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Zweites Buch.

(Fortsetzung.)


Siebentes Kapitel.
Mathildens Glück

Ungefähr um dieselbe Zeit, als die Activitas der Vangionia sich im Garten des Gasthofes von Neckarsteinach zur praktischen Lösung der Magenfrage versammelt hatte, saßen Theos Eltern mit Mathilde, Dolores und Carlito auf der Veranda der Göhringschen Sommerwohnung zu Flottbek an der Elbe. Man erwartete den Senator Göhring nebst Familie zum Essen. Der Freiherr hatte seinen Wagen an die sogen. »Teufelsbrücke« geschickt, wo die von der Stadt kommenden Passagierdampfer landeten.

»Ich begreife nicht, wo mein Bruder so lange bleibt,« sagte der neugebackene Freiherr, indem er auf die Uhr schaute; »das grüne Dampfschiff kommt um 5 Uhr 10 und jetzt ist es gleich 6.«

»Bis die alle ausgeschifft sind!« meinte die Baronin. »Außerdem können sie nicht sämtlich in der Equipage Platz finden: Dein Bruder, die Senat'rin, Olga und Helene im Wagen, Octavio auf dem Bocke, – da müssen Johannes, Cäsar und Freddy zu Fuß laufen.«

»Sie werden doch nicht mit acht Mann anrücken?«

»Du hast sie ja alle eingeladen! Die Senat'rin nimmt alles buchstäblich, das weißt du doch. Außerdem ›schwärmt‹ sie für die Elbe.«

Mathilde, die mit einer Stickarbeit beschäftigt war, äußerte zu ihrer Mutter: »Ich finde es ganz natürlich, daß Tante eine Einladung, die von dem Bruder ihres Mannes kommt, als ernstgemeint auffaßt …«

»Das versteht sich, Mathilde; aber mit Kind und Kegel! Du sollst sehen, sie kommen alle.«

»Um so besser, Mama.«

»Das sagst du nur, weil du auf Octavio hoffst. Seitdem dein Vetter Landrichter ist, scheinst du ein besonderes Faible für ihn zu haben.«

Die junge Wittwe erröthete und beugte sich tiefer auf ihre Stickerei herab. Mama las einen angefangenen Brief weiter, den sie in der Hand hielt. Der Freiherr studirte die Mittagsausgabe des »Hamburgischen Correspondenten«, während Dolores mit ihrem Jungen ein großes Buch mit Photographien besah, das der Papa jüngst aus Guatemala geschickt hatte. Carlito, jetzt ein fleißiger Sextaner und Klassenkamerad seines Vetters Cäsar Göhring, war ein kräftiger Knabe geworden. Er hatte ernste, sinnige Augen, besaß dabei aber doch einen recht lebhaften, energischen Geist und liebenswürdige, natürliche Umgangsformen. Die meisten Leute fanden ihn hübsch, nur die Großmutter meinte, er sei aus der Art geschlagen und alles andere eher als ein rechter Göhring. Darin lag etwas Wahres, insofern Carlito mehr das Ebenbild seiner Mutter war. So konnte Dolores wohl vor Jahren ausgesehen haben. Jetzt freilich schien die kleine Spanierin bereits verblüht, und mehr als das: ihre ganze Erscheinung verrieth, daß sie beständig litt – körperlich und seelisch.

Als die Baronin die Lectüre ihres Briefes beendigt hatte, erklärte sie: »Ich verstehe meinen Sohn nicht mehr – das ist eine ganz unbegreifliche Sprache.«

»Geht es Theo gut?« erkundigte sich Dolores.

»Ihr Schwager hat sonderbare Ideen, Dolores; ob Ihnen dieselben ebenso sonderbar erscheinen wie mir, ist freilich noch die Frage. Sie fühlen sich auch unter den Menschen fremd, mit denen Sie zusammenleben. Theo geht es ähnlich …«

»Wann habe ich das je gesagt, Mama?«

»Sie sagen uns das nicht vor den Kopf, Dolores, aber Sie lassen es uns merken. Wir wissen sehr gut, daß Sie über Ihre Verbannung in einen so gottlosen Kreis Tag und Nacht seufzen.«

»Aber, theuerste Mama, wann haben Sie denn etwas so Ungeheuerliches an mir bemerkt? Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich Anlaß gäbe, Ihr Mißfallen zu erregen.«

»Sie wissen ganz gut, Dolores, wie ich es meine. Sie haben Ihre feinen Mittel und Wege, an uns Kritik zu üben. Warum haben Sie heute zu Tische wieder dieses dunkle, klösterliche Cachemire angelegt?«

»Gefällt Ihnen das Kleid nicht, Mama? Es ist ein Geschenk von Carlos. Mein Mann hatte es sehr gern.«

»Sie haben Carlos' Geschmack in solchen Dingen bereits sichtlich beeinflußt. Als junger Mann sah er es gern, wenn Frauen gute Toilette machten. Ich hoffe, für unsere Reise nach Baden-Baden consultiren Sie mich – ich meine, bevor Sie sich etwas Neues bei Gerlach oder Röper & Messerschmidt aussuchen. Unser norddeutscher Geschmack, Dolores, ist wirklich nicht der Ihrige – glauben Sie es mir. Außerdem: Sie sind jetzt nicht mehr Frau Carlos Göhring, sondern eine Baronin Göhring, Dolores …«

Carlito, der sich über die offenbar an den Haaren herbeigezogene Kritik der Großmutter ärgerte, fuhr los: »Mamachen sieht sehr nett in dem Kleid aus. Papa hat ganz recht: alles, was Mama aussucht, ist einfach, aber hübsch. Ich …«

»Carlito, was versteht ein Junge wie du von Damengarderobe? Studire deine lateinische Grammatik, damit du begreifst, was der Priester bei der Messe herplappert.«

»Großmama, wenn Papa in Europa wäre, würde er Mama und mich schützen.«

Der Freiherr warf die Zeitung fort und verlangte: »Dolores, der Junge erlaubt sich eine Sprache seinen Großeltern gegenüber, die auf seine Erziehung ein merkwürdiges Licht wirst. Dein Vater, mein Junge, würde dir zweifelsohne bessere Manieren beibringen.«

Gräfin Mathilde versuchte, der unerquicklichen Scene ein Ende zu machen. »Bitte, Mama,« sagte sie, »lies uns doch Theos Brief vor. Ich habe lange nichts von ihm gehört.«

»Hier, nimm ihn selbst, Mathilde. Ich will mich nicht zum zweitenmal ärgern.«

Die Baronin reichte ihrer Tochter den Brief und verschwand dann von der Veranda. Die Zurückgebliebenen hörten zu, als Mathilde begann:

 

»Meine liebe Mama!

Euer Theo steht vor einer wichtigen Entscheidung, die euch wohl ein wenig erstaunen wird. Ich bin mir nämlich darüber klar geworden, daß ich weder für das Studium der Jurisprudenz noch für irgend eine jener gesellschaftlichen Stellungen passe, die dem Juristen offen stehen.«

 

»Was ist das für eine neue Grille von dem Jungen!« rief der Freiherr aus.

»Schon längere Zeit fühle ich in mir den Beruf zum Maler …«

»Ist der Bengel toll geworden? Weiter, Mathilde!«

 

»… und von einem Freunde, dem ich über solche Dinge ein richtiges Urtheil zutraue, ist mir wiederholt gesagt worden, daß ich genügendes Talent besäße. Trotzdem will ich, bevor ich eine definitive Entscheidung treffe, einen bekannten und erfahrenen Fachmann consultiren. Auf die Empfehlung des eben erwähnten Freundes hin gedenke ich nächste Woche von Heidelberg abzufahren und mich in Dresden dem Professor Orlando vorzustellen, welcher daselbst eine größere Privatakademie leitet. Ich zweifle nicht, liebe Mama, daß Du das Lebensglück Deines Sohnes von Herzen wünschest und deshalb mir auch Papas Zustimmung verschaffest …«

 

»Der Junge ist ja in einer Stimmung, als ob Fastnacht wäre! Nie gebe ich meine Einwilligung zu einem solchen romantischen Abenteuer!«

»Höre erst mal zu Ende, Papa!«

 

»… und deshalb mir auch Papas Zustimmung verschaffest. Von Dresden werde ich sofort nach Hamburg fahren, um – wie du es in deinem letzten Briefe wünschest – das Diner in Flottbek mitzumachen. Mündlich läßt sich überdies mein Plan viel besser besprechen. Morgen früh schicke ich einen Brief an die Vangionia, daß ich aus dem Corps austrete …«

 

»Steht das wirklich da?«

»Natürlich, Papa.«

»Der Junge muß den Verstand verloren haben. Er beraubt sich ja der vortheilhaftesten Connexionen für seine Zukunft. Ich habe es immer gesagt: der Junge hat einen entschiedenen Zug nach unten. Aus dem Corps austreten, nachdem ich ihm Wechsel über Wechsel concedirt habe, um ihm ein standesgemäßes Auftreten zu ermöglichen! Wer ihm nur diese plebejischen Ideen beigebracht hat?! Ihm steckt noch immer etwas von dem einfältigen Helgoländer Schifferjungen im Blut …«

»Großpapa,« meinte Carlito, »einfältig war der arme Hans aber doch nicht, und Onkel Theo …«

»Bist du gefragt worden. Junge?«

Dolores machte Carlito ein Zeichen, keine Antwort zu geben. Sie hatte allmählich gelernt, daß schweigen das beste für sie war. Ihr Schwiegervater wollte Theos Brief nun selbst zu Ende lesen, da vernahm man das Knirschen der Wagenräder auf dem Kieswege, der von der Elbchaussee durch den Park bis an das Haus führte. Dolores war froh, daß der Besuch kam. Den Senator besonders hatte sie aufrichtig schätzen lernen, obwohl auch er wenig Sympathien für ihren katholischen Glauben hegte.

Senator Göhring gehörte zu jenen feingebildeten Männern, welche sich die praktische Uebung ruhiger, gewinnender Höflichkeit zur sichern Gewohnheit gemacht haben. Er war nach seiner Wahl zum Senator mehrere Jahre Polizeiherr gewesen, dann aber – hauptsächlich seiner juristischen Kenntnisse und seiner vornehmen Geschäftsroutine wegen – neben dem hanseatischen Gesandten zu Berlin der Vertreter der Freien Stadt im Deutschen Bundesrathe geworden. Im Privatleben ein gediegener Charakter, in der Gesellschaft ein gewandter, wohlunterrichteter Meister jeder Situation, im öffentlichen Leben ein Mann von überzeugendem, sittlichem Ernst, verstand der Senator besonders die große Kunst, Untergebene freundlich zu behandeln, ohne dabei gnädigherablassend zu erscheinen, und mit Personen gleichen oder höhern Rangs in den feinsten, sich stets gleich bleibenden Umgangsformen zu verkehren. Seine Gattin, eine ausgezeichnete Mutter ihrer Kinder, besaß durchaus die moralischen Eigenschaften ihres Mannes, war ihm aber geistig nicht gerade ebenbürtig. Dennoch bewahrte eben ihre vorzügliche Herzensbildung sie vor einer gewissen Engherzigkeit des Urtheils. In allen wichtigen Fragen wußte sie sich eins mit ihrem Gemahl, besonders in der Uebung unaffectirter Kirchlichkeit und liebender Sorge für ihre Kinder. Der älteste Sohn, Octavio, war Doctor der Rechte und vor kurzer Zeit Landrichter geworden; Johannes war Student der Medicin und eben in Hamburg zu Besuch. Cäsar besuchte die Sexta des Johanneums, Freddy zählte erst sieben Jahre. Von den beiden Töchtern war Olga die Braut eines entfernten Verwandten, des jungen Dr. med. Georg Brewer, und Helene hatte letzten Winter gerade ihre erste Saison mitgemacht.

In jungen Jahren verstanden sich der Senator und sein Bruder Nikolaus sehr gut; aber durch die Frau des Bankdirectors ward das innige Verhältniß immer mehr gelöst. Die Directorin gewann ihren Mann allmählich für ihre hochstrebenden Pläne, für die der Schwager und die Senatorin äußerst wenig Verständniß hatten.

Die ganze Familie war also wirklich angerückt! Natürlich fiel der erste Blick der Baronin auf die anspruchslose Toilette ihrer Schwägerin. Dasselbe Kleid hatte sie schon letzten Sommer getragen, nur der Besatz der Taille schien ein wenig verändert. Einfach unglaublich! Die Baronin erinnerte sich ganz gut, wie ihr vor Jahren, kurz nach der Heirat des Senators, auf einem Diner bei Bürgermeister Prätorius Madame Julie Amring zugeflüstert hatte: »Sehen Sie mal, wie eigenthümlich die Tournure der Senat'rin sitzt – sie muß ein Stuhlpolster untergebunden haben.«

Sofort nach der Begrüßung, welche durch die Anwesenheit der Jugend äußerst lebhaft wurde, begann die gute Senatorin zu schwärmen: »Nein, Mathilde, wie köstlich es hier draußen bei euch ist! Die Elbe mit all den Schiffen! Ich würde den halben Tag auf dieser Veranda zubringen.«

Die Baronin zuckte mit den Achseln: »Das ist Geschmackssache. Mich macht diese ewig glänzende Wasserfläche nervös. Deshalb bin ich froh, daß Nikolaus Bernsloh gekauft hat.«

Die Erwähnung von Bernsloh machte Olga Göhring traurig, denn das herrliche Gut hatte ja der ruinirten Familie ihres Bräutigams Georg Brewer gehört.

Mit dem Tacte gefühlloser Herzen fuhr richtig die Baronin fort: »O Olga, dabei fällt mir ein, wie geht es denn Georg, deinem Verlobten?«

»Danke, Tante, er ist Assistenzarzt bei Professor Zweischneider in Berlin geworden.«

»Das freut mich aber recht, Olly; dann kann er wohl auf eine sichere Existenz lossteuern.«

»Georg ist begabt, fleißig und solide,« sagte der Senator ruhig, »daher braucht man für seine Zukunft nichts zu fürchten.«

»Der Präsident, sein Vater, war auch ein unermüdlicher Arbeiter, dennoch konnte er die Katastrophe nicht aufhalten. Hoffentlich hat der liebe Georg mehr Erfolg.«

»Ich habe ihn neulich in Berlin besucht, liebe Schwägerin – als ich zur letzten Bundesrathssitzung war. Zweischneider hält große Stücke auf Georg.«

»Das freut mich aufrichtig. – Sie nehmen Ihre Gattin nie mit nach Berlin, ich begreife das nicht,« sagte die Baronin, die schnell von einem Thema zum andern überzuspringen gewohnt war.

»Was soll ich zwischen all den Excellenzen und Ministern und Geheimräthen,« erklärte die Senatorin statt ihres Mannes; »ich bleibe lieber in meinem gemächlichen Heim auf dem Glockengießerwall, unter meinen Kindern.«

»Ich hoffe,« erwiderte die Baronin lebhaft, »daß wir nächsten Winter in Berlin zu Hofe gehen. Ich sehne mich aus den kleinen Hamburger Verhältnissen heraus.«

»Das ist mir überraschend,« meinte der Senator, »daß unsere kosmopolitischen Verhältnisse Sie nicht befriedigen. Mir schien Berlin manchmal recht einseitig, durchaus nicht so anregend, wie man es von einer Millionenstadt erwarten sollte.«

»Vielleicht ist das von vielen Kreisen zutreffend. Ich spreche indessen von der Hofgesellschaft, lieber Schwager.«

Mit feinem Lächeln replicirte der Senator: »Auch ich kann nur von jenen Kreisen urtheilen, die einem Mitgliede des Bundesraths zugänglich sind.«

Dieses Mal hatte die Baronin in dem Geplänkel verloren.

Als der Diener erschien und meldete: »Frau Baronin, die Suppe ist servirt!« platzte der Sextaner Cäsar heraus und flüsterte seiner Schwester Helene zu: »Du, Hely, wie das mall klingt, wenn sie Tante Mathilde ›Frau Baronin‹ nennen!«

Helene gab ihrem Bruder einen pädagogischen Knuff: »Wo hast du wieder den neuen Ausdruck her?«

»Welchen? Mall? O das sagen die Jungens in der Schule.«

»Eure Schulausdrücke sind dumm.«

»Nee, Hely, griesig sind sie.«

»Nimm dich vor Tante Mathilde in acht, Cäsar!«

Aber Cäsar war schon fort, um einen Platz neben Carlito zu erobern. Früher hatte bei Familiendiners immer ein Bedienter genügt – in ganz frühem Jahren sogar ein Stubenmädchen –, aber heute servirten zwei dienstbare Geister. Karl, der alte Diener, steckte auch nicht mehr in der Livree, sondern im schwarzen Frack, als »Butler«, was entschieden freiherrlicher aussah. Der andere war ein fünfzehnjähriger Groom, ein hübsches Kerlchen mit sorgfältig frisirtem Scheitel und einem Milchgesicht, als ob er des Nachts in Watte gepackt würde, derselbe, der auf dem Bocke saß, wenn die Baronin ausfuhr. Karl mußte – was eine zweite Neuerung war – beim Einschenken der Weine immer dem Gaste die Marke zuflüstern. Seine breite holsteinische Zunge hatte sich auf ihre alten Tage noch mit den Mysterien der französischen Sprache abzufinden: »Herr Sinoter befehlen: ein Glas Rederer Gart Blanksch?« – »Frau Sinotrin: ein Glas Malacka oder Schirri?« – »74ger Schattuh Laroß, Herr Doctor?« u. s. w.

Nur bei dem kleinen Freddy wurde das brave Factotum gemüthlich: »Na, Freddy, wie geht es dich? Rothen oder weißen?«

»Beiden!«

»Nee, Jung', dat geit ja nich; ich gebe dich weißen, und nachher 'n Glas von den annern.«

»Karl, bring mir noch 'n Glas Schampanser!«

»Nu sieh mal einer an! Wart, bis ich wieder 'rumkomme!«

Das Gespräch während der Suppe drehte sich um das bevorstehende große Diner in vierzehn Tagen, zu dem auch Theo eintreffen sollte. Die Baronin zählte ihre ganze Liste auf, um »Senators« zu imponiren. Auch der Generalleutenant von Suché, dessen Schwester eine Prinzessin von Lachsenburg-Hechtingen war, mußte mehrere Male paradiren. Aber der Senator erwiderte kühl: »Der Name ist mir bekannt, liebe Schwägerin. Neulich spielte ich bei Caprivi mit dem Erbprinzen Lachsenburg in einer Partie Whist. Es ist ein sehr einfacher, feingebildeter Mann. Er erzählte viel von London, und sehr interessant. Sie wissen, er ist bei der deutschen Botschaft.«

Das wußte die Baronin freilich noch nicht, wohl aber, daß sie zum zweitenmal verloren hatte. So ein Senator im Bundesrath kannte doch allerhand Leute! Aber was war das? Freddy biß in das feine Champagnerglas, und es gab einen Knax, darauf, als man sah, daß der Junge nicht verletzt war, ein allgemeines Gelächter.

»Er ist den zarten Krystall nicht gewohnt,« entschied die Baronin, wozu die Senatorin bemerkte: »Den Champagner auch nicht. Unsere kriegen nie welchen, solange sie klein sind.«

»Doch, Mama,« rief Cäsar, »bei Ollys Verlobung!«

»Das war eine Ausnahme.«

Carlito hatte große Freude an Freddy und meinte zu Cäsar: »Er kommt wohl auch bald aufs Gymnasium?«

»Och,« versetzte Cäsar mit knabenhafter Geringschätzung, »in einigen Jahren, wenn wir mindestens Quartaner sind. Wie soll der Butt schon Latein lernen? Er ist griesig dumm.«

»Das glaub' ich nicht, Cäsar.«

»Bah, bannig kindisch. Du, Tante Dolores, schieb mir mal die Rosinen und Mandeln herüber, ja?«

Die Spanierin lächelte freundlich: »Die sind für das Dessert bestimmt. Gedulde dich noch ein wenig, Cäsar!«

»Das Beste kommt immer zuletzt, wenn man schon ganz satt ist. Du, Carlito, was hat Tante Stormarn da für einen Zettel unter ihrem Teller?«

Der Pfiffikus hatte bemerkt, wie der Landrichter ein Stückchen Papier unter den kleinen Teller seiner Nachbarin beförderte. Octavio machte seinem Bruder ein drohendes Gesicht, und Cäsar flüsterte Carlito ins Ohr: »Octavio ist in Tante verliebt. Ich weiß es von Olly. Er will sie heiraten.«

»Was du nicht alles weißt!«

»Olly weiß es, nicht ich. Aber wie kann man jemand heiraten, die schon Tante ist!« Diese thörichten Sextaner!

»Tante Stormarn ist jünger als dein Bruder.«

»Ist mir bumm egal, sie ist Tante! Carlito, wieviel Gänge gibt es noch?«

»Ich weiß nicht.«

»Sag doch deiner Mama, daß sie die Rosinen 'rüberschiebt.«

Es half nichts. Der Sextaner erreichte sogar dann seinen Zweck nicht, als er sich mit dem Groom anfreundete.

Etwas über eine Stunde dauerte die Familientafel. Den Kaffee nahm man auf der Veranda ein. Dann wollten die Herren eine Partie machen, aber Octavio war nicht zu finden. Er war vermuthlich bei den Knaben im Park. Ganz zufälligerweise gingen die Gräfin Stormarn und Olga ebenfalls hinaus, und ebenso zufällig begegneten sich die Gräfin und Octavio hinter dem großen Gewächshause.

Während auf der Veranda die Baronin vor der Senatorin ihre Pläne mit Mathilde auskramte und den Generalleutnant von Suché wiederholt aufs Tapet brachte, endete ein längeres Gespräch hinter dem Gewächshause folgendermaßen: »Du hast also alles verziehen, Octavio?«

»Ich habe nie gezürnt, mein Leben. Nur bedauert habe ich dich und mit dir gelitten. Ich sah ja, wie du zu leiden hattest von ihm, der … der, o die Erinnerung noch macht mich rasend!«

»Laß ihn ruhen, Octavio, und nenne ihn nicht mehr. Ich will ihn jetzt nicht mehr angegriffen sehen, denn er war mein Gatte. Aber du weißt, daß ich ihn nie geliebt habe …«

»Ja, ja, ich weiß es, Mathilde. Aber sag es noch einmal, warum liebtest du ihn nicht? Laß mich's noch einmal hören!« – Eine Pause. – »Warum nicht, Matty?«

»Weil mein Herz schon vergeben war.«

»Mathilde! Immer hab' ich es geglaubt.«

»Nun laß uns gehen, Octavio! Mit Mama wirst du einen schweren Stand bekommen. Aber als Wittwe, Gott sei Dank, habe ich selbst eine viel freiere Entscheidung.«

»Wollen wir zusammen hinaufgehen?«

»Warum nicht, Octavio? Gib mir deinen Arm und führe mich unbefangen zur Veranda zurück. Nach so vielen Jahren brauchen wir nicht lange zu zögern. Laß uns zu den Eltern gehen und erklären, wie es steht.«

»O Mathilde! du machst mich zum Glücklichsten aller Sterblichen.«

»Und bin ich nicht selbst glücklich, du Lieber?« – – –

Sie gingen, und die Baronin hatte zum drittenmal verloren, diesmal nicht in einem Scharmützel, sondern in einem plötzlichen Ueberfall. Am selben Abend kriegten »der Senatorin Ihre« noch einmal Champagner, und an Theo ging ein Telegramm ab:

 

Mathilde Braut von Octavio. Komme sofort nach Flottbek. Nicht über Dresden.

Papa.



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