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Am Vorabend des hohen Pfingstfestes fuhr ein herrschaftlicher Landauer die Pappelallee vom Plinkenauer Schlosse zum Bahnhofe hinunter.
»Aha,« sagten die Leute im Dorfe, »der Doctor kommt zurück. Dieses Mal ist er lange in Berlin gewesen. Jetzt wird er wohl den Sommer auf seinem Gute bleiben. Ueberhaupt ist er allmählich ein bißchen alt für das viele Herumreisen: er sollte sich einmal Ruhe gönnen.«
Das Volk hatte recht, den Doctor bei sich halten zu wollen, denn er war ein leutseliger und überaus wohlthätiger Herr.
Nach einer guten Viertelstunde kehrte die Equipage in auffallend langsamem Tempo zum Herrenhause zurück. »Wer sind denn die beiden Herren bei dem Doctor?« fragten die Leute. »Einer ist ja verbunden, als ob er ein Duell gehabt hätte. Der arme Mensch! Schau nur, der Kopf ist ganz unförmlich. Das bleiche Gesicht – ei du lieber … ist das nicht der schöne junge Mann, der letzten Herbst den Doctor besuchte? Gott, Gott, was mag dem passirt sein? Und der andre? Der sieht nicht aus wie ein Deutscher, fast wie ein Spanier. Himmel, so schwarz und braun!«
Herr von Sechow grüßte die guten Dörfler dieses Mal sehr ernst.
Vorsichtig fuhr der Wagen vor die Säulenhalle des Eingangs. Der Livreebediente sprang vom Bocke, und ein andrer Diener eilte aus dem Hause an den Kutschenschlag.
Der Doctor stieg zuerst aus und sagte: »Nun ganz langsam und sinnig, lieber Theo. Luigi, fassen Sie Theo von hinten um die Hüfte. Nehmen Sie den Stock in die Linke, Theo, und lehnen Sie sich rechts gegen meine Brust. So! Friedrich, ist das große Balkonzimmer hergerichtet?«
»Jawohl, Herr Doctor, ganz wie befohlen.«
Mit großen Schmerzen kam Theo aus dem Wagen. Man sah seinem Gesichte an, daß er viel litt.
»Sie können unmöglich die fünf Stufen hinauf, Theo.«
»Ich will versuchen, Doctor,« antwortete eine schwache Stimme.
»Nein, nein, wir tragen Sie; geniren Sie sich nicht! Die Eisenbahnfahrt hat Sie ungemein angegriffen. Friedrich, fassen Sie Herrn Baron bei den Füßen! Ich trage oben. Sie können mich unterstützen, Luigi! So, recht so! Nun aber langsam die Stufen hinauf!«
Ein paar Minuten später lag Theodor auf einem bequemen Ruhebett vor der offenen Balkonthüre eines großen, lustigen Parterrezimmers. Der Blick des Kranken fiel auf die schöne Tannengruppe, welche gerade vor dem Balkon zur Rechten stand. Würziger Duft strömte von den sonnenbeschienenen Nadeln in das Gemach. Wandte Theo die Augen ein wenig weiter links, so schaute er auf den wohlgepflegten englischen Rasen, dessen Mitte eine riesige Rothbuche einnahm. Aus der Ferne vernahm man das Plätschern eines Springbrunnens und das muntere Gezwitscher der Vögel. Sechow beorderte einen Imbiß, da man erst in einer Stunde das Diner bereit hatte.
»Sie müssen die Chaiselongue dann in den Speisesaal schieben, Friedrich, und so decken, daß Herr Baron mit der Linken auf den Tisch reichen kann.«
»Sehr wohl, Herr Doctor,« sagte der Diener und verschwand.
Als Schinkenbrödchen mit einem Glas Wein erschienen, forderte Sechow auf: »Nur ordentlich zugreifen, Kinder. Ich muß euch beide herausfüttern. Zum Diner bleibt immer noch Platz.«
»Doctor,« sagte Theo, »darf ich heute Abend noch einmal Ihre opferwillige Liebe zu einem Briefe an Ethel in Anspruch nehmen?«
»So oft Sie wollen, Theo. Sie brauchen sich gar nicht zu entschuldigen oder Faxen zu machen. Ihr Arm muß noch eine Weile in der Binde bleiben. Wenn ich so viele Wochen Ihr Secretär war, halt' ich's auch noch ein bißchen länger aus. Oder waren Sie mit mir unzufrieden?«
»Wie könnte ich das, liebster Doctor?«
»Nicht wahr? Habe ich doch immer so schlau geschrieben, daß das Bräutchen gar nicht einmal ahnte, wie krank Sie waren.«
»Ob ich nächsten Monat reisen kann?«
»Das hängt davon ab, ob Sie hübsch gehorsam sind. Nur unter der Bedingung hat der Arzt Ihre Ueberführung nach Plinkenau erlaubt. Von Lesen, Schreiben und Spazierengehen ist vorläufig noch keine Rede. Das thun Luigi und ich für Sie. Uebrigens – es wird Sie interessiren, Theo, daß ich vorgestern nach Edinburg geschrieben habe, alle Briefe seien fortan hierher nach Plinkenau zu adressiren.«
»Sie denken doch an alles!« lächelte Theo und reichte dem Doctor die Hand.
»Ich schrieb der Counteß, Sie würden ein paar Wochen bei mir ›Grillen fangen‹. Nun denken die Engländer, die den Ausdruck schwerlich kennen: der Theodor geht bereits auf die Jagd, da muß es nicht weit her sein mit der Krankheit.«
»Serr gut, serr gut!« applaudirte Luigi lachend und stieß in seiner Freude an den Tisch, daß die Gläser, aber auch Theodors Nerven zu zittern begannen.
Der Kranke meinte: »Ich muß zufrieden sein, daß mein Kopf nicht gefährlich verletzt wurde, und daß ich die Aussicht habe, den vollen Gebrauch meines Armes wieder zu erlangen. Sonst hätte ich auch die Kunst an den Nagel hängen müssen. Aber das Bein … o meine Freunde, wie schwer wird es mir doch, das Opfer bringen zu müssen! – nicht, weil ich zeitlebens hinken werde, nein, meine Eitelkeit ist hoffentlich dahin, aber weil meine Braut schwerlich dem Krüppel ihre Hand reichen wird.«
Sechow mußte sich gestehen, daß ihn heimlich dieselbe Furcht beseelte. Die Aerzte hatten schon ein paar Tage nach der Katastrophe erklärt, die Kopfwunden seien unbedenklich und auch der Arm müsse in einigen Wochen wieder geheilt sein, doch werde der junge Mann wohl zeitlebens hinken. Ja, Sechow hatte schwere, kummervolle Tage durchgemacht. Er dachte an die Hauptereignisse zurück; denn Theodors Haupt sank nach der bangen Frage müde gegen die Kopflehne des Ruhebettes, und Luigi flüsterte: »Er ist müde von der Reise. Lassen Sie ihn schlaffen!«
»Gut, mag er einen Augenblick einnicken. Wir trinken unterdessen aus; schenken Sie sich ein, Mallatini!«
»Danke, nix mehr vor das Essen. Ich gehe auf die Fußspitzer leise auf den Balcone, wenn Sie erlauben?«
»Aber leise, daß Theo nicht aufwacht!«
Der Doctor blieb sitzen und hielt die Hand des schlafenden Freundes in seiner Rechten, während er über die Scenen und Ereignisse der letzten Wochen nachsann. Lebhaft standen die seltsamen Bilder vor seinem Auge.
Die erste Scene: Es war am Abend des Tages, da Sechow von Georgine Abschied genommen hatte. Spät abends fährt der Doctor mit Theo und Mallatini nach Hause. Sie hatten bei dem Professor der jungen Leute Besuch gemacht und waren zu Tisch geblieben. Auf dem Heimwege, gerade Ecke Friedrichs- und Leipzigerstraße, stößt ihre Droschke mit einem in rasender Eile dahinsausenden Wagen der Feuerwehr zusammen und bricht in tausend Stücke. Sechow und Mallatini kommen mit einigen Hautschürfungen davon, aber Theodor liegt in einer Blutlache. Der rothe Lebenssaft strömt aus mehreren Wunden am Kopfe und am Schenkel, der rechte Arm ist gebrochen, und über den rechten Fuß ist ein schweres eisernes Rad gegangen. Eine kolossale Menschenmenge strömt zusammen, der Verkehr stockt, Schutzleute rufen und drohen, Kinder schreien, und hundert Fragen und Rathschläge tönen durcheinander. Das weiße elektrische Licht beleuchtet die schreckliche Gruppe mit grellem Schein.
Zweites Bild: Ein Krankenzimmer im Hedwigsspital, Große Hamburgerstraße. Am Bette Theos der Oberarzt, eine Graue Schwester, Sechow, Luigi. Noch ein Arzt tritt ein. Die beiden Kollegen untersuchen die Verbände, sprechen leise mit der Schwester, beobachten den unruhig Schlummernden und consultiren dann miteinander. Der Oberarzt winkt Sechow ins Nebenzimmer: »Ihr Freund wird bald einige lichte Augenblicke haben – aber bereiten Sie die Angehörigen vor. Die Operation kann unmöglich vorgenommen werden, solange das Fieber noch nicht gebrochen ist.« – »Und warum die Angehörigen vorbereiten? Ist Gefahr da?« – »Ich fürchte. Der Blutverlust war ein enormer.«
Drittes Bild: Ein anderes Zimmer, aber derselbe Kranke. Der rechte Arm liegt in Gips, die kleine Operation am Fuße ist geglückt. Das Bein braucht nicht amputirt zu werden, aber der Patient wird sein Leben lang hinken. Noch weiß er nichts davon. Sein Kopf ist kahl rasirt und mit mehreren Pflastern und Verbänden bedeckt. Die Augen muß er ganz besonders schonen; Ueberreizung des Gehirns und der Kopfnerven kann verhängnißvoll werden. In einem Stuhle am Fenster sitzt Dolores. Sie ist, auf Sechows Telegramm hin, mit Theos Mutter und Carlos von Hamburg herbeigeeilt. Ruhig und heiter plaudert sie. Sechow steht an der andern Seite des Zimmers und sagt: »Sie hätten hören sollen, was die Schwester Elisabeth von Ihnen sagte, gnädige Frau! Sie könnten ebenso geschickt pflegen wie eine von Beruf.« Dolores erröthet und gibt das Compliment zurück: »Und Sie, Herr Doctor, müssen vom lieben Gott ein Stück Vorsehung und Regierungsgewalt bekommen haben, so prächtig haben Sie für meinen armen Schwager gesorgt.« Der Patient ist gerade aufgewacht und fragt: »Ist Dolores noch da?« – »Ja, sie war die ganze Zeit hier.« – »Und der Doctor?« – »Hier bin ich, Theo.« – »Ich kann noch gar nicht recht sehen; das Licht schmerzt meine Augen. Wo ist Mama?« – »Sie wollte einige Einkäufe in der Stadt machen.« – »Wann kommt sie wieder?« – »Sie hat nichts gesagt.« – »Und Carlos?« – »Er sucht einen alten Bekannten auf, der ehedem in Guatemala war.« – »Also nur Dolores und der Doctor sind da?« – »Ja, Theo, niemand sonst.« – »Wißt ihr, daß diese gute Schwester Elisabeth, die ganze Nächte bei mir wacht und so niedrige Dienste hier verrichtet, früher eine Prinzessin Hochberg-Waldstein war?« – »Woher hast du diese Nachricht, Theo?« – »Der Arzt sagte es mir heute früh. Er ist voll Bewunderung für sie, und ich bin es auch.« – »Theo, du sollst nicht so viel sprechen, hat der Oberarzt gesagt.« – »Doctor, ist schon Antwort von Ethel da?« – »Nein, kann auch noch nicht sein.« – »Sie haben doch nicht geschrieben, daß ich dem Tode so nahe war?« – »Nein, Theo, beruhigen Sie sich. Lassen Sie jetzt das Schwätzen!« – Der Kranke schläft ein und redet im Traume von Hans, Ethel, Luigi, Pater Hermann und Tante Stormarn.
Viertes Bild: Seit mehreren Tagen hat das Fieber Theo gänzlich verlassen. Er liegt noch in demselben Zimmer. Morgen darf er versuchen, auf Krücken und mit Hilfe seiner Lieben bis an den Lehnstuhl zu gehen. Die Heilung des Armes schreitet vorwärts, aber Theo ist ernst, sehr ernst, denn Sechow hat ihm offen und ehrlich die Wahrheit gesagt, daß er für Lebenszeit mit dem rechten Fuße werde kurz treten müssen. Zwei Stunden hat der junge Künstler kein Wort geredet und nur gegrübelt und – gebetet. Als ihn Madame Ollivier darauf besuchte, schien er ganz gefaßt und heiter zu sein. Sechow verließ während dieses Besuches das Zimmer. Als Georgine ging, traf er sie auf der Treppe und grüßte kurz, um rasch vorbeizukommen. Aber sie rief ihm zu: »In einigen Tagen reise ich zu Georgs Hochzeit nach Hamburg.« – »Gott lohne Ihnen den Entschluß!« erwiderte der Doctor und verschwand, so schnell er konnte.
Fünftes Bild: Einige Tage später. Mathilde ist auch herübergekommen, und Theo empfängt so viele Besuche, daß der Arzt energisch protestirt. Der erste Brief von Ethel ist da: »Wenn Theo zu Pfingsten noch nicht kommen könne, so solle er doch reisen, sobald der Arzt es gestatte. Ob denn eine Verrenkung des Armes so lange Zeit zur Heilung brauche?« Der Doctor antwortet, der Arm sei gebrochen, aber bereits wieder in der Genesung. Es gehe alles recht gut, nur sei Theo sehr schwach und angegriffen. Sein Gang sei unsicher, aber die Kräfte nähmen zu. Er spreche alle Augenblicke von Ethel.
Sechstes Bild: Am Abend desselben Tages. Die Baronin, Dolores und Mathilde sind ins Hotel zurückgekehrt, Carlos ist am Nachmittag heimgereist. Die eigentliche Gefahr für Theodors Leben ist vorüber. Sechow und Schwester Elisabeth weilen allein noch bei dem Patienten. Als die Schwester das Zimmer verläßt, um eine kühlende Limonade für die Nacht zu bereiten, sagt Theo: »Doctor! Ich habe einen Entschluß gefaßt.« – »Nun?« – »Vor meinem Unglücksfall erklärte ich Ihnen einmal, ich könne nicht beichten. Erinnern Sie sich?« – »Ganz gewiß.« – »Und Sie hielten mir entgegen, ich wolle nicht. Doctor, setzt will ich. Ehe ich das Krankenhaus verlasse, will ich beichten. Drüben in der schönen Kapelle will ich mein katholisches Glaubensbekenntniß ablegen. Gott hat meinen Willen durch den Unglücksfall besiegt. Es ist gut, daß weder Sie noch die Schwester versucht haben, mich zu bekehren, denn dann hätte ich wieder dagegen geredet. Aber Doctor, warum weinen Sie denn? Seien Sie doch froh und glücklich mit mir! Geben Sie mir Ihre Hand … so! Ich will Ihnen alles erzählen: Letzte Nacht erwachte ich von einem Drucke auf der Brust. Das silberne Kreuz, das Hans mir gegeben, verursachte dies. Ich lag nämlich auf dem Rücken und preßte im Schlafe die Hand darauf. Da fiel mir, als ich nach dem Kreuzchen griff, das Wort des lieben Freundes ein: › Ein Christentum kann doch nur das wahre sein.‹ O Doctor, Ihr Christenthum, Dolores' Christenthum, Schwester Elisabeths, Pater Hermanns Christenthum – das mußte das rechte sein! Ich betete in der Stille der Nacht um Licht. Wunderbar klar sah ich alle Wahrheiten ein, die ich von Ihnen, von Luigi, aus Pater Hammersteins Büchern erfahren. Und mein Wille? Ich dachte: Wo wäre ich jetzt, wenn ich von den Rädern jenes Wagens zermalmt worden wäre? Wo weilte wohl meine Seele? Nein, mein Entschluß ist gefaßt: der Wahrheit die Ehre geben, das will ich. Und schauen Sie, Doctor: falls Ethel mich verschmähen sollte – o, ich glaube es nicht, nein! nein! – aber falls ich als Krüppel meine Braut aufgeben muß, bedarf ich da nicht der Kraft, nicht eines außergewöhnlichen Gnadenbeistandes? Doctor, schreiben Sie dem Pater Wenzeslaus, ich ließe ihn um seinen Besuch bitten.«
Siebentes Bild: O welche schreckliche Scene! Die Baronin erfährt von Theodors Entschluß, beschwört ihn, bittet, droht, weint – alles vergebens. Im Zorne reist sie mit Mathilde ab, nicht ohne dem Doctor, Dolores und der Schwester Elisabeth die ungerechtesten Anklagen ins Gesicht geschleudert zu haben. Theodor soll als Römling das Haus der Mutter nicht mehr betreten. Selbst Mathilde ist tief empört und vergißt sich der pflegenden Ordensfrau gegenüber. Demüthig erwidert die Schwester nur: »Ich wußte nicht einmal, daß der Herr Bruder Protestant ist.« Weil Dolores zur Messe in die Kapelle kam, hatte die Schwester geglaubt, auch Theo sei katholisch wie seine Freunde Sechow und Luigi, nur vielleicht lau oder ungläubig geworden.
Achtes Bild: Pater Wenzeslaus, Sechow und Luigi geleiten Theodor an den festlich geschmückten Hochaltar. Die von der Kirche zur Aufnahme eines Convertiten vorgeschriebenen Ceremonien beginnen. Theodor kniet, gestützt von dem Doctor und Mallatini, selig und zufrieden vor dem Tabernakel und spricht das Glaubensbekenntniß von Trient nach. – –
Die Hand, welche Sechow nicht losgelassen hatte, bewegte sich. Theo wachte wieder auf und schaute sich verdutzt um.
»Sie sind auf Plinkenau, Freund.«
»Und wo ist Luigi?«
»Auf dem Balkon. Er scheint sein Skizzenbuch vorzuhaben.«
»Der Schlaf hat mir gut gethan. Ich glaube, ich kann selbst an Ethel schreiben.«
»Sie sind wohl –? Der Arm muß in der Binde bleiben.«
»Mit Bleistift könnte ich mal versuchen …«
»Das würde hübsche Krähenfüße geben.«
»Wann wollen Sie denn die Güte haben?«
»Nach Tische können Sie mir dictiren. Oder sollen wir lieber noch warten?«
»Wozu?«
»Ich habe so eine Ahnung, daß Pfingsten ein Brief von Ethel kommt. Aus morgen früh habe ich zudem einen der Franziskaner von Eichthal gebeten, die hl. Messe in der Kapelle zu lesen …«
»In der Rumpelkammer, die Sie mir damals zeigten?«
»Bitte sehr, die St. Theodors-Kapelle ist seit drei Monaten restaurirt. Ich habe sogar vom Apostolischen Vicar in Dresden die Erlaubniß erhalten, dort celebriren zu lassen. Ein prächtiges Altärchen steht jetzt darin. Nun dachte ich also, wir wollten morgen die heilige Communion empfangen, und der Pater, der hoffentlich kommt, könnte die heilige Messe nach Ihrer Intention lesen.«
»Ja, Doctor, der arme Krüppel hat es nöthig. Gebe Gott, daß Ethel einen hinkenden Bräutigam noch brauchen kann. Das heißt, wie Gott will; sein Wille geschehe.«
»Brav, Theo! Sie sind ein rechter katholischer Mann geworden.«
»Loben Sie mich nicht, Doctor; es war ja höchste Zeit.«
»Nun habe ich noch einen Vorschlag. Wollen wir dem hl. Joseph ein Gelübde machen? Der hilft nämlich gut in allen zeitlichen und ewigen Angelegenheiten.«
»Was haben Sie im Sinne?«
»Am Tage, wo Ethel Ihre Frau wird, werfen wir eine Summe aus, um dem lieben Gott unten im Dorfe ein Kirchlein zu bauen, das dann St. Joseph heißen soll.«
»Gibt es denn hier Katholiken?«
»Im Dorfe nur acht Familien, aber im Thale über vierzig. Die einzige Kirche unseres Glaubens in einem Umkreise von fünf bis sechs Stunden ist in dem Franziskanerconvent zu Eichthal.«
»Dann könnten wir den armen Leuten helfen und wirklich ein gutes Werk thun.«
»Also abgemacht?«
»Abgemacht.«
»Damit wird auch der künftige Erbe von Plinkenau nach meinem Tode zufrieden sein.«
»Ist der katholisch? Sie haben mir nie von ihm gesprochen.«
»Doch, doch. Nach Tische sollen Sie hören, wer das ist. Ein echter, rechter Angelsachse, ein Prachtmensch. Jetzt aber zum Essen! Luigi, kommen Sie! Friedrich meldet, die Suppe sei aufgetragen.«
Theodor konnte gar nicht begreifen, warum der Doctor mit einemmal anfing, laut und anhaltend zu lachen. »Was haben Sie denn, Doctor?«
»Ich denke gerade an meinen Erben.«
»Ist das ein so lächerlicher Mensch?«
»Ein drolliger Kerl, ich versichere Sie. Aber ein Charakter, offen und ehrlich, allem Firlefanz abgeneigt …«
»Nie haben Sie von ihm gesprochen.«
»Doch, doch, hahaha! Sie wissen es nur nicht. Friedrich, schieben Sie den Herrn Baron vorsichtig mir nach; ich will drüben schon die Saalthüre öffnen.«
»Ich kann gehen, Doctor …«
»Nichts da; Sie folgen mir, verstanden? Hahaha!«
»Was at nur eut abende Err Dottor?« meinte auch Luigi.
Bei Tische schnitt Sechow für Theo das Fleisch, und es gefiel ihm, als der Reconvalescent meinte: »Sie sorgen wie ein Vater für mich.«
»Meinethalben können Sie mich Papa nennen. Haha, bin ja mehr als doppelt so alt wie Sie.«
»Ein Gedanke! Soll ich?«
»Meinethalben, mein Sohn.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Ich könnte es Ihnen schwarz auf weiß geben, hahaha! Also … Theo, mein Junge, gib mal deinen Teller … ach so, du kannst nicht!«
»Doch, Papachen, mit der linken Hand.«
Luigi amüsirte sich; Sechow und Theo lachten über den Einfall um die Wette, und selbst der sonst sehr würdevolle Diener lachte. Obwohl Theodor noch Schmerzen genug empfand, meinte er, nie ein so heiteres Mahl mitgemacht zu haben. Friedrich erzählte den Scherz in der Küche, und infolgedessen lachte auch das Gesinde. Der Kutscher berichtete es abends im Stall, und so lachten auch die Stallknechte und die Arbeiter in der Remise. Am nächsten Morgen hieß Theo bei allen heimlich »dem Doctor sein Aeltester«. Wie würden die guten Plinkenauer aber gestaunt haben, wären sie Zeugen von der Unterhaltung gewesen, welche Sechow nach Tische mit seinen Gästen im Bibliothekzimmer führte!
Beim Kaffee ging die Geschichte los: »Gefällt es dir auf Plinkenau, Theo?«
»Ganz gewiß. Wenn ich nur kräftig genug wäre, überall herumzugehen …«
»Und zu schalten und zu walten, nicht wahr?«
»Zu schalten und zu walten? Das geht den Gutsherrn an.«
»Freilich. Rathe einmal, was in diesem Couvert ist!«
Der Doctor holte einen versiegelten, aber schon geöffneten Brief aus einem Fache seines Secretärs.
»Wie kann ich das rathen, Papachen?«
»Ja,« meinte Luigi, »das ist serr schewerr.«
»Gut, Theo, dann will ich es dir sagen. Luigi, Sie hören als Zeuge zu. Für Sie wird auch ein Legat abfallen …«
»Is doch nix ein Testamento?« meinte der Italiener naiv.
»Etwas, was damit zusammenhängt. Also höre, Theo, mein guter, lieber Junge: in diesem Couvert steckt ein Patent Seiner Majestät des Königs von Sachsen, daß bei meinem Tode das Rittergut Plinkeuau samt meinem Namen und Titel auf meinen Erben übergehen soll …«
»O,« rief Theo, »das ist interessant! Und wer ist dieser Erbe, den ich, wie Sie sagen, kenne?«
»Mein eventueller Adoptivsohn …«
»Adoptivsohn?« ertönte es im Duett.
»Ja, Theodor Gerhard Julius Freiherr von Göhring.«
Mallatini sprang auf und tanzte wie toll im Zimmer herum und rief: » Questo dottore! Bravissimo! Bravissimo! Serr gut, serr ausgezeichnet! Evviva Teodoro! Evviva dottor Secco!«
Theodor selbst saß stumm da. Flammende Röthe übergoß sein Antlitz, und er wußte nicht, was er thun sollte. Es war ihm zu überraschend gekommen.
»Nun, Junge, warum machst du so ein Armensündergesicht?«
»Doctor, ich …«
»Papa heißt es, Junge!«
»Ich weiß nicht, was ich auf ein solches Maß von Liebe antworten soll. Es überwältigt mich, ich kann, ich darf es nicht annehmen.«
»Willst du vielleicht jetzt noch Schwierigkeiten machen? Das wäre doch …«
»Es wäre zu duhm! Evviva Teodoro! O ich bin serr geluckelich!«
Aber Theodor schüttelte den Kopf: »Ich habe nach dem Tode meines Vaters ein hübsches Vermögen geerbt. Ich kann diese Großmuth nicht annehmen.«
»Großmuth, Papperlapapp! Soll Plinkenau nach meinem Tode vielleicht an den Fiscus fallen? oder in protestantische Hände gerathen? Es ist wahr, Theo, ich habe dir die Sache über den Kopf genommen; aber höre mir jetzt einmal aufmerksam zu! Luigi, setzen Sie sich mal vernünftig auf Ihren Platz! Schau, mein liebster Theo, ich trug mich mit dem Gedanken bereits seit meinem Besuche in Heidelberg; denn es ist eine Thatsache, daß mir einsamen Manne seit der Zeit kein Mensch so nahe steht wie du. Ich bin, wie du weißt, der letzte meines Stammes, und meine Tage nehmen auch bedenklich ab. Ueber mein bewegliches Vermögen kann ich frei testiren. Ich theile es zwischen fromme Stiftungen und einige Personen, die ich euch jetzt nicht nennen will. Die Vererbung des Sechowschen Majorates Plinkenau aber stand nicht in meinem Belieben. Ich wandte mich letzten Herbst in dieser Sache an das königliche Cabinet und erhielt durch einen mir bekannten Herrn die mündliche, vorläufige Versicherung, Se. Majestät würden die Uebertragung des Grundbesitzes nebst meinem Namen und Titel an einen etwaigen Adoptivsohn aller Voraussicht nach genehmigen, wenn dieser betreffende Majoratsnachfolger von Adel sei. Da dein Papa, Theo, unlängst geadelt worden war, reichte ich sofort eine Immediateingabe ein, in welcher ich die Absicht aussprach, den Freiherrn Theodor von Göhring in aller Form Rechtens zu adoptiren. Dieses Ansuchen war gerade abgegangen, als du deinen ersten Besuch auf Plinkenau machtest. Du wirst fragen, warum ich das alles hinter deinem Rücken that. Meine Gründe waren diese: erstens hatte dein Vater dir damals wegen deiner Künstlerideen den Wechsel entzogen. Hätte ich nun von meinem Plane angefangen, so würdest du das als ein Almosen betrachtet und mich ein für allemal abgewiesen haben. Zweitens herrschte damals bei dir eine romantische Neigung für ein armes, verachtetes Leben, ein Künstlers – Erdenwallen voller Noth und Entbehrung, kurz, eine Stimmung, die meinen Absichten auch nicht entgegengekommen wäre. Drittens – und das ist der Hauptgrund – hätte ich dich als Protestanten nie zum Herrn von Plinkenau haben wollen. Daß ich dir das nicht sagen durfte, versteht sich von selbst. Das königliche Patent hier, Theo, ist vom 7. Mai datirt. Einige Tage vorher warst du zur Kirche zurückgekehrt. Nun komm, alter Junge, gib mir einen Kuß zur Besiegelung des Einverständnisses! Die Adoption nehmen wir vor, sobald du wieder präsentabel bist. Sie ist ja nur eine äußere Formalität, da wir uns schon lange recht lieb haben.«
Und der Doctor eilte auf Theodor zu, der sich an seinem Stocke erhoben hatte, umarmte ihn herzlich und ließ ihn auf keine Weise zu Worte kommen.
Endlich konnte der junge Mann die Worte herausbringen: »Es geht mir ja wie einem Prinzen aus ›Tausend und eine Nacht‹!«
»Die Hauptsache ist, Junge, daß du mir bald deine Prinzessin in das Haus bringst. Ich alter, einsamer Kalif möchte mich noch ein paar Jährchen im Glücke meiner Kinder sonnen.«
»So soll das alles denn wirklich Ernst sein?«
»Natürlich, Junge. Du bist jetzt meines Glaubens, und wie ich dich kenne, wirst du als Gebieter von Plinkenau auch treu zu deinem Könige und vor allem zu unserem herrlichen, großen Deutschen Reiche und seinem edlen Kaiser stehen. Wir Sechows sind allezeit gute Deutsche und loyale Edelleute gewesen!«
»Und keiner ist da, der dem Doctor von Sechow näher steht als dieser Nichtsnutz Theo?«
»Keiner, keiner! Also du schlägst ein, Junge? Das ist brav; du bringst meinem Alter noch Trost und Frieden.«
» Vater, sag' ich denn: da es Gottes Wille zu sein scheint, so nimm mich als Sohn an. Ich will mich bemühen, dir deine Liebe ein wenig zu vergelten. Und deutsch fühle ich wie du, aus ganzem, aufrichtigem Herzen. Du mußt wissen, was du thust … Nur um eines bitte ich: laß mich, wenn Gott mir meinen Arm wieder ganz gesund macht, Künstler bleiben …«
» Bravo! Evviva Teodoro!« fing Luigi abermals an.
Der Doctor aber sagte lachend: »Das ist mir gleich, das hast du mit deiner Ethel auszumachen.«
»Wahr, wahr!« bestätigte Theo; »aber was wird Ethel sagen, wenn ich ihr entgegenhinke!«
»Hinke nur an der Hand des hl. Joseph, dem der Majoratsherr von Plinkenau und sein Erbe ja eine Kirche versprochen haben!«
»Du hast gewaltige Zuversicht, Papa.«
»Habe ich auch. Der hl. Joseph kommt unsern Bitten beinahe zuvor … Ah, da ist Friedrich. Nun, was gibt es?«
Der eintretende Diener überreichte Theo einen Brief auf einem silbernen Teller.
»An mich?«
»Jawohl, Herr Baron.«
»Gott, Ethels Hand!«
»Sagte ich's nicht? Gib her, du mußt deine Augen noch schonen, zumal bei Lampenlicht. Dein neuer Papa wird wohl auch noch die Correspondenz mit der Schwiegertochter einsehen dürfen, wenn es der wildfremde Dr. Lexikon durfte.«
Theo reichte den Brief herüber. Der Diener entfernte sich, aufs höchste erstaunt über die Worte seines Herrn »dein neuer Papa«.
»Theo, Junge! Weißt du auch, was für ein Wappen deine Dulcinea führt?«
»Keine Ahnung. Lies lieber den Brief. Für Heraldik habe ich keine Andacht.«
»Drei Rosen im Wappen! Merkwürdig.«
»Warum merkwürdig?«
»Weil auf deinem Kreuzchen, das dir Hans schenkte, auch drei Rosen eingravirt sind.«
»Das ist wahr! Ein drolliger Zufall und – wie ich hoffe – ein gutes Omen!«
»Wollen's hoffen.«
»Aber jetzt lies doch, Papa!«
»Soll ich aus Zimmer geen?« fragte Luigi.
»Nicht nöthig!« lachte Theo; »meine Braut schreibt mir keine Dinge, die du nicht hören darfst.«
Aber der Doctor, der die erste Seite des mit klaren, leserlichen Charakteren geschriebenen Briefes schnell durchflogen hatte, erklärte: »Ich möchte Sie doch bitten, lieber Luigi, uns einen Augenblick allein zu lassen. Sie nehmen es nicht übel?«
»Nix, nix übel. Ich offe, keine schlechte Nachricht.«
»Was ist denn los?« fragte Theodor erschreckt.
»Bleib ganz ruhig – kein Unglück, aber etwas, was dich sehr, sehr überraschen wird. Sie können auch bleiben, Luigi; ich sehe schon, bleiben Sie nur und bewundern Sie mit uns die Vorsehung Gottes, die unsern Pessimisten auf der Chaiselongue da einmal wieder über ihre unbegreiflichen Wege belehrt.«
Theo wankte an seinem Stocke zu Sechow hinüber: »Um Gottes willen, Papa, halte mich nicht so lange hin. Lies, lies oder gib mir den Brief zurück!«
»Setze dich wieder ruhig hin!«
»Arran-House, d. 11. Mai 1894.
Mein lieber und bester Freund!
Warum haben Sie Ihre Ethel nicht wissen lassen, daß Sie so gefährlich krank waren? Ich habe alles von meiner Freundin Dolores erfahren, und auch, daß Sie vor einigen Tagen zur römisch-katholischen Kirche übergetreten sind. O mein liebster Theodor, glauben Sie nur nicht, daß ich kein Verständniß für diesen Ihren Schritt besitze …«
»Was?« rief Theodor stürmisch, »steht das wirklich da?«
»Buchstäblich. Höre weiter, du Glückspilz und kein Ende!«
»Ich bin Ihnen nämlich gleichfalls eine Erklärung und eine Abbitte schuldig. Sie wissen, daß der Earl, mein Onkel, und Lady Cantire sich stets zur hochkirchlich-ritualistischen Partei innerhalb des Anglikanismus hielten. Sie haben ohne Zweifel auch gehört, daß auffallend viele meiner Landsleute in den letzten Jahren katholisch geworden sind. Nun, um alles kurz zu sagen: durch das Studium der Werke von Newman, Faber und Allies sowie durch die Bekanntschaft mit einem ausgezeichneten katholischen Priester sind sie der katholischen Kirche gewonnen worden, nachdem sie den Puseyismus, den Ritualismus, die sogen. Branch-Theory und die Via media als Halbheiten erkannt hatten. Ich widersetzte mich heftig der Conversion von Lord und Lady Cantire und noch mehr ihrem Ansinnen, den gleichen Schritt zu thun, theils weil ich von Vorurtheilen gegen die römische Kirche erfüllt war, theils weil Sie, Theodor, mein liebster Freund, Protestant waren. Ich besaß weder den Muth noch die Aufrichtigkeit, Ihnen mitzutheilen, daß ich dennoch Zweifel hegte, ob die anglikanische Kirche die wahre Kirche Christi sei. Mir bangte vor Ihrem Besuche, und manches heiße Gebet habe ich zum Himmel emporgesandt, um Kraft und Licht von oben zu erlangen. Am meisten schmerzte mich meine Heimlichkeit. Ihr liebes Bild, welches ich zum Christfest erhielt, blickte mich wie mit stummem Vorwurf an. Ich fürchtete, Sie aufgeben zu müssen um Gottes willen. Gott selbst ist mein Zeuge, daß ich nur um meines Seelenheiles willen solchen Schritt thun könnte. Nichts in der Welt vermag mich sonst von Ihnen zu scheiden. Während ich nun diese unsäglichen Schmerzen und Kämpfe durchmache, erreicht mich ein Brief Ihrer Schwägerin Dolores aus Berlin. Wie habe ich unter Thränen des Mitleids und der Sorge für Sie gejubelt! Wußte ich doch, daß Sie den Frieden gefunden, den Sie gesucht! Und Ihre arme Ethel? Lord und Lady Cantire legten am Samstag vor Ostern ihr katholisches Glaubensbekenntniß ab, und ich zog mich grollend und unglücklich in die Einsamkeit zurück, in welcher mich Dolores' Brief so unerwartet tröstete. Mein Freund, jetzt haben Sie es mir leicht gemacht. Noch bin ich nicht Katholikin, noch nicht Ihres Glaubens. Ich verspreche Ihnen aber, fleißig zu beten und zu studiren. Sollte Gott mir die Sonne aufgehen lassen, die Ihnen leuchtet, nun, dann wäre ja alles gut. Aber, theuerster Theodor, Sie selbst werden nicht von mir erwarten, daß ich einen so folgenschweren Schritt thue, ohne von seiner Nothwendigkeit überzeugt zu sein. Mein Jawort gilt auch, wenn ich Protestantin bleiben muß. In diesem Falle bin ich es zufrieden, daß wir durch einen Priester Ihrer Kirche zum Bunde für das Leben vereinigt werden. Nur für meine Person, Theodor, würde ich der Kirche meiner Geburt treu bleiben wollen. Könnten Sie auf eine solche Bedingung eingehen? O seien Sie offen gegen Ihre Ethel! Auch ich sage Ihnen ja aufrichtig, wie mir's um das Herz ist. Nur unsere Treue und Aufrichtigkeit gegen Gott verbürgt mir, daß sich unsere Zukunft glücklich gestalten wird. Können Sie nicht im nächsten Monat bei Ihrer Ethel sein? O kommen, eilen Sie, mein geliebter Freund, sobald Ihre Kräfte es gestatten! Selbst wenn man Sie krank und verwundet herüberschaffte, ich würde glücklich sein an Ihrer Seite. Lady Cantire läßt Ihnen mit herzlichem Gruß bestellen, es sei einzig an Ihnen, zu bestimmen, wann unsere Verlobung declarirt werden solle. Der würdige Dr. von Sechow, der hoffentlich nicht mehr nöthig hat, Ihnen diesen Brief vorzulesen oder Ihre baldige Antwort zu Papier zu bringen, darf Sie nicht allzu lange auf Plinkenau festhalten, sonst bekommt er es mit Ethel Douglas zu thun. Im übrigen ist Ethel dem Herrn Doctor zu innigem Danke verpflichtet. Er muß ja wie ein zärtlicher Vater mit Ihnen umgehen, Theodor! Ach, ich hätte noch so viel zu sagen; aber es ist bereits Mitternacht vorüber. Morgen schreibe ich wieder. Mit tausend …«
»Das brauchst du nicht zu lesen, wenigstens nicht vorzulesen!« rief Theo strahlenden Auges. »Jetzt gib mir den Brief zurück! O wie gut ist der liebe Gott!«
»Der Schluß ist gerade sehr nett, schade!« meinte Sechow listig.
»Teodora, o Sie sind ein geluckelicher Mensche!«
»Es ist wahr. Wie habe ich das verdient! Und die kleine, stille Dolores hat das alles mit feinem weiblichem Tact zuwege gebracht. Papa, ich denke, Ende nächster Woche kann ich reisen.«
»Nur keine Ueberstürzung! Sagen wir mal: nächstens. Und damit du jemanden hast, der ein bißchen auf deine Gesundheit aufpaßt, möchte ich dich bitten, deinen neuen, alten Papa mit nach Schottland zu nehmen.«
»Bravo, Papa – das ist ein famoser Gedanke. Aber,« fügte Theo hinzu, plötzlich wieder ernst werdend, »von meinem hinkenden Fuß weiß sie doch nichts.«
»Merkst du denn nicht, daß eine Stelle im Briefe in zarter Weise darauf anspielt? Nein, Herr Pessimist, der heilige Joseph bekommt seine Kirche, und du, Theo, bist trotz deiner Armbinde und deiner Pflaster ein heilloser Glückspilz!«