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20. Kapitel.

Einige Zeit vorher war ein leichter Wagen die Straße dahergerollt gekommen. Wo die Straße sich teilte, um nach Rheinswalden und Rodriganda zu führen, war der Wagen in der letzteren Richtung eingebogen. Man sah auf den ersten Blick, daß es ein Mietwagen war, der Kutscher paßte zu sehr auf den Bock einer Droschke. Der Insasse, der halb liegend im Fond des Wagens ruhte, war ein noch junger Mann, dessen militärischer Überrock in ihm einen Offizier erkennen ließ.

Nach kurzer Zeit tauchte das prächtige Gebäude des neuen Rodriganda vor ihm auf. Das Hofportal stand bereits offen, so daß der Wagen passieren und vor der Rampe halten konnte. Der Offizier stieg aus, lohnte den Kutscher, der das Schloß wieder verließ, ab und stieg die Freitreppe empor.

Dort wurde er von einem kleinen Mann empfangen, den das Rollen des Wagens auf seinen Posten getrieben hatte. Es war der Kastellan des Schlosses.

»Herr Oberleutnant. Willkommen, willkommen!« rief er. – »Guten Morgen, lieber Alimpo. Bereits munter, in solcher Frühe?« – »Ja, Morgenstunde hat Gold im Munde. Das sagt meine Elvira auch.« – »Ist auch sie bereits wach?« – »Das versteht sich.« – »Aber die Herrschaften ruhen noch?« – »Nein. Wie könnte man schlafen, da man wußte, daß Sie eintreffen.« – »So hat Ludwig meine Ankunft gemeldet?« – »Ja, er kam vorgestern an.« – »Ist er hier auf Rodriganda?« – »Nein. Er ist in Rheinswalden. Er hängt zu sehr an dem Hauptmann.« – »Wo befinden sich die Herrschaften?« – »Man hat sich noch nicht versammelt, es wird aber sogleich geschehen.« – »So gehe ich nach dem kleinen Salon.«

Nachdem der Offizier vorher Überrock und Kopfbedeckung abgelegt hatte, trat er in den angegebenen Raum. Dort stand eine schöne, jugendliche Mädchengestalt am Fenster. Sie wandte sich um, als er eintrat.

»Kurt!« – »Röschen!«

Sie eilten aufeinander zu und reichten sich die Hände.

»Willkommen, lieber Kurt«, sagte das liebliche Wesen im Ton der aufrichtigsten Freude. »Ich wollte die erste sein, die dich begrüßt.« – »Und ich wünschte so sehnlichst, vor allen anderen dich zu sehen.« – »Wirklich? Nun, so ist dir dein Wunsch erfüllt. Dafür aber bleibst du dieses Mal recht sehr lange bei uns. Nicht wahr?« – »Leider ist mir das nicht möglich. Ich reise bereits heute oder spätestens morgen wieder ab von hier.«

Ihr Gesichtchen nahm den Ausdruck der Enttäuschung an.

»Das ist häßlich, recht häßlich von dir«, sagte sie schmollend. – »Oder von Bismarck.« – »Bismarck? Ist er es, der dich wieder fortschickt?« – »Ja, liebe Rosita.« – »So hast du wohl wieder einmal eine so schwierige, diplomatische Aufgabe zu lösen, die kein anderer fertigbringt als du allein?« – »Jeder andere würde es ebensogut fertigbringen wie ich. Es ist Glück und Zufall, daß gerade ich es bin, dem man sie anvertraut.« – »Und gehst du lange fort?«

Kurt sah ihr ein Weilchen bedeutsam in die Augen und antwortete:

»Auf lange, vielleicht auf sehr lange Zeit.« – »Wie garstig. Ich werde auf Bismarck ernstlich böse werden, wenn er fortfährt, dich uns in dieser Weise zu entziehen. Heute zurück von Rußland, und augenblicklich wieder fort. Das darf man sich nicht gefallen lassen.« – »Man hat zu gehorchen, liebes Röschen, selbst wenn man gar nicht wiederkehren dürfte.« – »Das ist ja aber doch bei dir nicht der Fall?«

Er zuckte die Achsel.

»Ich gehe gerade dahin, wo bereits so mancher verschwunden ist.«

Die Röte wich aus ihren Wangen.

»Wohin wäre das, Kurt?« – »Rate einmal.« – »Ein Land, in dem mancher verschwunden ist?« – »Ja.« – »Das wäre wohl das weite Amerika?« – »Allerdings. Aber welcher spezielle Teil desselben?«

Jetzt blitzte es in ihren Augen auf.

»Mein Gott, wenn ich recht riete«, sagte sie. »Meinst du Mexiko?«

Er nickte ihr lächelnd zu.

»Gerade das meine ich«, sagte er.

Da schlug sie freudig erstaunt die kleinen Händchen zusammen.

»Das ist wahr, das ist gewiß und wahrhaftig wahr?« – »Ja. Ich hatte gestern Audienz bei dem Grafen, um ihm zu referieren. Bei dieser Gelegenheit erhielt ich nebst neuen Instruktionen den Befehl, schleunigst nach Mexiko aufzubrechen. Ich setzte mich auf die Bahn, fuhr nach Mainz und nahm einen Mietwagen, um so rasch wie möglich hier anzukommen und euch diese Nachricht zu bringen.« – »Das müssen sie erfahren, sogleich, sofort.«

Sie öffnete die nächste Tür und rief hinaus:

»Mama, liebe Mama, Kurt ist da und geht nach Mexiko.«

Dann eilte sie auch durch die gegenüberliegende Tür, und Kurt hörte ihren frohlockenden Ruf: »Nach Mexiko, nach Mexiko.«

Von allen Seiten kamen die Bewohner des Schlosses herbei, um ihn zu bewillkommnen und nach dem neuen Reiseziel zu fragen. Der Herzog und die Herzogin von Olsunna, Otto von Rodenstein nebst seiner Frau und Rosa Sternau, die schöne Mutter des Waldröschens, sie alle wollten wissen, ob es wahr sei, daß er so plötzlich nach Mexiko müsse. Kurt schickte sich an, ihnen ausführliche Auskunft zu geben, wurde aber darin unterbrochen, denn es sprengte ein Reiter in den Hof, dessen sonderbare Erscheinung die Augen aller Anwesenden auf sich zog. Es war Geierschnabel.

Dieser sprang vom Pferd, ließ es stehen und stieg, seinen Sack auf dem Rücken, die Freitreppe empor. Dort trat ihm Alimpo entgegen.

»Wer sind Sie?« fragte er ihn. – »Wer sind denn Sie?« fragte der Amerikaner. – »Ich bin Alimpo, der Kastellan dieses Schlosses.« – »Ah, das genügt. Sind die Bewohner desselben zu sprechen?« – »Sagen Sie zunächst, wer Sie sind.« – »Das ist unnütz. Sie kennen mich doch nicht. Ich bringe den Herrschaften eine höchst wichtige Botschaft.« – »Von wem?« – »Das werde ich den Herrschaften sagen.« – »Welche von den Herrschaften meinen Sie?« – »Alle. Was ich bringe, wird alle interessieren.« – »Man ist jetzt gerade versammelt. Aber, lieber Freund, Sie sind eigentlich nicht in der Fassung, bei Herrschaften zu erscheinen.« – Gerade dazu bin ich in der Verfassung. Aber mich lange ausfragen und dann vielleicht abweisen lassen, dazu bin ich nicht in der Verfassung. Machen Sie Platz!« – »Oho. Ich muß doch erst fragen, ob Sie hineindürfen.« – »Unsinn. Ich darf allemal hinein.«

Geierschnabel schob Alimpo ohne alle Umstände beiseite und trat ins Vorderhaus. Er hatte die vielen Gesichter hinter den Fenstern gesehen und traf also leicht den Salon, in dem sich die Herrschaften befanden. Alimpo hatte ihn noch beim Eintreten von hinten erfaßt und rief:

»Zurück, zurück. Ich muß Sie ja erst melden.« – »Das werde ich selbst besorgen.«

Mit diesen Worten machte der Amerikaner sich gewaltsam von Alimpo los. Der Herzog trat ihm entgegen und fragte in strengem Ton:

»Sie drängen sich hier ein. Welchen Grund haben Sie zu diesem ungewöhnlichen Verhalten?«

Der Gefragte blickte dem Frager furchtlos in das Gesicht und antwortete:

»Den Grund, daß ich eben das Ungewöhnliche liebe.« – »Zu wem wollen Sie?« – »Zu Ihnen allen.« – »Wer sind Sie?« – »Man nennt mich Geierschnabel.«

Ein leises Lächeln ging über das Gesicht des Herzogs. Dieser zerlumpte Mensch hatte infolge seiner Nase ganz das Recht, diesen Namen zu tragen.

»Woher sind Sie?« fragte Olsunna weiter. – »Ich bin ... ah, da kommen sie wahrhaftig schon. Ich hätte nicht gedacht, daß dieser alte Oberförster meine Fährte so bald finden werde.«

Er war bei diesen Worten an das Fenster getreten, so ungeniert, als ob er hier zu Hause sei. Die anderen hatten unwillkürlich dasselbe getan. Sie sahen den alten Rodenstein von seinem dampfenden, ungesattelten Pferd springen. Alimpo hatte den Hufschlag vernommen und war hinausgetreten.

»Guten Morgen, Alimpo«, hörten sie den Hauptmann rufen. »Sag schnell, ob hier ein Reiter angekommen ist.« – »Ja.« – »Wann?« – »Soeben erst.« – »Ganz zerlumpt und mit einem Sack auf dem Buckel?« – »Ja.« – »Gott sei Dank, ich habe ihn! Wo ist der Kerl?« – »Bei den Herrschaften im Salon.« – »Alle Teufel, das ist gefährlich! Ich muß gleich hinein, ehe ein Unglück geschieht.«

Zwei Augenblicke später riß Rodenstein die Tür auf und trat ein. Den Flüchtling erblicken und auf ihn zustürzen, war eins.

»Halunke, habe ich dich wieder!« rief er, ohne sich Zeit zu nehmen, die anderen zu begrüßen. »Du sollst mir nicht wieder entkommen. Ich lasse dich in Eisen schmieden, bis dir alle Rippen krachen!« – »Was, um Gottes willen, ist denn los?« fragte der Herzog. »Wer ist denn dieser Mann, lieber Hauptmann?« – »Dieser Mann, dieses Subjekt, oh, er ist der größte Verbrecher, den es unter der Sonne gibt. Er hat über zweihundert Menschen vergiftet.«

Die Anwesenden blickten ihn erstaunt an.

»Ja, guckt mich immer an«, sagte er ganz echauffiert. »Sperrt die Augen auf und glaubt es nicht, es ist aber dennoch wahr.« – »Wie heißt er denn?« – »Ludwig hatte ihn gefangen, er ist aber wieder entwichen, als ich Gericht über ihn halten wollte, und heißt Henrico Landola.« – »Henrico Landola?« fragte Kurt, »der Seeräuber?« – »Ja.« – »O nein, der ist er nicht. Den kenne ich.« – »Ah, pah! Er hat es ja selbst gestanden.« – »Daß er Landola sei? Das ist unmöglich.« – »Fragen Sie ihn selbst.«

Der Amerikaner hatte sich unterdessen die einzelnen Personen höchst gleichmütig und aufmerksam betrachtet.

»Wie hängt das zusammen? Sie haben sich für einen gewissen Landola ausgegeben?« fragte ihn Kurt. – »Ja«, nickte der Gefragte. – »Kennen Sie diesen Menschen?« – »Ich habe von ihm gehört.« – »Aber wie kommen Sie dazu, sich für denselben auszugeben?«

Der Amerikaner zuckte lächelnd die Achseln.

»Jux«, antwortete er kurz. – »Ah, dieser Jux könnte Ihnen teuer zu stehen kommen. Landola ist nicht eine Person, der man hier freundlich gesinnt ist.« – »Ich weiß es.« – »Er ist es aber dennoch«, behauptete der Oberförster. »Der Halunke hat sogar meine fünf Hasen noch hier im Sack.« – »Welche Hasen?« fragte Otto, sein Sohn. – »Die der Viehdoktor erwürgt hat.« – »Du sprichst für uns in Rätseln. Was haben Sie in Ihrem Sack?«

Diese letztere Frage war an Geierschnabel gerichtet

»Das sollen Sie sogleich erfahren«, erwiderte der Gefragte. Und sich zu Kurt wendend, sagte er: »Ich habe Sie noch nie gesehen, aber der Beschreibung nach sind Sie der Herr Oberleutnant Kurt Helmers?« – »Der bin ich allerdings.« – »Nun, so habe ich Ihnen dieses hier zu übergeben.«

Geierschnabel öffnete dabei den alten Sack, griff hinein und zog ein Mahagonikästchen heraus. Aus seiner Hosentasche brachte er dann ein Schlüsselchen hervor und übergab dem Oberleutnant beides. Das Kästchen war außerordentlich schwer.

»Von wem ist es, und was befindet sich darin?« fragte Kurt. – »Sehen Sie selbst.«

Kurt steckte das Schlüsselchen an und öffnete. Die anderen traten hinzu. Beim Anblick des Inhalts stießen alle einen Ruf des Erstaunens aus. Er bestand in Schmuck und Geschmeide, durchweg alte, mexikanische Arbeit.

»Um Gottes willen, woher haben Sie diese Sachen?« fragte Kurt.

Aller Augen richteten sich in gespannter Erwartung auf Geierschnabel.

»Ihr Vater bekam von Büffelstirn einen Teil des Königsschatzes geschenkt«, sagte dieser. »Die Hälfte davon wurde Ihnen durch Juarez geschickt?« – »Ja.« – »Nun, das hier ist die zweite Hälfte.« – »Gott! Eine Nachricht aus Mexiko!« rief Rosa de Rodriganda. »Mann, sagen Sie schnell, schnell, wer diese Sachen schickt.« – »Juarez.« – »Ah, Juarez! Sie kommen von ihm?« – »Von ihm und von Señor Pedro Arbellez, dem Haziendero.«

Auf die Kostbarkeiten, die abermals Millionen repräsentierten, fiel jetzt kein Blick, sondern aller Augen waren nur auf den Jäger gerichtet. Die Nachrichten, die man von ihm erwartete, waren mehr wert als alle Schätze.

»So kommen Sie also aus Mexiko?« fragte Rosa in größter Spannung weiter. – »Ja, direkt. Auch Sie habe ich noch nie gesehen, aber der Beschreibung nach sind Sie Frau Rosa Sternau oder Rosa de Rodriganda?« – »Die bin ich allerdings.« – »Dann habe ich auch für Sie etwas.« – »Mein Gott! Was und von wem ist es?«

Geierschnabel griff in den Sack und zog einen Brief hervor.

»Von Miß Amy Lindsay«, antwortete er. – »Sie kennen sie? Sie kennen den Lord?« – »Sehr gut.« – »Er ging nach Mexiko, um Juarez Waffen und Gelder zu überbringen?« – »Ja. Ich war da sein Führer und Begleiter. Wir haben vieles, sehr vieles erlebt, und ich bin bereit, Ihnen alles zu erzählen.« – »Welch eine Fügung, welch ein Glück! Haben Sie sonst noch etwas für uns?« – »Nein. Das andere sind Effekten, welche mir gehören.« – »So heißen wir Sie willkommen! Soll ich den Brief vorlesen, lieber Vater?«

Der Herzog, an den diese Frage gerichtet war, antwortete: »Verschieben wir das noch eine Weile, meine lieber Tochter. Wir müssen uns zunächst wohl noch ein wenig mit diesem braven Mann beschäftigen, der mir und euch allen ein Rätsel ist.« – »Ja«, meinte der Hauptmann, »ein verflucht dummes Rätsel. Kerl, wie kommen Sie dazu, sich für Landola auszugeben? Wer sind Sie denn in Wahrheit? Aber ich verbitte mir jetzt jede Flunkerei.«

Da schob Geierschnabel sein gewaltiges Primchen aus der einen Backe in die andere, spitzte den Mund und schoß einen Strahl braunen Tabaksaftes dem Alten so nahe am Gesicht vorüber, daß dieser erschrocken zurückfuhr.

»Millionendonnerwetter!« fluchte der Hauptmann. »Was ist denn das für eine Flegelei, für eine Schweinerei! Glaubt Er etwa, daß wir hier Spritzenprobe halten, he? Mich anspucken zu wollen! Ein Glück, daß Er mich nicht getroffen hat! Wofür hält Er mich denn eigentlich, he?«

Der Amerikaner zuckte die Achsel und antwortete, indem ein lustiges Lächeln über sein hageres Gesicht glitt:

»Für den sehr vortrefflichen Lord Oberrichter von Rheinswalden, Sir. Aber das ist sehr egal, das tut nichts zur Sache; wenn ich spucke, spucke ich, und ich will den sehen, der es mir verbietet. Wer nicht getroffen sein will, der mag mir aus dem Weg gehen.«

Da machte Olsunna eine begütigende Handbewegung und sagte:

»Laßt diese Kleinigkeiten! Der Herr Hauptmann meint es mit dem Wort ›Flunkerei‹ nicht so sehr bös. Er wollte gern etwas Näheres über Ihre Person und Ihre Verhältnisse wissen.« – »Pah!« meinte Geierschnabel. »Von meiner Person braucht er nichts mehr zu wissen, sie steht ja vor ihm, und er braucht sie nur anzusehen. Er kann sich alles genau betrachten, ohne Entree oder sonst etwas dafür bezahlen zu müssen, sogar meine Nase. Und meine Verhältnisse? Was meinen Sie denn eigentlich damit? Sehe ich etwa aus wie einer, in den sich eine verlieben könnte? Ich mag von dem ganzen Weibervolk gar nichts wissen, ich habe noch niemals ein Verhältnis gehabt. Wie kann überhaupt der erste beste sich unterstehen, mich nach solchen Verhältnissen auszufragen! Ich habe den Herrn Hauptmann auch nicht nach seinen Liebschaften gefragt.«

Der Herzog schüttelte lächelnd den Kopf und antwortete:

»Sie irren sich. Von solchen delikaten Verhältnissen war ja gar nicht die Rede. Wir möchten nur gern erfahren, wer und was Sie sind. Das werden Sie leicht begreiflich finden.« – »Wer und was? Hm! Daß ich Geierschnabel heiße, das versteht sich ja ganz von selbst, ich habe die richtige, geeignete Nase dazu. Und daß ich Präriejäger bin, das geht eigentlich nur mich etwas an.« – »Präriejäger?« brummte der Oberförster. »Ah, darum ist er so auf das Wild erpicht.« – Ja. Darum konnte ich mich auch nicht halten, als ich vorhin den Bock sah. Ich nahm die Büchse und schoß ihn nieder.« – »Donnerwetter, also Sie haben ihn geschossen?« – Ja, ich.« – »Nicht der Viehdoktor?« – »Nein.« – »Da schlage das Wetter drein! Aber er hat Ihnen doch mehrere Jahre lang das Wild geliefert?« – »Gott bewahre!« lachte Geierschnabel. – »Wirklich nicht?« fragte der Hauptmann ganz erstaunt. – »Nein.« – »So ist er also gar kein Wilddieb?« – »Ebensowenig wie ich ein Frankfurter Wildbrethändler bin.« – »Donner und Doria! So hat Er mich belogen?« – »Ja«, antwortete Geierschnabel sehr gleichmütig. – »Mich an der Nase herumgeführt?« – »Ja.«

Da fuhr der Alte im höchsten Grimm auf ihn zu und donnerte ihn an:

»Kreuzmillionenschwerebrett, wie können Sie das wagen!« – »Pchtichchchchch!« fuhr ihm der Tabaksaft entgegen, so daß er kaum noch Zeit fand, zur Seite zu prallen, um nicht getroffen zu werden. Das erboste ihn noch mehr. Er fuhr fort:

»Mich für einen Narren zu halten und dann auch noch anzuspucken, mich, den großherzoglich hessischen Oberförster und verinvalidierten Hauptmann von Rodenstein! Er Himmelhund muß Keile kriegen, ganz gewaltige Keile, so gewaltig, daß Er an der Erde liegenbleibt wie drei chloroformierte Nachtwächter! Ich verlange Respekt und abermals Respekt und zum dritten Male Respekt! Wenn Er den aus den Augen läßt, so lasse ich Ihn versohlen, daß Seine Nase aussehen lernt wie ein mit Fischtran eingeschmierter Kanonenstiefel! Kommt Er etwa aus Amerika oder Mexiko herüber, nur um sich über mich lustig zu machen, so haue ich Ihm dieses Mexiko so lange um den Kopf herum, bis Er weder Mexi noch ko mehr singen kann. Versteht Er mich? Und nun will ich wissen, welchen Grund er gehabt hat, mich in so horribler Weise zu täuschen.« – »Grund?« fragte der Amerikaner. »Hm! Gar keinen.«

Der Alte öffnete den Mund so weit wie möglich und blickte den Sprecher im höchsten Grade erstaunt an.

»Was?« fragte er. »Keinen Grund? Gar keinen? So hat er sich wohl nur einen Spaß mit uns machen wollen?« – »Ja«, antwortete Geierschnabel im gleichgültigsten Ton. – »Ah! Also wirklich nur einen Spaß! Da soll doch gleich das ganze Pulver platzen! Da soll doch gleich der helle, lichte Teufel dreinschlagen! Einen Spaßt hat sich der Kerl mit mir gemacht! Mit mir! Hört Ihr's alle? Mit mir! Mensch, wie kommt Er denn dazu, mich für einen Mann zu halten, mit dem man sich einen Spaß machen kann?« – »Oh, das kam ganz von selbst. Ich traf den kleinen Tierarzt. Dieser belferte mich an, wie ein Schoßhündchen einen großen Neufundländer. Das kam mir so spaßig vor, daß ich ganz lustig gestimmt wurde.« – »Aus Spaß haben Sie ihn also für einen Wilddieb ausgegeben?« – »Natürlich!« – »So ist er also auch wohl kein Seeräuber gewesen?« – »Ist ihm gar nicht eingefallen.« – »Und auch kein Giftmischer?« – »Auch nicht. Ich habe den Mann noch niemals gesehen, ich kenne ihn ganz und gar nicht. Hat er Gifte gemischt, so hat er höchstens eine alte Kuh oder irgendeinen Ziegenbock umgebracht.« – »Er ist also unschuldig an allem?« – »Vollständig unschuldig.« – »Bomben und Granaten! Und diese unschuldige Seele ist arretiert und mit dem eigentlichen Missetäter zusammengebunden worden. Ich habe ihn angebrüllt und angeschnauzt, als ob er mich selber erschossen oder vergiftet hätte! Das fordert Rache, das fordert Strafe! Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen und auch auf ihm nicht Er soll eine Genugtuung erhalten, wie sie in der ganzen Welt noch keinem Viehdoktor geworden ist Der arme Teufel hat sogar den erlegten Rehbock schleppen müssen. Und jetzt sitzt er gefangen in Rheinswalden!« – »Da wäre er doch der dümmste Mensch, den es nur geben kann!« – »Der dümmste? Wieso?« – »Nun, als ich echappierte, sind mir doch wohl alle sofort nachgerannt?« – »Natürlich, alle!« – »Nun, dann ist er allein zurückgeblieben und wird wohl so gescheit gewesen sein, sich in Sicherheit zu bringen.« – »Hm. Das wäre möglich. Ich wollte, er hätte sich so langsam hinter uns auf die Seite gedrückt. Was mich aber freut, ist, daß es Ihm nicht gelungen ist, zu entkommen. Weiß Er, was Seiner wartet?« – »Was denn?« – »Das Zuchthaus.«

Geierschnabel zuckte lachend die Achsel und antwortete:

»Zuchthaus? Pah! Eines Bockes wegen? Unsinn!« – »Unsinn, Unsinn sagt Er. Er kennt wohl unsere Gesetze gar nicht?« – »Was gehen mich Ihre Gesetze an? Ich bin ein freier Amerikaner.« – »Da irrt Er sich gewaltig. Er ist jetzt nicht ein freier Amerikaner, sondern ein gefangener Spitzbube. Hierzulande wird der Wilddiebstahl mit bis zu zehn Jahren Zuchthaus bestraft.« – »Dummheit! Da hätte ich für das, was ich alles schon geschossen habe, zehntausend Jahre Zuchthaus abzubrummen. Das halte der Teufel aus, ich aber nicht!« – »Ah! Er hat also bereits mehr geschossen?« – »Das versteht sich!« – »So ist es also Wilddieberei im Rückfall, und das gibt eine tüchtige Strafverschärfung. Wir wollen so einem sakkermentschten freien Amerikaner schon zeigen, wie weit seine Freiheit geht!«

Geierschnabel machte jetzt allerdings ein sehr zweifelndes Gesicht. Er meinte:

»Wir dürfen ja da drüben schießen, so viel uns beliebt.« – »Da drüben ja. Aber nicht hier hüben. Versteht Er mich?« – »Donnerwetter, daran habe ich gar nicht gedacht! Der Bock trat aus dem Wald, und ich schoß; das ist alles. Brennt man mir dafür zehn Jahre Zuchthaus auf, so brenne ich auch, nämlich durch.« – »Das soll Ihm nicht so leicht wieder gelingen. Wie aber kommt es, daß Er gerade nach Rodriganda durchgebrannt ist?« – »Weil ich hier sehr notwendig zu tun habe. Ich komme ja als Abgesandter in Angelegenheiten der Familie Rodriganda.« – »Warum hat Er mir das nicht gleich gesagt?« – »Warum haben Sie mich nicht gleich gefragt?« – »Warum gab Er sich denn für diesen verteufelten Landola aus?« – »Herr Hauptmann, der Hafer stach mich.« – »Nehme Er sich in acht, daß Er nicht von noch etwas anderem gestochen wird! Ich werde jetzt hören, was für eine Botschaft Er uns bringt, und dann soll sich finden, wie weit ich Ihn wegen des Bockes auf das Leder knie.«

Die anderen Anwesenden hatten die beiden ungehindert sprechen lassen. Teils gab ihnen die drastische Art der Unterhaltung innerlichen Spaß, und teils erkannten sie in Geierschnabel eine jener selbständigen originellen Naturen, wie sie im Westen Nordamerikas nicht selten sind. Sie wußten bereits jetzt, daß unter den obwaltenden Umständen der alte Oberförster gar nicht daran denken werde, den Jäger zur Anzeige zu bringen. Darum ließen sie die beiden ungestört sich aussprechen, bis der Herzog wieder das Wort nahm.

»Also Ihren Namen und Ihr Gewerbe kennen wir jetzt«, sagte er. »Wollen Sie uns sagen, wie Sie mit diesen Personen, an denen wir so großen Anteil nehmen, zusammengekommen sind?« – »Das können Sie hören«, antwortete Geierschnabel. »Wissen Sie, was ein Scout ist?« – »Nein.« – »Pchtichchchchch!« spritzte Geierschnabel mit verächtlicher Mienen seinen Tabaksaft in das Feuer des Kamins, so daß es aufzischte. »Sie wissen es nicht?« fragte er. »Das weiß doch jedermann! Unter den Westmännern gibt es nämlich einige wenige, die einen so scharfen Ortssinn besitzen, daß sie niemals irregehen. Sie kennen jeden Weg, jeden Fluß, jeden Baum und Strauch und finden sich auch da, wo sie noch nie gewesen sind, mit wunderbarer Sicherheit zurecht.« – »Ich habe gehört, daß es solche Leute gibt«, meinte der Herzog.

»Solche Leute nennt man Scouts. Man kann sie bei wichtigen Angelegenheiten nicht entbehren. Eine jede Expedition, eine jede Karawane, eine jeder Jägergesellschaft muß einen oder mehrere Scouts bei sich haben, wenn sie nicht zugrunde gehen will. Ein solcher Scout bin ich.« – »Donnerwetter«, meinte der Hauptmann, »so kennt Er alle Wege und Stege der amerikanischen Wildnis?« – »Ja.« – »Man sieht es Ihm aber gar nicht an!« – »Ich habe wohl ein etwas dummes Gesicht?« – »Sehr dumm!« – »Pchtichchchchch!« fuhr dem Alten der Saft mitsamt dem Primchen gerade an diejenige Steile seiner Brust, an welcher er das Ordensband zu tragen pflegt. Da fuhr er zurück, stieß einen Fluch aus, trat einen Schritt auf den Amerikaner zu und rief:

»Halunke, wie kann Er wagen, einen großherzoglichen Oberförster und Hauptmann anzuspeien?«

Geierschnabel verschränkte die Arme über die Brust und antwortete:

»Und wie kann Er es wagen, einen amerikanischen Prärieläufer dumm zu nennen? Was sind alle Eure Hauptleute und Oberförster gegen unsere Westmänner, die an einem Tage mehr erleben, als so ein livrierter Maulaffe in seinem ganzen Leben! Glaubt er etwa, ein hiesiger Oberförster sei klüger als ein guter Präriejäger? Oder meint Er, ein Hauptmann der großherzoglichen Armee könne es mit einem Scout aufnehmen? Wenn Er mich nach dem Kleid beurteilt, das ich heute trage, so ist Er sehr auf dem Holzweg. Er wird bald sehen, daß Er sich da jammervoll getäuscht und geirrt hat. Ich pflege die Leute nach der Art und Weise zu behandeln, wie sie mir entgegentreten. Wer mich ›Er‹ tituliert und mich für dumm zu verkaufen gedenkt, der existiert für mich nicht, er ist einfach nicht da. Und wenn ich beim Ausspucken einen treffe, der für mich nicht da ist, so ist das einfach seine Sache, aber nicht die meinige. Er mag sich so verhalten, daß ich seine Gegenwart respektieren kann. Merke Er sich das.«

Geierschnabel sprach das Deutsche im fremden Dialekt. Dennoch hatte er seine Rede so korrekt und deutlich, so nachdrucksvoll vorgetragen, daß sie auf den alten Hauptmann einen nicht geringen Eindruck machte. Er fühlte, daß er sich hier einem gegenüber befand, der ihm an Grobheit und Originalität vollständig ebenbürtig und gewachsen war. Er kratzte sich hinter den Ohren und sagte:

»Himmelelement, ist dieser Mensch höflich! Bei dem Kerl kommt es ja geschüttelt wie beim Speiteufel in einer Kleienmühle. Na, ich werde vorderhand den Mund halten. Das Weitere wird sich dann ergeben, wenn ich weiß, woran ich mit ihm bin.« – »Daran tun Sie ganz recht«, meinte Geierschnabel, indem er jetzt einen höflicheren Ton annahm. Und zu den anderen gewandt, fuhr er fort: »Also ein solcher Scout bin ich. Eines schönen Tages befand ich mich in El Refugio und wurde von einem Engländer engagiert, der den Rio Grande del Norte hinauffahren wollte.« – »Ah, Sir Lindsay?« fragte Gräfin Rosa. – »Ja.« – »War Miß Amy bei ihm?« – »Das versteht sich. Sie wollte ihn nicht verlassen.« – »Sie ist eine sehr liebe Freundin von mir. Befand sie sich wohl?« – »Höchstwahrscheinlich. Wenigstens habe ich nichts davon gehört, daß sie Zahnreißen oder Kopfschmerzen gehabt hätte. Ich wurde abgeschickt, nach El Paso del Norte zu gehen, um dem Präsidenten Juarez zu melden, daß der Lord ihm Waffen und Geld bringe.« – »Sie trafen den Präsidenten?« fragte Kurt mit Interesse. – »Ja, aber nicht in El Paso, sondern in einem kleinen Fort, das Guadeloupe genannt wird. Vorher aber traf ich daselbst noch andere Leute, für die Sie sich interessieren werden. Zunächst gab es da einen sehr berühmten Jäger, den man den Schwarzen Gerard nennt und den einige von Ihnen sehr gut kennen.« – »Der Schwarze Gerard?« fragte Rosa. »Den kennen wir nicht.« – »O doch. Ist Ihnen nicht der Name Gerard Mason bekannt?«

Rosa besann sich.

»Gerard Mason?« fragte sie. »Der Name kommt mir allerdings bekannt vor, aber ich kann mich nicht besinnen.« – »Nun, so besinnen Sie sich vielleicht besser darauf, daß Sie in Rheinswalden einmal ermordet werden sollten.« – »Ja, das ist richtig.« – »Graf Alfonzo hatte einen Mörder gedungen.« – »Allerdings. Aber dieser Mann benachrichtigte mich davon. Mein Gemahl hatte in Paris seine Schwester aus dem Wasser gezogen – ah, ich glaube der Mann hieß Gerard Mason.« – »Ja, er hieß so, gnädige Frau.« – »So ist er wohl jetzt jener Jäger, den man den Schwarzen Gerard nennt?« – »Er ist es.« – »Ah. Hat er Ihnen nichts von uns erzählt? Er ist uns eine sehr wichtige Persönlichkeit, aber entfernte sich damals sehr rasch, daß es ganz unmöglich war, seine Gegenwart auszunützen.« – »Er ist nicht sehr mitteilsam gewesen, aber was er mir gesagt hat, das werden Sie erfahren. Sodann gab es einen zweiten Jäger, einen kleinen, aber tüchtigen Kerl, der Sie auch interessieren wird.« – »Wohl auch ein Bekannter?« – »Vielleicht.« – »Wie hieß er?« – »Der Kleine André.« – »Ist uns unbekannt.« – »Ah. Er hat einen Bruder in Rheinswalden.« – »Wir haben in Rheinswalden keinen Menschen, der André heißt.« – »Ist auch nicht so gemeint. André ist hier nicht der Familien-, sondern nur der Vorname, er heißt so viel wie Andreas.«


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