzimmer einquartierten; keine mittellosen Witwen mit hungernden Kindern, die der kalten Wohltätigkeit überlassen blieben, keine Bettler, keine Schuldgefängnisse, keine stolzen, hartherzigen Millionäre, um es mit einem Worte zu sagen: kein Geld! Diese »Wurzel alles Übels« gab es nicht.

In diesem abgeschlossenen Wohnsitz glücklicher Menschen gab es keine boshaften alten Weiber, keine grausamen Stiefmütter, keine vergrämten alten Jungfern, keine liebeskranken Mädchen, keine versauerten alten Junggesellen, keine unliebenswürdigen Ehegatten, keine schmachtenden jungen Männer, keine plärrenden Burschen noch lärmende Rangen. Alles war Lust, Scherz, Heiterkeit und glänzende Laune.

Hier sah man eine Schar Kinder den ganzen langen Tag spielen und sich tummeln, ohne Zanken, ohne Streit. In unserer Heimat hätte die gleiche Schar keine Stunde miteinander spielen können, ohne daß es zum Kratzen und Beißen gekommen wäre. Dort konnte man eine Anzahl junger Frauen und Mädchen sehen, die einander nicht um ihre hübschen Gesichter beneideten; keine wollte feiner und vornehmer sein als die andere, sie trugen keine Fischbeinkorsetts, sondern waren unbefangen, frei und zwanglos glücklich.

Es gab Stellen in dem sonnigen Tale, an die sie sich häufig begaben, um sich mit Blumenkränzen zu schmücken. Wenn man sie so im Schatten eines der herrlichen Haine liegen sah, der Boden rings um sie mit frisch gepflückten Knospen und Blüten bestreut, aus denen sie Kränze und Halsbänder flochten, dann konnte man wirklich glauben, Floras Gefolge zu sehen, das seiner Herrin zu Ehren ein Fest feierte.

Die jungen Männer schienen immer etwas zu tun oder eine Unterhaltung zu haben, die ihnen das Leben abwechslungsvoll und genußreich machte. Ob sie fischten oder Kanus schnitzten oder ihre Schmuckstücke blank rieben, nie sah ich das geringste Zeichen von Streit und Zwietracht unter ihnen.

Die Krieger wahrten eine ruhige Würde; sie begaben sich gelegentlich von einem Hause zum anderen und wurden überall mit Aufmerksamkeit als angesehene Gäste empfangen. Die alten Männer, deren viele im Tale waren, erhoben sich selten von ihren Matten, sondern lagen stundenlang darauf und rauchten und plauderten miteinander mit der ganzen Geschwätzigkeit des Alters.

Das Glücksgefühl, das, soweit ich sehen konnte, im Tale zu herrschen schien, entsprang vornehmlich jenem alles durchdringenden Gefühl, das Rousseau, wie er sagt, einmal im Leben empfand: dem bloßen überschäumenden Gefühl vollkommener körperlicher Gesundheit. Krankheit war unter den Taïpis fast unbekannt. In der ganzen Zeit meines Aufenthaltes habe ich nur einen einzigen Kranken unter ihnen gesehen. Auf ihrer glatten reinen Haut sah man keine Spur irgendeines Leidens.

Indessen wurde die allgemeine Ruhe, die ich eben gepriesen, zu dieser Zeit durch einen Vorfall gestört, der immerhin bewies, daß auch die Bewohner dieser glücklichen Insel nicht ganz von jenen Ereignissen unberührt blieben, die die Ruhe in zivilisierten Ländern stören.

Da ich nun bereits eine beträchtliche Zeit im Tale gelebt hatte, begann ich mich zu wundern, daß die heftige Feindschaft zwischen seinen Bewohnern und denen der benachbarten Bucht von Happar niemals zu einem kriegerischen Zusammenstoß führte. Obgleich die tapferen Taïpis oft genug durch Gebärden ihren unauslöschlichen Haß gegen ihre Feinde und den Abscheu, den sie für ihre kannibalischen Neigungen fühlten, zum Ausdruck brachten, obwohl sie lang und breit von dem mannigfachen Unrecht erzählten, das jene ihnen zugefügt, schienen sie dennoch mit einer wahrhaft bewunderungswürdigen Langmut all diese Unbill geduldig zu ertragen und sich jeden Versuchs einer Vergeltung zu enthalten. Andererseits schienen mir die Happars, die beständig hinter ihren Bergen verschanzt blieben und sich niemals auch nur auf ihren Kämmen zeigten, keinen Grund für den übermäßigen Haß zu geben, den die heroischen Bewohner unseres Tales gegen sie zu empfinden vorgaben, und ich begann zu glauben, daß die blutigen Taten, die ihnen zugeschrieben wurden, stark übertrieben waren.

Und da bis zu dieser Zeit niemals Kriegsgeschrei den heiteren Frieden des Stammes gestört hatte, begann ich andererseits auch an der Wahrheit jener Berichte zu zweifeln, die den Taïpis einen so wilden und kriegerischen Charakter zuschrieben. Ich begann all die schrecklichen Geschichten für Fabeln zu halten, die ich von der unausrottbaren Erbfeindschaft, von ihrem tödlichen Haß und der teuflischen Bosheit gehört hatte, mit der sie selbst an den entseelten Körpern der Erschlagenen ihren Rachedurst scheußlich sättigten, und ich gestehe, daß ich sogar eine Art von Bedauern fühlte, daß meine gräßlichen Erwartungen so vollkommen enttäuscht wurden. Ich empfand ungefähr wie ein Lehrling, der ins Theater geht in der Erwartung, sich an einer blutigen Tragödie mit Mord und Totschlag zu weiden, und bitter enttäuscht ist, wenn statt dessen ein artiges Lustspiel aufgeführt wird.

Ich mußte tatsächlich denken, daß das Volk schlimm verleumdet wurde, und ich stellte moralische Betrachtungen über den Nachteil eines schlechten Leumunds an, der einen Stamm von Wilden, die so friedlich wie Lämmchen waren, in den Ruf eines Verbandes von Eisenfressern gebracht hatte.

Spätere Ereignisse bewiesen mir, daß meine Schlüsse ein wenig voreilig gewesen waren. Eines Tages, gegen Mittag, ich war gerade im Tai, lag dort in Gesellschaft mehrerer Häuptlinge auf den Matten, und hatte mich gerade einem wollüstigen Nachmittagsschlaf hingegeben, als ich durch einen fürchterlichen Schrei geweckt wurde und auffahrend sah, wie die Eingeborenen zu ihren Speeren griffen und hinausstürmten, während der kräftigste der Häuptlinge die sechs Musketen packte, die gegen die Bambuswand gereiht standen, und gleichfalls im Hain verschwand. Von allen Seiten ertönte wildes Schreien, und immer wieder ertönte der Ruf: »Happar! Happar!« Die Inselbewohner liefen am Tai vorüber, quer durchs Tal nach der Seite, die gegen Happar lag. Jetzt hörte ich das scharfe Krachen einer Muskete aus den nahen Hügeln und wilde Stimmen in der gleichen Richtung. Nun erhoben die Frauen, die sich in den Hainen versammelt hatten, ein gewaltiges Geschrei, wie sie es hier wie anderswo in jeder Aufregung und Angst zu tun pflegen, offenbar um sich damit zu beruhigen und andere zu verstören. Bei dieser Gelegenheit machten sie einen so unerhörten und andauernden Lärm, daß man nichts vom Gefecht in den Bergen hätte hören können.

Als ihre Aufregung ein wenig nachgelassen hatte, lauschte ich aufmerksam hinaus. Jetzt krachte ein zweiter Schuß, dem wieder Geheul von den Hügeln folgte. Wieder war alles still und so lange, daß ich zu glauben begann, die feindlichen Armeen wären zu einer Einstellung der Feindseligkeiten gekommen, als, bum! ein dritter Schuß krachte, auf den wie vorher ein wildes Geheul folgte. Dann geschah durch beinahe zwei Stunden nichts Bemerkenswertes, ausgenommen gelegentliche Schreie von der Hügelwand, die aber nicht anders klangen als das Hallo von ein paar ausgelassenen Jungen, die sich in den Wäldern verirrt haben.

Während dieser Zeit war ich auf dem Vorplatz des Tai stehengeblieben, der gerade auf den Berg von Happar hinaussah. In meiner Nähe waren nur Kory-Kory und jene uralten Wilden geblieben, von denen ich früher gesprochen. Diese rührten sich nicht auf ihren Matten und schienen sich nicht bewußt zu werden, daß irgend etwas Ungewöhnliches vor sich ging.

Kory-Kory dagegen schien der Ansicht, daß wir vor großen Ereignissen standen, und suchte mir von ihrer Wichtigkeit einen Begriff zu geben. Jeder Ton, der an unser Ohr drang, schien für ihn bedeutsame Aufschlüsse zu enthalten. Und als wäre er mit einem zweiten Gesicht bedacht, zeigte er mir pantomimisch aufs genaueste, wie die furchtbaren Taïpis in diesem Augenblicke den Übermut der Feinde züchtigten. »Mehivi henna pippih nuih Happar«, rief er alle fünf Minuten und gab mir zu verstehen, daß die Krieger seines Volkes unter ihrem tapferen Führer Wunder der Tapferkeit vollbrachten.

Da ich im ganzen nur vier Schüsse gehört hatte, so schloß ich, daß die Eingeborenen die Musketen ungefähr so handhabten wie die Türken unter Sultan Suleiman die schwere Artillerie bei der Belagerung von Byzanz, wo das Laden eines Geschützes ein bis zwei Stunden in Anspruch nahm. Da weiter nichts aus dem Gebirge zu hören war, schloß ich zuletzt, daß der Kampf irgendwie zu einem Ende gekommen war. Dies schien auch der Fall zu sein, denn bald nachher kam ein Läufer nach dem Tai, fast atemlos vor Anstrengung, und brachte die Nachricht, daß seine Landsleute einen großen Sieg errungen hatten: »Happar pu arva! Happar pu arva!« – »Die feigen Happars sind entflohen!« Kory-Kory geriet in Ekstase und hielt eine lebhafte Ansprache an mich, die, soweit ich sie zu verstehen vermochte, offenbar besagte, daß dies Ergebnis nur seinen Erwartungen entsprach, und er mir außerdem begreiflich machen wollte, daß es selbst für eine Armee von Feuerfressern ein ganz hoffnungsloses Unternehmen sein würde, die unwiderstehlichen Helden unseres Tales bekämpfen zu wollen. All dem pflichtete ich natürlich vollkommen bei, und mit nicht geringem Interesse erwartete ich die Heimkehr der Sieger, deren Triumph, wie ich fürchtete, nicht ohne Verluste erkauft sein mochte.

Aber auch hierin irrte ich mich; denn Mehivi schien bei seinen kriegerischen Unternehmungen mehr der Taktik des Fabius Cunctator als der Napoleons geneigt, er schonte seine Hilfsquellen und setzte seine Truppen keiner unnötigen Gefahr aus. Der Gesamtverlust der Sieger in dieser so hartnäckig umstrittenen Affäre betrug an Toten, Verwundeten und Vermißten einen Zeigefinger nebst einem Teil des Daumennagels, den der frühere Eigentümer in der hohlen Hand mitbrachte, ferner einen recht arg gequetschten Arm und einen beträchtlichen Bluterguß am Schenkel eines Häuptlings, den ein Happarspeer wirklich schlimm getroffen hatte. Die Verluste des Feindes konnte ich nicht erfahren, ich nehme an, daß es ihnen gelungen war, ihre Toten mitzunehmen.

Dies war der Ausgang der Schlacht, soweit ich das Ergebnis beobachten konnte, und da sie für ein ungeheures Ereignis im Tale angesehen wurde, so schloß ich wahrscheinlich mit Recht, daß die Kriege der Eingeborenen nicht allzu blutig verliefen. Ich erfuhr später, wie es zu dem Scharmützel gekommen war. Man hatte eine Anzahl von Happars entdeckt, die auf der Taïpiseite der Berge umherschlichen und unmöglich Gutes im Schilde führen konnten; es wurde Alarm geschlagen und die Eindringlinge nach längerem Widerstand über die Grenze zurückgejagt. Aber warum hatte der unerschrockene Mehivi den Krieg nicht nach Happar hinübergetragen? Warum hatte er keinen Einfall in das feindliche Tal unternommen und Siegestrophäen heimgebracht, Material für das Kannibalenfest, das, wie ich gehört hatte, jedes Gefecht zu beschließen pflegte? Ich begann zu glauben, daß diese scheußlichen Feste sehr selten vorkamen, wenn es überhaupt der Fall war.

Zwei oder drei Tage lang war dieses Ereignis allgemeines Gesprächsthema; dann verlor sich die Aufregung allmählich, und das Tal war wieder ruhig und friedlich wie zuvor.


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