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Nicht weit von der Nordgrenze der Provinz Zacatecas liegt das Städtchen Santa Jaga. An und für sich durch nichts erwähnenswert, wurde es doch sehr oft genannt, weil auf dem Berg, an dessen Fuß es liegt, sich ein hoher, altertümlicher Doppelbau erhebt, der noch heute das Kloster della Barbara heißt, obgleich das Kloster säkularisiert wurde und nun anstatt nur religiösen, auch mehr menschlichen, werktätigen Zwecken dient. Es ist eine Heilanstalt für Irre und allerlei körperlich Kranke.
In dem Städtchen gab es jetzt reges Leben. Vor einigen Tagen war nämlich eine Schar von Franzosen hier eingezogen. Von Norden kommend, hatten diese Leute weder Waffen, noch sonstige Ausrüstungsgegenstände bei sich gehabt, und bereits nach kurzer Zeit brachte man in Erfahrung, daß diese Truppe die Besatzung von Chihuahua gebildet hatte und von Juarez gezwungen worden war, die Waffen zu strecken und das Versprechen abzulegen, nicht wieder gegen ihn zu kämpfen.
Der Kommandant dieser in Ruhestand versetzten Truppe hatte eine Stafette um Verhaltungsmaßregeln nach dem Hauptquartier abgeschickt und mußte bis zur Rückkehr derselben hier verweilen.
Über alles dies war nicht viel zu sprechen. Das einzige, was in der Stadt den Gegenstand der besonderen Aufmerksamkeit bildete, war der Umstand, daß mit diesen Leuten eine Dame gekommen war, eine Dame von so wunderbarer Schönheit, daß sie den Neid der Frauen und die Bewunderung der Männer im Sturm erregt hatte, trotzdem sie erst zweimal in der Kirche zu sehen gewesen war.
Sonderbarerweise hatte sie sich nicht in der Stadt, sondern droben im alten Kloster eine Wohnung gesucht, und zwar bei dem jetzigen Pförtner und Heilgehilfen der Anstalt, der unter dem Namen Pater Hilario allgemein bekannt, aber keineswegs beliebt war.
Es war Abend, und Pater Hilario saß in seiner Klause, über alten medizinischen Schriften brütend. Seine Stube war höchst einfach eingerichtet. Das einzige Auffällige hier waren die vielen Schlüssel, die rund an den Wänden hingen.
Der Pater war ein kleines, hageres Männchen mit Kahlkopf. Sein vollständig glattrasiertes Gesicht zeigte jene Verbissenheit, die man nicht bei Menschen, sondern nur bei Bulldoggen suchen möchte und doch bei den ersteren zuweilen findet. Er mochte im Anfang der siebziger Jahre stehen, schien aber noch ziemlich rüstig zu sein.
Da klopfte es leise an die Tür. Er hörte es dennoch sogleich, und es ging ein Lächeln über sein Gesicht, ein Lächeln, das nur sehr schwer zu beschreiben ist. Könnte der Stößer lächeln, wenn er das Nahen einer ahnungslosen Taube gewahrt, so würde sein Lächeln genau dasjenige des Paters Hilario sein.
»Herein!« sagte er im freundlichsten Ton, der ihm möglich war.
Die Tür öffnete sich, und wer trat ein? Señorita Emilia, die wir bereits von Chihuahua her kennen.
»Guten Abend, ehrwürdiger Herr«, grüßte sie. – »Hochwillkommen, schöne Señorita!« antwortete er, indem er sein Buch zuklappte und sich von dem alten Stuhl erhob. – »Ich hoffe doch, daß ich nicht störe«, lächelte sie. – »Stören, Señorita? Wo denkt Ihr hin. Ich stehe Euch zu jeder Zeit bei Tag und Nacht mit tausend Freuden zur Verfügung. Darum habe ich mir ja auch erlaubt, bei Euch anfragen zu lassen, ob Ihr die Gewogenheit haben wollt, an meiner Abendschokolade teilzunehmen.« – »Und ich bin Eurer Einladung sehr gern gefolgt, weil ich dabei Gelegenheit finde, die Langeweile des Abends ein wenig zu verplaudern.« – »Oh, an dieser Langeweile seid Ihr ja selber schuld. Warum habt Ihr Euch bei mir und nicht unten in der Stadt einquartiert? Da unten hätte es an Kurzweil nicht gefehlt.« – »Ich danke für diese Kurzweil! Eine aufschlußreiche und interessante Unterhaltung mit einem Charakter, dem ein langes Leben Gelegenheit gegeben hat, sich zu kristallisieren, ist mir mehr wert, als jene Zerstreuungen.«
Emilia nahm nachlässig auf dem Sofa Platz. Aber diese Nachlässigkeit war eine so fein berechnete, daß dabei die Schönheit ihrer vollen, elastischen Glieder auf das deutlichste hervorgehoben wurde.
Der frühere Mönch ließ seine Augen mit gierigen Blicken auf ihr ruhen. Es war, als ob er sie verschlingen möchte. Sie aber tat, als ob sie dies gar nicht bemerke.
»Wollt Ihr etwa sagen, daß Ihr mich für einen kristallisierten Charakter haltet?« fragte er. – »Gewiß«, antwortete sie unter einem Aufschlag ihrer Augen, der so fromm, so unbefangen und unbewußt war und doch das älteste Herz zu jugendlicher Glut anfachen konnte. »Ich hasse das Unfertige, Unvollendete, auch in Beziehung auf den Umgang mit den Menschen. Ich würde nie mit einem Mann sympathisieren, dessen Inneres und Äußeres noch zu wachsen, sich noch zu entwickeln hat.« – »Ihr vergeßt aber, daß beim Menschen in demselben Augenblick, da das Wachstum aufhört, auch der Niedergang wieder beginnt.« – »Oh, das nennt Ihr Niedergang, Señor Hilario? Wenn der Mensch von den Kräften seines Körpers und Geistes abgeben kann, so ist dies nur ein Beweis, daß er ein überreiches Quantum dieser Kräfte besitzt.« – »Sonach würde es für Euch gar kein Alter geben!« – »Allerdings nicht.« – »Auch in der Liebe nicht?« fragte er mit unsicherer Stimme. – »Auch da nicht. Ich könnte mein Herz niemals einem Mann schenken, dessen Jahre nicht Ehrerbietung von mir forderten.« – »Aber doch einem Greise nicht?« – »Warum nicht? Was nennt Ihr einen Greis? Wir haben jugendliche Greise und grauköpfige Jünglinge. Habt Ihr noch nicht gehört, daß es Mädchen gibt, die eine Vorliebe für graues Haar besitzen?« – »Ja, es soll solche geben. Aber gehört vielleicht auch Ihr zu ihnen?« – »Ja.«
Der Pater wollte mit Eifer weitersprechen, wurde aber unterbrochen, denn es trat eine alte Frauensperson ein, die die Schokolade brachte. Sogleich, nachdem diese sich entfernt hatte, goß er seinem schönen Besuch eine Tasse voll und sagte:
»Trinkt, Señorita. Es ist das erste Mal, daß eine Dame mir diese Ehre erweist, ich würde viel darum geben, wenn ich dieses Glück täglich genießen könnte.« – »Haltet Ihr es wirklich für ein Glück?« fragte Emilia in einem Ton, der sein Blut in Wallung brachte. – »Ja«, antwortete er, »es ist das größte Glück, das es nur geben kann. Ich wollte, Ihr wärt nicht nur Gast, sondern Bewohner des Hauses. Wie schade, daß Ihr es verlassen müßt, sobald die Franzosen wieder aufbrechen!« – »Die Franzosen? Was gehen mich diese an?«
Der Pater horchte auf.
»Ich denke, Ihr gehört zu ihnen?« fragte er. – »Warum denkt Ihr das, Señor?« – »Weil Ihr mit ihnen gekommen seid. Man meint hier allgemein, daß Ihr die Frau oder die Witwe eines ihrer Offiziere seid.«
Emilia schlug eine helle, melodische Lache auf, deren Klang alle seine Fibern erbeben ließ. Er hatte noch nie ein so entzückendes, hinreißendes Lachen gehört
»Da irrt man sich ganz außerordentlich«, entgegnete Emilia. »Sagt einmal aufrichtig, habe ich etwas das Aussehen einer alten Frau oder Witwe?«
Sein Auge glühte auf ihre schöne, reizvolle Gestalt herüber. Er antwortete:
»Einer alten? Oh, Señorita, was denkt Ihr? Ihr würdet ganz sicher selbst die Venus besiegen, wenn sie es wagen wollte, sich in einen Wettstreit mit Euch einzulassen!« – »Ein zu starkes Kompliment ist kein Kompliment, Señor!« – »Oh, ich sage die Wahrheit!« rief er begeistert. »Ihr gehört also nicht zu den Franzosen?« – »Nein.« – »Aber warum reist Ihr denn mit ihnen?« – »Weil sie den Auftrag haben, mich zu beschützen, mich sicher nach Mexiko zu bringen. Ich hatte die Absicht, Chihuahua, wo ich sehr einsam wohnte, mit der Hauptstadt zu vertauschen, und bei den Wirren, unter denen unser Land jetzt leidet, war es mir höchst willkommen, mich einer solchen Begleitung anschließen zu können.« – »Ihr hattet keine Verwandten in Chihuahua?« – »Nein.« – »Aber in Mexiko findet Ihr welche?« – »Auch nicht. Ich stehe ganz allein im Leben da.« – »Aber was treibt Euch da nach Mexiko, Señorita?«
Emilia schlug die Augen nieder und errötete so natürlich, wie man es nur durch die größte Übung zustande bringen kann.
»Ihr bringt mich fast in Verlegenheit mit dieser Frage, Señor«, antwortete sie. – »So bitte ich um Verzeihung. Aber ich nehme einen so innigen Anteil an Euch, daß ich glaubte, diese Frage aussprechen zu dürfen.« – »Ich danke Euch und sehe ein, daß Euch gegenüber eine Prüderie ganz und gar nicht am Platz wäre. Ich achte und schätze Euch und will Euch dies beweisen, indem ich Eure Frage beantworte. Ein von der Natur nicht ganz und gar vernachlässigtes Weib muß fühlen, daß es nicht für die Einsamkeit bestimmt ist.« – »Ah, fühlt Ihr das, Señorita?« fragte er rasch. – »Ja. Gott hat uns die herrliche Aufgabe zugeteilt, zu lieben und durch die Liebe glücklich zu machen. Ich bin noch nicht an diese Aufgabe herangetreten, infolge meines einsamen Lebens.« – »Ihr hättet noch nicht geliebt?«
Bei diesen Worten ruhte Hilarios Auge wohlgefällig auf ihrer Gestalt. Emilia senkte abermals die langen, seidenen Wimpern, und ihr Busen hob sich unter einem tiefen, sehnsüchtigen Seufzer. Er fühlte, daß er vor Liebe zu diesem Weib verrückt werden könne.
»Nein, noch nie«, antwortete sie leise, als ob sie sich dieser Antwort schämte. – »Und doch besitzt Ihr alles, was einen Mann bis zum Wahnsinn glücklich machen kann«, antwortete er mit sichtbarer Begeisterung. – »Leider habe ich das noch nicht erfahren, ich lernte noch keinen kennen, bei dessen Anblick ich mir sofort gesagt hätte, daß ich sein eigen sein möchte. Doch Mexiko ist größer als Chihuahua, ich will nicht länger einsam sein. Das ist der Grund, daß ich nach dieser Stadt ziehe.« – »Ah, Ihr wollt Euch dort einen Mann suchen?«
Emilia errötete, doch sah es aus, als ob sie ihr Schamgefühl zu beherrschen suchte. Ihr Auge fest und offen auf ihn richtend, antwortete sie:
»Euch gegenüber will ich das nicht leugnen, obgleich ich bei einem anderen wohl nicht so aufrichtig sein würde.« – »Muß dies gerade in Mexiko sein, Señorita? Gibt es anderwärts nicht Männer, die Euren Wert zu schätzen wissen würden?« – »Ihr mögt recht haben. Aber wer einen Baum sucht, der soll in den Wald gehen, wo ihrer viele zu finden sind, und nicht auf das offene Feld, wo im glücklichen Fall ein einziger zu finden ist.« – »Ihr habt recht. Aber wenn man nun auf dem Weg zum Wald einen Baum trifft, dem danach verlangt, daß die grüne Ranke sich um ihn schlingen und an ihm blühen möge?«
Emilia machte eine überraschende Bewegung mit der Hand, stimmte einen neckisch heiteren Ton an und antwortete lachend:
»So bleibt man stehen, um ihn sich anzuschauen.« – »Und wenn er einem gefällt?« – »Nun, so rankt man sich getrost an ihm hinauf. Nicht, Señor Hilario?«
Auf seinem Faungesicht glänzte das helle Entzücken.
»Gewiß, Señorita«, antwortete er. »Nur fragt es sich, welche Eigenschaften und welches Alter dieser Baum haben müßte oder dürfte.« – »Nun, er dürfte nicht zu jung und schwankend sein. Ehrwürdigkeit ziert einen Baum, und das Moos verleiht ihm hochpoetische Reize.« – »Señorita, Ihr seid ein Engel!« rief er ganz entzückt. – »Das könnt Ihr wohl schwerlich beweisen.« – »Ich fühle es, und das ist genug. Darf ich einen solchen Baum für Euch suchen?« – »Tut es immerhin. Es steht mir ja doch frei, mich für ihn zu entscheiden oder nicht.« – »Das steht Euch allerdings frei«, sagte er tief aufatmend, da er seine innere Erregung kaum bemeistern konnte. Und mit heller, beinahe bebender Stimme fügte er hinzu: »Der Baum steht nämlich hier in Santa Jaga.« – »Hier? Wo?« fragte Emilia mit gutgespielter Verwunderung. – »In unserem Kloster della Barbara.« – »Im Kloster, Señor? Ich habe da noch keinen Baum gesehen.« – »O doch. Er steht ja vor Euch.«
Der Pater stieß diese Worte hastig hervor. Um seinen Mund lag jenes angstvolle Lächeln, das geeignet ist, selbst das schönste Gesicht zu verzerren.
Emilia schien das nicht zu beachten. Sie blickte ihn groß an und fragte:
»Ihr? Meint Ihr Euch, Señor? Ah, bei Gott, das hätte ich nicht erwartet!«
Emilia legte wie in heller, mädchenhafter Verwunderung die schönen, weißen Hände zusammen und blickte ihn mit einem Ausdruck an, der unbedingt ein Meisterstück der Verstellungskunst genannt werden mußte. Es waren darin zu lesen freudige Überraschung und Genugtuung, Glück und Schadenfreude, Wonne und Hohn, aufleuchtende Liebe und stiller Ekel, Gewißheit der Erhörung und der Triumph der weiblichen Schlauheit und Berechnung. Aber gerade diese Kontraste machten das Mädchen in diesem Augenblick geradezu unwiderstehlich. Der Pater hätte jetzt ihr zuliebe einen Mord ausführen können und fragte:
»Nicht erwartet, habt Ihr das? Warum? Ihr selbst habt ja den Baum zum Vergleichsbild gewählt. Habt Ihr mich nicht verstanden?« – »Verstanden habe ich Euch, Señor«, lächelte sie. Und mit einem himmlisch-diabolischen Lächeln fügte sie hinzu: »Ihr meint unter dem Baum den Mann, den ich suche?« – »Ja, allerdings, Señorita.« – »Und dieser Mann wolltet Ihr selbst sein?« – »Oh, wie gern! Ich wollte alles aufbieten, um Euch glücklich zu machen.«
Ein blitzschneller, stechender Blick fiel aus ihren Augen auf ihn. Ihr Gesicht wurde kalt und streng, und mit einer plötzlichen Ruhe und Sicherheit, durch die seine Leidenschaft nur doppelt tief aufgewühlt wurde, fragte sie:
»Was ist das, was Ihr aufbieten könnt, Señor?« – »Ah, Ihr haltet mich für den einfachen, armen Pater Hilario?« – »Für wen oder was sollte ich Euch sonst halten?« – »Oh, die einfache Hülle verbirgt oft sehr viel. Sagt, was Ihr von dem Mann verlangt, dem Ihr angehören möchtet?« – »Wozu? Ihr könnt dieser Mann doch nicht sein!« – »Warum nicht?« – »Ihr seid ja Pater, Ihr seid ja Mönch!« – »Mönch? Wo denkt Ihr hin! Das ist längst vorüber. Ich bin aus dem Orden getreten und kann tun, was mir beliebt.« – »Ah, das ist etwas anderes. Ihr dürft also heiraten?« – »Wer will es mir verwehren? Also sagt, was Ihr von Eurem Mann verlangen würdet, Señorita?« – »Zunächst Liebe, heiße, treue Liebe!« – »Diese ist da. Oder zweifelt Ihr daran?« rief er, tief erregt. – »Ich will es glauben.« – »So sprecht weiter!« – »Ich bin zwar nicht reich, Señor, habe aber auch nie mit Armut zu kämpfen gehabt. Ich würde Garantie verlangen, daß ich Mangel und Entbehrung niemals kennenlernen würde. Urteilt nicht vorschnell über dieses Verlangen, Señor! Wenn ich auf die Freuden der Freiheit verzichte, so ist eine Genugtuung in anderer Weise nicht mehr als recht und billig.« – »Ich verstehe Euch vollständig, Señorita, und ich sage Euch, daß ich an Eurer Stelle ganz ebenso handeln würde. Glücklicherweise kann ich Euch die Versicherung geben, daß ich reich, sehr reich bin.« – »Ihr?« fragte Emilia ungläubig. »Reich? Sehr reich?«
Ihr Blick fiel dabei mit stolzem Ausdruck auf sein unscheinbares Äußeres.
»Urteilt nicht nach meinem Gewand, Señorita!« sagte er. – »Gut Ihr versichert mir, daß Ihr reich seid. Könnt Ihr es mir auch beweisen?«
Der Pater blickte nachdenklich und einigermaßen verlegen vor sich nieder.
»Ja, ich kann es beweisen«, sagte er endlich in entschlossenem Ton. – »So tut es!« – »Ich müßte vorher jedoch die Überzeugung haben, daß Ihr mir auch wirklich Eure Hand reichtet, falls ich Euch beweise, daß ich reich bin.« – »Diese Überzeugung kann Euch vielleicht werden, wenn Ihr imstande seid, meine zweite und letzte Bedingung zu erfüllen.« – »Welche Bedingung wäre dies, Señorita?« – »Ihr könnt Euch denken, daß ich mir nicht einen Mann nehme, um Frau ›Paterin‹ zu werden. Ich verlange eine Stellung.« – »Was versteht Ihr unter diesem Wort?« – »Ich verstehe darunter eine geachtete, öffentliche Existenz, die mir Gelegenheit gibt, dir mir verliehenen Geistesgaben zur Verwertung zu bringen.« – »Ah, Ihr verlangt viel, sehr viel, Señorita«, sagte er.
Da erhob Emilia sich langsam von ihrem Sitz und stellte sich vor ihn hin. Er sah sie wie ein Bild, von Künstlerhand aus edelstem Material gemeißelt und mit einer Gewandung versehen, die nur angelegt zu sein schien, den Eindruck dieser sinnberückenden Figur zu verdoppeln, nein, zu verzehnfachen. In ihrem Gesicht lag ein unwiderstehliches Selbstbewußtsein, als sie fragte:
»Ihr meint, daß ich zu viel verlange. Seht mich an! Ich weiß, daß ich schön bin, aber ohne darauf stolz zu sein. Ich weiß, daß der Mann, den ich heiraten will, mich auch lieben wird, wenn ich einmal will. Ich werde nach Mexiko an den Hof des Kaisers gehen. Ich werde dort zu den Schönheiten zählen, vor denen man auf den Knien liegt, und meine intellektuellen Eigenschaften werden mich befähigen, den Eindruck meiner äußeren Erscheinung auf das vorteilhafteste zu verwerten. Ich werde bald Einfluß und Ansehen besitzen und unter den Männern von Bedeutung denjenigen wählen, der mir meiner wert erscheint! Das alles weiß ich. Lächelt meinetwegen darüber! Nennt es Anmaßung, Selbstüberhebung! Ich habe nichts dagegen. Aber wenn Ihr Menschenkenner seid, so muß Euch die ruhige Überzeugung, mit der ich spreche, genügende Garantie bieten, daß ich mich genau kenne, daß ich meine Mittel zu berechnen weiß und daß ich nicht phantasiere.«
Emilia stand vor dem Pater und er vor ihr, er, der kleine, hagere Mann vor diesem unvergleichlich schönen Weib, aber es war ihm keine Mutlosigkeit anzusehen. Es lag vielmehr der Ausdruck des Stolzes auf seinem glatten, grob materialistisch gezeichneten Gesicht, als er antwortete:
»Was denkt Ihr von mir, Señorita! Ich verkenne Euch nicht, sondern bin überzeugt, daß Ihr die Wahrheit sagt. Ja, Ihr werdet Eure Rolle spielen, wenn Ihr nach Mexiko kommt; Ihr werdet Ehren und Einfluß erlangen, denn Ihr seid schön und versteht, zu berechnen. Aber selbst hierbei bedarf die begabteste Frau der männlichen Hilfe und Leitung. Ich sehe, daß wir uns ebenbürtig sind. Wollt Ihr Euch meiner Leitung anvertrauen?« – »Ebenbürtig?« lächelte sie. »Wie meint Ihr das?« – »Ich meine natürlich geistig gleichbegabt, nicht körperlich, denn da habe ich Euch nichts zu bieten, und Ihr steht hoch über mir.«
Ihr Gesicht nahm den Ausdruck der Güte und Milde an, mit der man zu einem Kind spricht, als sie jetzt langsam fragte:
»Ah, Ihr seid auch geistig begabt, Señor?«
Der Pater wußte gar nicht, was für ein Gesicht er zu dieser Frage machen sollte. Er wurde beinahe verlegen, und in befangenem Ton fragte er:
»Zweifelt Ihr daran?« – »O nein. Ein jeder Mensch besitzt ja mehr oder weniger geistige Begabung. Aber wenn man diese Begabung nach der Stellung beurteilt, die Ihr Euch errungen habt, so ... hm, vollendet Euch den begonnenen Satz selbst.«
Jetzt spielte ein leichtes, spöttisches Lächeln um seine Lippen.
»Welche Stellung bekleidet Ihr, Señorita?« fragte er. – »Ah, Ihr werdet scharf und spitz«, lachte sie. »Es gibt Stellungen und Einflüsse, von denen man nicht spricht, Señor.« – »Da habt Ihr ein sehr wahres Wort gesprochen. Also reden wir von meiner Stellung und meinen Einflüssen ebensowenig, wie wir von den Eurigen reden wollen, wenigstens für jetzt.« – »Aber wenn wir darüber schweigen, wie wollt Ihr mir beweisen, daß Ihr mir eine Existenz bieten könntet, wie ich sie verlange?« – »Das ist nicht schwer. Ich bin bereit, Euch diesen Beweis zu liefern, wenn ich von Eurer Verschwiegenheit überzeugt sein kann.« – »Ich verstehe zu schweigen, Señor.« – »Gut, so kommt mit mir!«
Der Pater nahm zwei Schlüssel von der Wand und brannte sich eine kleine Blendlaterne an. Emilia fixierte die beiden Nägel, an denen die Schlüssel gehangen hatten, um sich dieselben genau zu merken.
Nun verließ er mit ihr das Zimmer und stieg eine Treppe hinab, führte sie durch einen langen, niedrigen Keller und öffnete mit einem der Schlüssel eine starke, eichene Tür, die in einen zweiten Keiler führte. Hier gab es abermals eine Tür, die von dem zweiten Schlüssel geöffnet wurde. Sie traten in einen langen, schmalen Gang, in dem rechts und links zahlreiche Türen angebracht waren.
»Das waren die Gefängniszellen des Klosters della Barbara«, sagte er.
Er schob den Riegel von einer dieser Türen zurück und öffnete. Sie traten in eine dumpfe, kleine Zelle, die weder Licht noch Luft hatte. Sie schien in die kompakte Masse des Felsens eingehauen zu sein, obgleich dieser letztere zahlreiche kleine Risse und Sprünge zeigte.
»Leer!« sagte sie. »Soll ich etwa hier den erwarteten Beweis finden?« – »Allerdings«, antwortete er. – »In welcher Weise?« – »Das werdet Ihr gleich sehen.«
Hilario bemerkte nicht, daß Emilia mit scharfem Auge jede, auch die kleinste seiner Bewegungen verfolgte und beobachtete.
Er leuchtete an einen der erwähnten Sprünge. Es war der bedeutendste, obgleich er kaum so stark war, daß man den kleinen Finger hineinzubringen vermochte. Nur an einer einzigen Stelle war es möglich, die flache Hand in den Riß zu stecken. Der Pater tat dies, und sogleich ließ sich ein leichtes Rollen vernehmen. Ein Teil der Felswand, der von dem Riß ganz unauffällig umzeichnet wurde, wich zurück, und nun sah Señorita Emilia einen größeren, finsteren Raum vor sich, in den sie traten, ohne daß der Pater den Eingang wieder verschloß.
Hilario ging voran, und Emilia folgte ihm. Bei dieser Gelegenheit legte sie ihre Finger genau an die Stelle des Risses, in die er seine Hand gesteckt hatte, und bemerkte einen dicken Stift, der vielleicht einen halben Zoll hoch aus dem Stein hervorragte; doch hütete sie sich sehr, daran zu drücken; die Wand hätte sich ja zurückbewegen und sie also leicht verraten können. Das mußte sie vermeiden.
In dem verborgenen Raum angekommen, erblickte Emilia auf Tischen und Gestellen eine ganze Menge von Büchern, Flaschen, Kapseln, Instrumenten und Apparaten, von deren Zweck sie kein Verständnis hatte.
Der Pater schritt an diesen Sachen vorüber und blieb vor einer leeren Stelle der Mauer stehen, klopfte daran und sagte:
»Dahinter steckt der Beweis, den Ihr verlangt.«
Das Klopfen hatte dumpf und hohl geklungen. Auch jetzt blickte Emilia mit größter Spannung nach seiner Hand, um sich keine Bewegung derselben entgehen zu lassen. Hilario hielt die Laterne näher an die Wand, so daß das Licht derselben scharf auf die Mauer fiel. Da erblickte das Mädchen nun allerdings eine Art Linie, die ein viereckiges Stück Mauerwerk scharf von dem übrigen abgrenzte.
»Das ist eine Tür«, sagte er. »Sie hat kein Schloß. Sie dreht sich um eine Mittelachse, so daß man nur auf der einen Seite scharf zu schieben braucht, um sie zu öffnen.«
Er stemmte sich kräftig gegen die Mauer, und sogleich gab das durch den Strich abgegrenzte Stück derselben nach. Es entstand eine mannshohe und halb so breite Öffnung, hinter der ein dunkler Raum lag.
Der Pater trat ein, und Emilia folgte ihm, von der größten Neugierde erfüllt. Das Gemach hatte keine andere Öffnung als diese Tür. Es standen mehrere große Kisten darin, und an der einen Mauerseite war ein Schränkchen befestigt, an dem kein Schloß zu bemerken war. Der Verschluß schien ein sehr geheimnisvoller zu sein, und doch war er so einfach. Der Pater zog nämlich die vordere Seite wie einen Schieber heraus, und nun zeigte es sich, daß der Inhalt aus allerlei Briefen und anderen Schriften bestand.
Nun drehte der Pater sich zu Emilia um.
»Señorita«, sagte er, »dieses verborgene Gemach enthält meine Geheimnisse. Niemand hat eine Ahnung davon. Sie sind so wichtig, so wertvoll, daß ich nur Euch einen Blick hineinwerfen lasse, aber nur unter einer Bedingung, von der ich auf keinen Fall abgehen kann.« – »Welches ist diese Bedingung?« fragte sie. – »Ihr müßt mir einen feierlichen Schwur ablegen, daß Ihr niemals davon sprechen wollt. Seid Ihr bereit dazu?« – »Sind diese Geheimnisse wirklich von einem so hohen Wert?« – »Ja.« – »Nun gut, so will ich den Schwur ablegen«, sagte sie. – »Wißt Ihr aber auch, was Ihr damit tut?« – »Ganz gewiß«, antwortete sie, brennend vor Erwartung, was sie zu sehen bekommen werde. – »Glaubt Ihr an Gott?« – »Das versteht sich!« – »Das ist das erste und einzige Erfordernis bei Ablegung eines Schwures. Erhebt die drei ersten Finger Eurer rechten Hand und sagt mir nach, was ich Euch vorsprechen werde!«
Er nahm ihr den Schwur ab. Sie leistete ihn keineswegs gern, denn sie wollte ja nur im Interesse von Juarez in die Geheimnisse des Paters eindringen. Doch sagte sie sich, daß ihr dies ohne Schwur unmöglich sein werde.
Als Juarez ihr in Chihuahua ihre Instruktion gab, hatte er sie an den Pater Hilario adressiert. Der Präsident wußte, was nur wenige ahnten, nämlich, daß in der Hand dieses einstigen Mönches viele feindliche Fäden zusammenliefen, die kennenzulernen vom allergrößten Vorteil sein mußte. Darum war Emilia hier.
»So!« meinte der Pater. »Ihr habt geschworen, und nun werde ich Euch zunächst beweisen, daß die Zeit kommen wird, in der ich Euch eine solche Stellung bieten kann, wie Ihr sie wünscht.«
Hilario griff in den Schrank und zog ein Paket Briefe hervor, öffnete einen nach dem anderen und zeigte Emilia die verschiedenen Unterschriften.
»Das ist meine geheime Korrespondenz«, meinte er. »Sind Euch die Namen bekannt, die Ihr hier lest?«
Emilia kannte sie alle. Es waren die Namen der hervorragendsten Staatsmänner und Militärs von Mexiko. Auch die Namen hoher französischer Offiziere waren dabei. Dennoch aber antwortete sie:
»Ich habe mich jetzt noch nicht in der Weise mit Politik beschäftigt, wie ich es für später beabsichtige. Darum kenne ich zwar einige dieser Herren; die meisten aber sind mir unbekannt.« – »Ihr werdet sie kennenlernen, wenn Ihr Euch entschließt, meine Werbung anzunehmen. Mein Wissen und Eure Schönheit können sich ergänzen, so daß ich überzeugt bin, daß wir große Erfolge erringen werden.«
Es kam ihr alles darauf an, den Inhalt dieser Briefe kennenzulernen. Sie streckte die Hand aus und fragte:
»Darf ich sie lesen?«
Er macht eine schnelle, abwehrende Handbewegung und antwortete:
»Nein. Das ist unmöglich.« – »Warum? Ich denke, wir wollen Verbündete werden?« – »Allerdings; aber bis jetzt sind wir es noch nicht.«
Emilia tat, als ob sie seine Weigerung für selbstverständlich halte, und sagte im gleichgültigsten Ton:
»Ich hoffe, daß wir es aber bald sein werden.«
Über sein Gesicht ging ein freudiges Aufleuchten.
»Wirklich, Señorita?« fragte er rasch. – »Ja. Ich denke, wer mit solchen Männern verkehrt, der besitzt Einfluß und hat eine hervorragende Zukunft vor sich.« – »Zukunft sagt Ihr? Ich bin ja alt!«
Bei diesen Worten ruhte sein Auge sehr erwartungsvoll auf ihr.
»Alt? Ich habe Euch bereits gesagt, daß ich das Alter nicht nach den Jahren zähle. Eine glänzende Zukunft von zehn Jahren hat bei mir mehr Anziehungskraft, als ein gewöhnliches Leben in fünffacher Länge.« – »Das ist sehr klug und weise von Euch, Señorita. Also Ihr seid jetzt überzeugt, daß ich imstande bin, Euch eine Stellung zu bieten?« – »Ja. Nur fragt es sich, welcher Art sie sein wird.« – »Ihr meint, welche Charge?« – »Nein, sondern in wessen Diensten.«
Hilario zuckte die Achsel.
»Ein guter Diplomat fragt nicht nach dem Herrn, dem er dient, sondern nur nach seinem eigenen Vorteil. Ich widme meine Kräfte demjenigen, der sie am besten bezahlt. Nur Juarez mag ich nicht dienen.« – »Warum nicht?« – »Ich hasse ihn, hasse ihn so, wie ich noch keinen Menschen haßte. Mein Haß aber ist persönlich. Er ist nicht gegen die Politik oder das System des Juarez gerichtet, sondern ganz allein gegen seine Person.« – »Was hat er Euch denn getan?« – »Getan? Mir? Viel, unendlich viel! Unser Kloster war eines der reichsten und berühmtesten des Landes. Wir dienten zwar Gott, aber wir dachten auch an uns selbst und befanden uns außerordentlich wohl dabei. Ich war Superior, ich war der Oberste dieses frommen Hauses ... und jetzt? Da kam dieser Juarez und sagte, die sogenannte ›tote Hand‹ sei das größte Übel der Völker, die Klöster seien Hemmnisse der freien Entwicklung des Nationalwohlstandes. Er hob die Klöster auf, und wo sie verschont wurden, da nahm er ihnen das Vermögen. Auch das unsrige wurde säkularisiert, die frommen Väter wurden vertrieben, und nur ich durfte bleiben, da meine ärztlichen Kenntnisse dem gegenwärtigen Zweck dieses Hauses zugute kommen konnten. Was war ich früher, und was bin ich jetzt? Habe ich nicht Grund, diesen Juarez zu hassen? Muß ich nicht jede Gelegenheit ergreifen, mich an ihm zu rächen? Ja, und das tue ich aus allen Kräften. So lange ich lebe, soll es ihm nicht gelingen, sich auf den Stuhl des Präsidenten zu setzen. Dies habe ich geschworen, und ich werde es halten.«
Der Pater hatte sich in eine tiefe Erbitterung hineingeredet Seine Wangen hatten sich dunkel gefärbt, und seine Augen glühten vor Grimm. Man sah es diesem Mann an, daß er, um sich zu rächen, zu allem fähig sei.
»Ich habe nur einmal fast so sehr gehaßt wie jetzt, und das ist lange, lange her«, sagte er. – »Gegen wen war der damalige Haß gerichtet?« fragte Emilia. – »Ihr werdet den Mann wohl schwerlich kennen«, antwortete er. »Es war ein Graf Rodriganda.« – »Rodriganda? Ah, ich habe diesen Namen doch bereits gehört.« – »Wo?« – »Darauf kann ich mich wirklich nicht besinnen.«
Emilia wollte nicht sagen, daß Sternau in Chihuahua diesen Namen genannt hatte. Der Pater blickte sie forschend an und fragte:
»Was habt Ihr von diesem Rodriganda gehört?« – »Auch das weiß ich nicht mehr. Ich besinne mich bloß, seinen Namen gehört zu haben.« – »Es ist auch gleichgültig. Dieser Mann ist ja längst tot.« – »Was hatte er Euch getan?« – »Das erzähle ich Euch vielleicht später einmal. Jetzt haben wir keine Zeit dazu.«
Bei diesen Worten legte Hilario die Briefe in das Schränkchen zurück.
»Also ich bekomme sie jetzt nicht zu lesen?« fragte sie. – »Nein. Ihr würdet sie erst als meine Frau lesen dürfen.« – »Oder wenigstens als Eure Braut?«
Emilia schlug dabei einen scherzenden Ton an, obgleich es ihr sehr ernst war.
»Nein«, antwortete er. »Eine Verlobung kann leicht wieder aufgelöst werden, und solche Dinge traut man nur einer Person an, die für immer mit einem verbunden ist. Jetzt werde ich Euch den zweiten Beweis liefern, daß ich reich bin.« – »Ihr macht mich wirklich neugierig, Señor.« – »Eure Neugierde soll befriedigt werden.«
Hilario trat zu den Kisten. Diese waren mit sogenannten Vexierschlössern versehen, zu denen man keine Schlüssel braucht. Er öffnete sie, und die Señorita fühlte fast ihre Augen geblendet von dem Reichtum, der ihr aus ihnen entgegenstrahlte.
Die Kisten enthielten nämlich die heiligen Gefäße, die kostbaren Meßgewänder des aufgelösten Klosters und anderes Gerät, alles mit edlen Steinen besetzt und meist in reinem Gold gearbeitet.
»Nun?« fragte er im Ton der Überlegenheit. – »Welch ein Reichtum!« – »Nicht wahr? Das sind viele Millionen!« – »Das repräsentiert ja ein geradezu fürstliches Vermögen.« – »Mehr als das! Unser Kloster war reicher, war mehr wert als manches Fürstentum. Als die weltliche Macht Besitz von ihm ergriff, habe ich diese Schätze gerettet.« – »Wie konnte Euch das gelingen? Man mußte doch wissen, daß alle diese Kostbarkeiten vorhanden seien.« – »Man wußte es allerdings«, sagte er mit einem höhnischen, beinahe diabolischen Lachen, »aber es gab mehrere Mittel, zum Ziel zu kommen.« – »Welche zum Beispiel?« – »Davon später. Jetzt sagt mir einmal, ob Ihr nun glaubt, daß ich reich bin!« – »Oh, Ihr seid doch nicht der Besitzer dieser Sachen?« – »Wer denn?« – »Sie gehören Euch doch nicht.« – »Wem sonst?« – »Dem Staat.« – »Dem Staat? Laßt Euch doch nicht auslachen! Wem gehört denn der Staat? Dem Juarez, dem Panther des Südens, dem Max von Österreich und den Franzosen? Einem von ihnen, keinem von ihnen oder ihnen allen? Was ist überhaupt Staat? Ist Mexiko jetzt Staat? Mexiko ist herrenlos, ist der Anarchie preisgegeben, und jeder soll da nehmen, was ihm in die Hände kommt.« – »Ihr predigt ja Raub und Diebstahl.« – »Unsinn. Ich predige nichts als Klugheit. Diese Sachen können dem Kloster nicht gehören, denn es ist aufgehoben. Sie können dem Staat nicht gehören, denn es gibt keinen konsolidierten Staat in Mexiko, und selbst wenn es einen gäbe, so würde derselbe nicht das mindeste Recht am Eigentum der Kirche haben. Ich bin der einzige, der von dem Kloster übriggeblieben ist, und so gehört mir auch alles, was vom Eigentum dieses letzteren vorhanden ist. Gebt Ihr mir recht oder nicht?«
Emilia wußte, daß Hilario sich im offenbarsten Unrecht befand, aber sie durfte es mit ihm nicht verderben, und zugleich übten diese Reichtümer ihre Wirkung auf sie aus. Welches Weib könnte gleichgültig bleiben, wenn die Strahlen von tausend Diamanten und Juwelen in sein Auge fallen?
»Ich will Euch nicht widersprechen«, sagte sie. – »Ihr betrachtet mich also als Herrn dieser Schätze?« fragte er. – »Ja«, antwortete sie. – »Nun, so frage ich Euch, ob Ihr deren Herrin werden wollt.«
Seine Augen ruhten gespannt auf ihr. Sollte sie die Frau dieses Mannes werden? Dieser Gedanke beschäftigte Emilia. Es wäre ein großes Opfer von ihr gewesen, sich mit ihrer Schönheit, ihrer Lebenslust an diesen häßlichen, kraftlosen Greis zu fesseln. Aber dieses Opfer wurde ja überreichlich aufgewogen durch das lockende Besitztum, das er ihr anbot.
Aber konnten diese Schätze nicht auch auf andere Weise in ihre Hände gelangen, ohne daß es notwendig war, sich an diese menschliche Ruine zu ketten? Zehn und noch mehr Möglichkeiten waren vorhanden; diese Angelegenheit mußte reiflich überlegt werden.
»Muß ich mich denn sofort entscheiden?« fragte sie. – »Ich möchte Euch darum bitten.« – »Und ich muß Euch um Bedenkzeit ersuchen!« – »Warum?« – »Der Schritt, den Ihr von mir fordert, darf nicht leichtsinnig getan werden.« – »Ihr mögt nicht ganz unrecht haben, aber die Liebe zaudert nicht.« – »Sobald sie wirklich vorhanden ist, ja.« – »Also bei Euch ist sie nicht vorhanden?« – »Noch nicht, Señor. Ihr könnt mir dies nicht übelnehmen. Ich gehöre nicht zu den Naturen, die bereits beim ersten Blick brennen. Desto treuer aber sind meine Gefühle, wenn sie sich entwickelt haben.« – »Gut, ich will Euch nicht drängen; aber eins verlange ich einstweilen. Ich bin so aufrichtig gewesen, daß ich wohl einen kleinen Lohn, eine Art Abschlagszahlung erwarten darf.« – »Abschlagszahlung? Ich verstehe Euch nicht. Worin soll sie bestehen?« – »In einem kleinen Kuß.«
Hilario spitzte bereits den Mund und machte Miene, Emilia zu umfangen, diese aber trat rasch zurück und streckte die Hände abwehrend vor.
»Nicht so schnell, Señor!« sagte sie. »Ich werde niemals einen anderen küssen als den, dem ich angehören werde.« – »Aber ich hoffe doch, daß ich dies sein werde.« – »Möglich! Sicher aber ist es noch keineswegs.« – »So bedenkt doch, daß ein Kuß keine Sünde ist!« – »Eine Sünde nicht, aber eine Kinderei. Nur zwischen Leuten, in denen die Liebe mächtig ist, hat er einen Zweck.« – »Ihr verweigert ihn mir also?« – »Ja.«
Emilia wußte genau, daß sie durch diese Weigerung Hilarios Begierde noch mehr entflammen und dadurch an Macht über ihn gewinnen werde.
Er zog ein Messer hervor und ergriff eines der reichen Meßgewänder.
»Seht diesen Diamanten«, sagte er, »er ist zweitausend Dollar wert. Ich schneide ihn sofort ab und schenke ihn Euch für einen einzigen Kuß.« – »Ich verkaufe meine Küsse nicht«, antwortete Emilia kalt. – »Und dennoch muß ich ihn haben!«
Bei diesen Worten sprang Hilario, ehe Emilia es vermutete, auf sie zu, umarmte sie, drückte sie an sich und versuchte, mit seinem Mund ihre Lippen zu fangen. Lange wollte es ihm nicht gelingen, endlich aber doch. Es ließ sich schwer sagen, ob er durch seine körperliche Überlegenheit siegte, oder ob sie aus berechnender Schlauheit ihm seinen Wunsch erfüllte. Jedenfalls aber war dieser erzwungene Kuß ein so kurzer, daß er das Verlangen des Paters nur noch mehr steigerte.
Der alte Mann drückte das schöne Mädchen mit aller Gewalt an sich und rief:
»Bei Gott, dieser Kuß soll nicht der einzige gewesen sein!« – »Und doch!« antwortete sie.
Er wußte nicht, wie es kam, aber während dieser Worte schleuderte ihn Emilia mit einer so kraftvollen Bewegung von sich, als ob sie die Stärke eines rüstigen und geübten Mannes besäße. Er taumelte und stürzte zu Boden, raffte sich jedoch sofort wieder empor.
»Señorita, Ihr seid ein Engel, aber auch zugleich ein Ungeheuer!« sagte er. »Gott hat Euch geschaffen, um glücklich zu machen, Ihr aber mit Eurer kalten, erbarmungslosen Seele seid wirklich imstande, einen zur Verzweiflung zu bringen.« – »Wirklich? Bin ich so kalt?« fragte sie lächelnd. – »Ja, wie Eis.«
Emilia dachte an den Schwarzen Gerard, dem sie so gern alle Zärtlichkeiten gewidmet hätte, und an den Kleinen André, diesen, wenn auch nicht mehr jungen und auch nicht schönen, aber doch so braven Jäger, den sie freiwillig geküßt hatte, weil er ihr durch seine Aufopferungsfreudigkeit eine so rege Teilnahme eingeflößt hatte.
»Versucht einmal, dieses Eis zu schmelzen!« sagte sie.
Dabei lag ein Lächeln um ihre Lippen, so stolz und doch auch wieder so verführerisch, daß er hätte den Verstand verlieren mögen.
»Ich habe es ja soeben versucht!« sagte er. – »Aber nicht in der richtigen Weise, Señor. Mit Gewalt läßt sich keine Liebe erwecken. Merkt Euch das!« – »Soll ich Euch, der ich keinen Tag meines Lebens zu verschenken habe, etwa vierzehn Jahre dienen, die Jakob um Rahel geworben hat?« – »O nein«, lachte sie. »Eine vierzehnjährige Werbung würde auch mir langweilig werden. Habt Ihr mir hier noch etwas zu zeigen?« – »Nein. Ihr habt bereits alles gesehen.« – »So wollen wir zurückkehren.« – »Und wann werde ich erfahren, ob Ihr die Meine werden wollt?« – »Ich werde Euch die Antwort in drei Tagen geben.« – »Angenommen! Ich hoffe, daß Ihr nicht nein sagen werdet. Kommt also jetzt. Wir wollen gehen!«
Sie kehrten auf demselben Weg zurück, den sie gekommen waren, wobei der Pater natürlich alles wieder verschloß. Auch hier entwickelte Emilia die größte Aufmerksamkeit, so daß ihr nichts entging, was sie bemerken wollte. Sie ging nicht wieder mit Hilario nach seiner Wohnung, sondern begab sich nach derjenigen, die ihr angewiesen worden war.