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Es ist gegen Ostern. Dr. von Sechow mußte zum Fest wieder seine beiden Jungen besuchen: auf Plinkenau konnte er es nicht länger als ein paar Wochen allein aushalten. Theodor und Luigi hatten in seiner Abwesenheit die Wohnung bei Madame Ollivier bezogen und mit dem jungen Dr. Georg Brewer Freundschaft geschlossen. Die Hochzeit Georgs mit Olga Göhring sollte am 2. Mai, dem Vorabende des Himmelfahrtsfestes, zu Hamburg im Hause des Senators stattfinden. Theodors Schwester Mathilde konnte wegen der Trauer um ihren Vater nicht am gleichen Tage den Bund mit Octavio schließen. Man war übereingekommen, bis zum October zu warten und dann in aller Stille, im engsten Familienkreise die Hochzeit zu feiern. Die Baronin protestirte anfangs lebhaft gegen diese Entscheidung, doch machte ein Wort der Chanoinesse dem Streite ein Ende.
Die alte Dame erklärte nämlich: »Meine Tage sind gezählt. Soll ich noch an der fête participiren, dann, mes chers enfants, dépêchirt euch mit eurer liaison. Le bon Diez m'appellera bientôt!«
Sie war körperlich so schwach geworden, daß sie sich nur mit Hilfe eines Stockes durch das Haus bewegen konnte. Ihre geistige Regsamkeit schien unverändert geblieben zu sein: sie las den ganzen Tag und führte eine rege Korrespondenz – nach Algier, zum höchsten Erstaunen der Göhringschen Familie. Nach Algier schrieb sie, an den Pater Hermann Prätorius, den Sohn ihres alten, lang entschlafenen Jugendfreundes. Von dem Inhalte dieses Briefwechsels erfuhr jedoch niemand das geringste. Auch Dolores kränkelte beständig und wurde immer schwächer. Sobald die milde Jahreszeit eingetreten sei, sollte sie Aufenthalt am Vierwaldstätter See nehmen und im Juni nach Engelberg gehen, um in dem herrlichen Hochalpenthale den Sommer zuzubringen. Der Arzt hielt ihre Schwäche für die Folge von Anämie und damit verbundener Nervosität.
Alles dies hatte die Baronin Theodor geschrieben, und Sechow erfuhr die Neuigkeiten natürlich sofort bei seinem Eintreffen in Berlin.
»Das sind ja wenig erfreuliche Dinge, Theo,« sagte er nachdenklich; »aber wie steht es denn mit Ihrer Braut?«
»Pfingsten besuche ich Mama in Hamburg auf zwei oder drei Tage, und dann gehe ich mit dem Steamer nach Edinburg. Lady Cantire hat mich für Ende Mai eingeladen.«
»Das freut mich, Theo. Und Ethel geht es gut?«
»Sehr gut. Vorgestern erhielt ich den letzten Brief von ihr. Zu Ostern habe ich ihr eine Kreidezeichnung geschickt, die Luigis Werk ist. Sie stellt mich als Hamlet dar – denken Sie nur, was für eine Idee!«
»Als Hamlet? Als den Mann, der immer überlegt und grübelt, aber nie zu einem Entschluß kommt?«
»Ist es nicht eine bizarre Idee?«
»Nun, der kleine Italiener hat so unrecht nicht. Er scheint es dicke hinter den Ohren zu haben. Aber sagen Sie: Sie gehen doch auch zur Hochzeit Ihrer Cousine Olga heim?«
»Georg quält mich jeden Tag damit; aber ich kann nicht gut abkommen. Mein Professor liegt mir in den Ohren, ich sei nicht fleißig genug und dürfe nicht so oft Vacanz machen, wenn ich es zu etwas bringen wolle.«
»Da hat er schon recht. Talent allein thut es nicht. Aber der junge Doctor könnte es Ihnen übel nehmen. Sie müssen sich das einmal überlegen, Theo.«
»Ich habe ohnehin schon mit den Besuchen bei Pater Wenzeslaus in Moabit viel Arbeitszeit verloren.«
»Nun, nun, das holen Sie wieder ein, Theo. Suchet zuerst das Reich Gottes, heißt es ja. Aber wie steht es denn mit Ihnen? Nach Plinkenau haben Sie mir kein Wort über Ihre Seelenangelegenheit geschrieben, trotzdem Sie wissen, daß mich die Sache aufs höchste interessirt.«
Theodor stand am Fenster seines Wohnzimmers und trommelte gegen die Scheiben.
»Nun, warum antworten Sie nicht?«
»Doctor, ich – lassen Sie uns von etwas anderem sprechen.«
Sechow zog die Stirne in Falten: »Was ist denn das, Freund? Was bedeutet das? Wie? Kommen Sie mal heraus mit der Sprache!«
»Doctor, ich – kurz und gut, einmal müssen Sie es ja doch hören: ich bleibe, was ich bin, Protestant.«
Sechow sprang von seinem Stuhle aus: »Theo! Gehen Sie noch zu dem Pater?«
»Nein.«
»Seit wann nicht mehr?«
»Seit vierzehn Tagen.«
»Und warum nicht?«
»Das ist wohl meine Sache.«
»Seien Sie nicht kindisch. Ein Mann hat Gründe für alles, was er thut.«
»Ich habe auch meine Gründe.«
»Und die wollen Sie mir nicht sagen, weil Sie wissen, daß ich Ihnen dieselben widerlegen werde?«
Theo drehte sich erstaunt nach Sechow um: » Einen Grund kennen Sie ja: Ethel.«
»Da habe ich Ihnen bereits gesagt, wie Sie es machen sollten. Wenn Ethel Sie nicht zum Manne will, weil Sie Gott und der Wahrheit die Ehre geben, dann ist sie Ihrer nicht werth …«
»Ich liebe Ethel, Doctor!«
»Ein Mädchen zu lieben, welches die Wahrhaftigkeit und Charakterstärke eines christlichen, überzeugungstreuen Mannes nicht zu schätzen weiß, ist Unfug. Nein, Theo, Ihre Ethel liebt Sie aufrichtig; haben Sie nur den Muth, ihr alles zu sagen! Seien Sie ein Mann! Sonst hätte Ethel vollkommen recht. Ihnen einen Korb zu geben …«
»O, das ist nicht mein einziger Grund. Vielleicht ist die ganze Geschichte Schwindel!«
»Welche ganze Geschichte?«
»Die Seele und ihre Unsterblichkeit. Georg Brewer, mit dem ich mich letzthin über manches unterhalten habe, erklärte mir unlängst ebenso klar wie einfach: der Anatom kennt den ganzen Menschen inwendig und auswendig, hat aber noch nie etwas von einer Seele entdeckt.«
»Der Herr Doctor scheint ein ebenso guter Philosoph zu sein wie Sie, Theo!«
»Wieso? Er ist ein sehr geschickter Operateur.«
»Aber ein ungeschickter Philosoph. Er scheint sich die Seele wie ein Appendix oder einen Ganglienknoten vorzustellen, aber nicht als Geist. Daß man in einem Leichnam keine Seele entdeckt, und daß ein geistiges Wesen nicht mit Hilfe des Secirmessers losgetrennt und in Spiritus gesetzt werden kann, pflegt ein Tertianer zu begreifen.«
Theodor wurde puterroth und fing wieder an zu trommeln.
»Wie können Sie sich nur so düpiren lassen, Freund!«
»Doctor, es ist – ich will nicht behaupten, daß ich Brewer beistimme. Mag sich die Sache verhalten, wie sie wolle, ich – ich persönlich habe keine besondere Schwierigkeit in Bezug auf die Seele …«
»Sonst müßte ich am Ende annehmen, daß auch Ihnen der ›Geist‹ abhanden gekommen sei …«
»Doctor, lassen wir diese Frage. Brewer hat eine etwas materialistische Richtung …«
»Etwas sehr, ja.«
»Ich kehre mich wenig an ihn. Aber schauen Sie, etwas anderes ist es, was ich nie und nimmer billigen kann: daß man verpflichtet sein soll, einem Menschen seine Sünden zu beichten!«
»Aha, da liegt also der Hund begraben! Nun sind wir im rechten Fahrwasser. Hat Ihnen der Pater Wenceslaus nicht aus der Heiligen Schrift und aus den solidesten Gründen bewiesen, daß die Beichte von Gott gewollt ist?«
»Mehr als das. Auch was Pater von Hammerstein über die Sache geschrieben hat, kann ich nicht widerlegen. Es ist eine fast eiserne Consequenz in seinem Beweisgange; dennoch bin ich nicht überzeugt.«
»Hm! Sie sagen, Sie können keinen der Gründe widerlegen?«
»Nein.«
»Und auch selbst nichts Ernsthaftes gegen die Beichte vorbringen?«
»Nichts, woraus Pater Wenceslaus nicht eine Antwort wüßte.«
»Eine Antwort, welche Sie befriedigt?«
»Nicht ›befriedigt‹ Doctor, aber meine Weisheit im Stiche läßt. Ich denke, das sind jesuitische Kniffe. Auf die Gründe dieser Katholiken kann man nicht mit vernünftigen Gegengründen antworten; aber dennoch befriedigen sie einen nicht. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, Doctor.«
»Ganz gut,« sagte Sechow ruhig.
»Dann sehen Sie auch ein, daß ich Protestant bleiben muß.«
»Keine Rede davon! Passen Sie mal auf! Wenn Sie als Familienvater erkennen würden, daß Sie ein großes Opfer für die Ihrigen bringen müßten, weil Vernunft, Moral und Gesetz es von Ihnen verlangen, was würden Sie dann thun?«
»Ich hoffe, daß ich mich zu dem Opfer entschließen würde. Aber mein Fall ist ja ein ganz anderer …«
»Absolut nicht. Ihr Verstand kann nichts gegen die Pflicht der Beichte einwenden; aber Ihr Wille entschließt sich nicht zu dem Opfer der Selbstüberwindung. Sie wissen recht gut, daß der Priester, dem das Beichtsiegel auferlegt ist, an Gottes Statt Richter über unsere Sünden ist. Da aber ein Mensch keine Allwissenheit besitzt, muß er alle schweren Sünden im Beichtgericht aus unserem eigenen Munde hören. Dann wird er kraft der Gewalt, die er von Gott erhalten hat, uns lossprechen oder uns die Sünde behalten können …«
»Das ist mir alles bereits bewiesen. Aber Sie hören es ja, ich kann nicht.«
»Welche Schwierigkeit hat Ihr Verstand?«
»Keine. Aber ich kann nicht.«
»Sie wollen nicht.«
»Meinetwegen; nennen Sie es, wie Sie wollen. Sagen Sie: Wille. Ich weiß, daß ich nicht kann.«
»Wissen Sie den Weg zur Kirche in Moabit?«
»Natürlich. Was soll die Frage?«
»Wissen Sie, wo der Beichtstuhl steht?«
»Ja, aber …«
»Reichen Ihre Kräfte aus, bis dahin zu gehen?«
»Doctor …«
»Erinnern Sie sich Ihrer Sünden? Bereuen Sie dieselben? Wollen Sie sie in Zukunft nicht wieder begehen?«
»Lassen Sie mich, Doctor …«
»Gut, Theo, ich lasse Sie. Ich wollte Ihnen nur drastisch zeigen, daß Sie könnten, wenn Sie wollten. Erinnern Sie sich nicht, was Sie mir einst in Heidelberg sagten, als ich Ihnen meine Geschichte erzählte? ›Wenn Sie an die Beichte glauben, dieselbe für Ihre Pflicht halten, sich Trost von ihr versprechen, so gehen Sie doch!‹ Das nämliche rufe ich Ihnen jetzt zu …«
»Sie waren damals katholisch, was ich nicht bin, und hatten die Pflicht, zu beichten. Dennoch konnten Sie es nicht fertig bringen.«
»Und Sie sind im Herzen katholisch und haben die Pflicht, daraus die Consequenzen zu ziehen. Der Grund, daß Sie es nicht fertig bringen, ist derselbe, der mich so lange fern hielt von meiner Pflicht. Es ist nicht die Größe der Schuld, Theo, nicht Feigheit – wollen Sie wissen, was es ist?«
Theodor sagte, den Blick zu Boden senkend: »Nun?«
»Stolz.«
»Ich bin nicht stolz!« brauste der junge Mann auf.
»Den Menschen gegenüber vielleicht nicht. Aber Gott gegenüber.«
»Warum verlangt denn Gott eine solche Verdemüthigung?«
»Um Ihnen nach einer kleinen Probe Ihres demüthigen Willens die größte Schuld für alle Ewigkeit zu verzeihen. Ich denke, Gott leistet so viel mehr für uns, daß er einen geringen Beweis unserer reumüthigen Gesinnung wohl als Sühne für feine verletzte Gerechtigkeit verlangen darf.«
»Sie zeigen mir die Sache wirklich in einem anziehenden Lichte. Was soll ich thun? Gegen meinen Willen handeln?«
»Nein, nur wollen.«
»Wie kann ich das?«
»Bestimmen Sie sich selbst zu dem, was Sie zu thun und zu lassen frei sind. Entscheiden Sie zwischen Gottes Gebot und Ihrem Stolze. Bedenken Sie aber die Consequenzen. Nun genug hiervon; ich will Ihrer Wirtin, Frau Ollivier, jetzt meine Aufwartung machen.«
Ehe Theodor eine Antwort bereit hatte, fand er sich allein im Zimmer. Auf dem Schreibtische stand eine große Cabinetphotographie von Ethel. Den Rahmen dazu hatte Mallatini gemalt. Nachdenklich trat Theo an den Secretär, nahm das Bild in die Hand und betrachtete es lange. Als er es dann wieder an seinen Ehrenplatz zurückstellte, rief er aus: »Ich kann sie nicht verlieren! Mein Gott, du weißt es. Gibt es denn keinen Ausweg?«
Und mit einem Seufzer warf er sich in einen Sessel, um aus den Doctor zu warten.
Sechow wurde von Georgine in deren Salon empfangen. Die zierliche Ausstattung des Boudoirs mit hellblauen Möbeln und allerlei Figürchen, Bilderchen und Nippsächelchen paßte eher zu der Stimmung als zu der Wittwenkleidung der lebhaften, leichtsinnigen Frau.
»Also Sie kommen doch wieder zu Ihrer alten Freundin, nachdem Sie neulich nicht schnell genug von Berlin abreisen konnten?«
Sie reichte ihm die Hand, die er aber keineswegs an die Lippen führte.
»Es war ein so unerwartetes Wiedersehen, Georgine, daß ich eine Zeitlang der Ruhe und der Einsamkeit bedurfte. Es gibt Dinge, deren Andenken erst mit dem Tode erlischt. Auch der alternde Mann trägt ja noch ein Herz von Fleisch und Blut in der Brust.«
»Sie haben sich gut conservirt, lieber Freund. Aber bitte, nehmen Sie Platz.«
»Ich könnte Ihnen dieses Compliment mit weit größerem Rechte zurückgeben. Wenn ich nicht wüßte, was Sie durchgemacht haben, ich würde es Ihnen nicht ansehen. Man sagte mir auch, Sie seien leidend. Man sieht es nicht.«
»Die beste Panacee gegen das Altwerden ist: das Schicksal verachten.«
Mit leiser Stimme, aber um so festerer Betonung fragte Sechow: »Und dieses Mittel haben Sie fleißig angewendet, Georgine?«
»Ich brauche es bis auf diesen Tag. Soll ich meine Ansprüche auf das Glück aufgeben, weil das Unglück mich verfolgt? Steht es einer Frau schlecht an, den Ereignissen gegenüber ihren Muth zu bewahren?«
»Ansprüche auf das Glück! Das Glück! Wie soll ich das verstehen?«
»Glücklich sein ist: das Leben auszunutzen mit allem, was es bietet. Es bietet oft zwar wenig genug, aber wie Sie sehen, nutze ich selbst dieses wenige nach Kräften aus. Nach meiner Trennung von Brewer entstand ein Gerücht, ich sei unheilbar krank. Meine Nerven waren sehr herunter; aber Sie sehen, ich bin jetzt wieder bei guter Gesundheit. Ich klage nicht über mein Schicksal.«
Unwillkürlich schaute sich Sechow in dem Boudoir um, als wolle er constatiren, was das Schicksal dieser Frau noch zu bieten wisse. In leichtem Tone fuhr Georgine fort: »Ich brauche nur für mich zu sorgen. Georg macht eine gute Partie, und Paul scheint in Chicago sein Auskommen zu finden. Ich strecke mich nach meiner Decke. Ab und zu kann ich mir ein Billet für die Oper oder für die Philharmonie leisten. Auf Toilette und Reisen muß ich verzichten, das ist freilich wahr. Aber in einigen Jahren hoffe ich, zu Georg ziehen zu können. In den ersten Jahren will ich dem jungen Paare nicht lästig fallen, meine chambres garnies werden mir durchhelfen.« Darauf schwieg sie und blickte ihren Besuch lächelnd an.
»Und von Ihrem Gatten erzählen Sie mir mit keiner Silbe?«
»Aber lieber Freund, von meinem geschiedenen Manne! Weiß ich doch kaum, wo er ist! Georg correspondirt ab und zu mit seinem Papa, aber ich pflege mich nicht um Dinge zu kümmern, die nur dazu dienen würden, alte Wunden wieder aufzureißen.«
»Alte Wunden! Sie haben also einst doch dem Präsidenten Ihr Herz geschenkt!«
»Das fragen Sie mich, Heinrich? Sie sind doch das Original von früher geblieben!«
»Ich scherze durchaus nicht, Georgine. Wenn ich nicht indiscret bin, so beantworten Sie mir die Frage: Denken Sie noch manchmal an Ihren Gatten?«
Diesmal erröthete die Wittwe. Ausweichend versetzte sie: »Ich weiß gar nicht einmal, wo Brewer sich aufhält.«
»Sie wissen es nicht?«
»Vor langer Zeit hörte ich: irgendwo am Genfer See. Ich meine, Georg schrieb nach Vevey oder Montreux.«
»Hm! Und glauben Sie, daß Ihr Gatte noch zuweilen an Sie denkt?«
Die Ollivier wurde unwillig, beherrschte sich aber sofort und lachte: »Heinrich Sechow, Sie sind allen Ernstes ein Original.«
»Sie mögen mir also nicht antworten?« fragte der Doctor mit sanftem Ernst.
»Warum soll ich Ihnen verhehlen, was alle Welt weiß: wir sind beide schwach gewesen, Albrecht sowohl wie ich.«
»Sie haben beide gefehlt?«
»Wenn Sie es so nennen wollen, ja.«
»Dann können Sie sich beide verzeihen, Georgine.«
Der kleine Fuß Georginens bewegte sich schnell unter dem Saume des Kleides, als sie rief: »Verzeihen! Es ist vorbei, lieber Freund. Wir müssen tragen, was wir selbst gewollt.«
»Verkehrter Sinn kann gerade gerichtet werden.«
»Sie sind feierlich wie ein Orakel. Lassen Sie uns doch einen andern Ton anschlagen, lieber Freund. Wozu von denen reden, die für uns so gut wie gestorben sind? Das Leben gehört uns, die wir noch leben!«
Dabei sah sie ihn mit einem Blicke an, der offenbar bedeutete: ich erwartete eigentlich, daß du Georgine ganz andere Dinge sagen würdest. Diese Frau besaß Beobachtungsgabe genug, um zu fühlen, daß sie Sechow nicht gleichgiltig geworden sei, aber zu wenig Herzensbildung und zarte Weiblichkeit, um zu begreifen, daß der Freund ihrer Jugend jede Regung der alten Liebe mit Verstand und Willen auf das entschiedenste bekämpfen mußte. Der Doctor seinerseits erkannte, daß er um Georginens und seinetwillen die Situation baldmöglichst völlig zu klären habe. Diese Einsicht veranlaßte ihn zu der Frage: »Wissen Sie, warum ich gekommen bin, Georgine?«
»Ich hoffe, nicht nur zu einer kalten Anstandsvisite.«
»Nein, da fühlen Sie das Richtige.«
Die Wittwe verbarg kaum ihre freudige Ueberraschung.
»Wissen Sie, wo Ihr Gatte jetzt ist?«
»Brewer? Nein. Doch wozu kommen Sie immer auf ihn zurück?«
»Damit Sie, Georgine, wieder zu ihm zurückkehren!«
Jetzt wurde aber die kleine Frau nervös: »Herr von Sechow, ich erinnere mich nicht, Ihnen irgend eine Andeutung gemacht zu haben, daß ich mich meinem ehemaligen Gatten wieder zu nähern wünsche.«
»Nein, Sie haben mir nichts angedeutet …«
»Also werde ich auch schwerlich Ihres Rathes in dieser Sache bedürfen.«
Sechow senkte das Haupt und meinte: »Wenn Sie einen andern Rathgeber haben, Georgine, der Sie an Ihre Pflicht erinnert …«
»O, das ist stark!« rief Frau Ollivier und athmete in heftiger Erregung, »das ist stark! In meiner eignen Wohnung muß ich so etwas hören, und von einem Manne, der … der … o mein Gott, Heinrich, warum müssen Sie mir das ins Gesicht sagen?«
Und sie fing an nach allen Regeln der Kunst zu weinen und zu schluchzen. Der ehrliche Sechow nahm alles für natürlichen Schmerz und beschwor Georgine, ihm zu verzeihen. Es liege ihm vollständig fern, ihr wehe thun zu wollen. Sie solle sich doch an ihre alte Freundschaft erinnern und bedenken, daß er, Sechow, eben ein curioser Kauz sei. Als die Thränen allmählich spärlicher flossen und das schwarzgeränderte Taschentuch immer seltener auf die rothen Aeuglein gepreßt wurde, entrang sich Georginens kummervollem Busen der Seufzer: »Ach Heinrich! Sind Sie denn hier, nach so vielen Jahren hierher zurückgekommen, um Zeuge meines Unglücks zu sein?«
»Georgine, ich beschwöre Sie, hören Sie, weshalb ich vor Ihnen sitze …«
Sie versuchte, die Sonne wieder durch das Gewölk treten zu lassen: »Reden Sie, mein Freund.«
Der Doctor nahm zwar die dargebotene Hand nicht an, freute sich aber doch, daß Georgine lächelte.
»Ihre Lage«, erklärte er mit rücksichtsloser Ehrlichkeit, »geht mir recht zu Herzen. Aufrichtig, Georgine, ich fühle, was Sie leiden müssen – wenn Sie auch jetzt nicht darben, so sind Sie doch lange Jahre von fürstlichem Luxus umgeben gewesen. Alle Ihre Wünsche wurden erfüllt. Ihr Haus war eines der gastfreiesten und reichsten in der alten Hansestadt. Der Kreis Ihrer Freunde und Bekannten …«
»O erinnern Sie mich nicht an die glückliche Zeit!«
»Gut, aber erlauben Sie mir, daß ich mich anbiete. Ihnen einigermaßen wenigstens Ihr Los zu erleichtern. Georgine! Ich weiß, daß die Frage, die ich an Sie stelle, sehr delicater Natur ist, doch unsere Freundschaft von ehedem gibt mir den Muth und vielleicht auch das Recht, Ihnen ein Anerbieten zu machen …«
»Heinrich!« lispelte die Wittwe unter neuen Thränen und bereitete sich auf jenes Wort vor, das sie schon dreimal in ihrem Leben zu einem Manne gesprochen. Aber sie ahnte nicht, was der gute Doctor im Sinne hatte.
»Reden Sie – und schonen Sie mich!«
»Ich bin jetzt ein reicher Mann, Georgine, wenn auch kein vielfacher Millionär. Außer meinem Grundbesitz, über welchen ich nur mit königlicher Genehmigung als der letzte meines Stammes verfügen kann, nenne ich ein ausreichendes Vermögen mein eigen. Ich selbst bin alt, wenigstens in den Jahren, wo man täglich den Ruf Gottes erwarten soll. Was ist da natürlicher, als daß ich darauf ausgehe, ehe es zu spät ist, noch recht viele andere glücklich zu machen! Ich habe zwar nichts zu bieten als meine ehrliche Gesinnung und meine finanziellen Mittel – aber, Georgine, wenn diese genügen …«
»O Heinrich, so haben Sie der schwer geprüften Freundin vergeben?«
»Alles vergeben, wenn ich auch nicht vergessen konnte. Und der Beweis, daß ich von Herzen verziehen: Georgine – disponiren Sie über mein Vermögen! Jede Summe steht Ihnen zur Verfügung! Ich sterbe ja als ein einsamer Junggeselle und werde meinen Bankier anweisen, daß er Ihnen … aber was ist Ihnen? Sie werden ja ganz bleich. Sind Sie nicht wohl?«
Einer Marmorstatue gleich saß Georgine in ihrem Stuhl und starrte den Doctor sprachlos an. Wie ein Blitz leuchtete in Sechow das Verständniß auf: Sie hat etwas anderes erwartet. Er hielt es für das beste, die unglückliche Frau vorläufig zu verlassen. Sein eignes Herz pochte heftig, er fühlte, wie trotz aller Erfahrungen und Enttäuschungen etwas auf ihn einstürmte … war es Liebe? oder Mitleid? oder beides? Einen Augenblick überlegte er: noch konnte Georgine die Seinige werden. Aber schnell unterdrückte der ruhige, pflichtbewußte Mann den Gedanken. Georgine war ja verheiratet! Als Katholik konnte er sie nicht für eine Wittwe ansehen. Als Katholik durfte er auch nicht an eine Verbindung mit ihr denken. Und obendrein sein Alter!
Als er den Hut von dem kleinen Tabouret genommen hatte, erhob sich auch Georgine. Sechow sagte mit etwas zitternder Stimme: »Also rechnen Sie auf mich … ich meine es, wie ich es sage.«
»Ich danke Ihnen, Herr von Sechow, indessen ich … ich bedarf keines Almosens.«
Der Doctor legte den Hut wieder auf den Tisch und rief schmerzlich: »Georgine, haben Sie mein Anerbieten so aufgefaßt? O mein Gott, wie ungeschickt muß ich gesprochen haben, daß Sie einen Dienst zurückweisen, der mir als freudige, angenehme Pflicht erschien!«
»Sie haben mir gegenüber keine Pflichten. Daß Ihr edles Herz mir eine Freude bereiten will, weiß ich zu schätzen, und ich danke Ihnen aufrichtig für Ihre Gesinnungen.«
»Warum weisen Sie mich dann ab, Georgine?«
»Weil ich nicht arm genug oder zu stolz bin, von jemanden Unterstützung anzunehmen.«
»Lassen Sie dieses häßliche Wort beiseite.«
»Ich gebe der Sache ihren wahren Namen.«
»So kann ich Ihnen in gar nichts gefällig sein, Georgine?«
Die kleine Frau wandte das Haupt zur Seite und zögerte mit der Antwort. Noch einmal drängte der Doctor: »Sprechen Sie, Georgine! Ich kann Sie nicht in dieser Lage sehen.«
Schnell unterbrach sie ihn: »Doch, eine Bitte habe ich.«
»O reden Sie! Wenn es in meiner Macht steht, so ist die Erfüllung Ihres Wunsches zugesagt.«
»Ich weiß nicht, ob es in Ihrer Macht steht. Heinrich Sechow, alle Welt hält mich für eine leichtsinnige, herzlose Frau, und ich fürchte, daß alle Welt recht hat. Aber es läßt sich nun nicht mehr ändern – ich gebe mich, wie ich bin. Um was ich Sie indes bitten möchte … ja, ich weiß nicht, ob Sie es über sich vermögen …«
»Reden Sie, reden Sie, Georgine!«
»Wollen Sie der leichtsinnigen Georgine wenigstens das verzeihen, was sie an Ihnen gesündigt hat?«
Dieses Mal nahm der Doctor die dargebotene Hand. In seinen Augen schimmerte es feucht, als er leise nickte: »Es ist schon lange verziehen.«
»O Heinrich …«
»Nun will ich gehen, gnädige Frau« – er betonte diese Anrede ziemlich auffallend –, »denn mein Freund erwartet mich. Freilich hätte auch ich noch eine Bitte, aber ich wage es nicht, Sie anzusprechen. Ich fürchte, Sie sind nicht geneigt, sie mir zu erfüllen.«
»Und wenn ich herzlich wünschte, sie zu vernehmen?«
»Georgine, wissen Sie, daß Ihre Schwägerin Klothilde Brewer nicht mehr bei ihrem Bruder ist? Brewer hat selbst die Trennung von ihr gewünscht, und sie weilt jetzt in Wien als Hausdame des Hofraths Finder, der – wie Ihnen bekannt sein muß – ein so intimer Freund des seligen Bürgermeisters Prätorius war.«
»Ich weiß es.«
»Wissen Sie, daß Ihr Gatte, Albrecht Brewer, jetzt ganz allein wohnt? daß er niemand hat, der für ihn sorgt? Sie schweigen. Sie sagten mir, Sie kennten nicht einmal seinen Aufenthalt …«
»Das sagte ich der Wahrheit gemäß.«
»Nun, ich habe erfahren, daß Brewer in die Genfer Firma Talonne Fils eingetreten ist und wiederum einer sichern Zukunft entgegensehen kann …«
»Das ist mir neu und … aber … kurz, es freut mich für Brewer. Es wundert mich, daß Georg mir nichts von seinem Vater berichtet hat. Ich danke Ihnen für die Mittheilung, – sprachen Sie aber nicht von einer Bitte?«
»Sie können sich jetzt selbst sagen, um was ich bitten wollte. Brewer kommt zur Hochzeit Georgs nach Hamburg.«
»Und ich halte mich fern.«
»Sie dürfen nicht, Georgine. Jetzt ist die beste Gelegenheit, der Welt zu beweisen, daß die Jahre des Leichtsinns vergangen sind und daß Georgine Brewer keine herzlose Frau ist.«
»Schonen Sie mich, Heinrich!«
»Sie verstehen meine Bitte. Niemand wird sich vielleicht nächst Ihren Kindern über die Erfüllung so sehr freuen wie Heinrich Sechow. Leben Sie wohl, Georgine!«
»Leben Sie wohl,« hauchte die kleine Frau und fing an, bitterlich zu weinen, als sich die Thüre hinter Sechow geschlossen hatte.